Da mein Leistungskurs Deutsch nachfragte, ob ich ein Beispiel einer literarischen Erörterung verfassen könnte, komme ich dieser Bitte nach. Die folgende literarische Erörterung ist eine exemplarische Begegnung mit dem Text “Corpus Delicti”. Um sie einordnen zu können, sollten zuvor die Anmerkungen gelesen werden. 

Anmerkungen

Diese literarische Erörterung hat exemplarischen Charakter. Sie ist weder als eine Vorlage zu nutzen, die man auswendig lernen könnte, noch erhebt sie den Anspruch auf Vollständigkeit. Dies ist vor allem deshalb so, weil sie sich auf einen (sehr kurzen) Außentext bezieht, der den Fokus sehr verengt. Für die literarische Erörterung, die sich auf ein einzelnes Werk bezieht, ist mit einem längeren Außentext zu rechnen. Die Prozentzahl hinter den Aufgaben, die auch in der Form im Abitur vorkommen wird, gibt einen Hinweis darauf, worauf der Schwerpunkt gelegt wird. Beim vorliegenden Außentext geht um die Aktualität des Romans, die sich sicherlich in Zeiten von Corona nochmals gewandelt hat.

Man kann normalerweise davon ausgehen, dass Außentexte sich auf mehr beziehen als auf Einzelpassagen. Das bedeutet, dass man – nachdem die wichtigsten Aspekte und Thesen eines Textes herausgearbeitet worden sind – den Gesamttext einer Betrachtung unterzieht. Die Konsequenz ist, dass man den Inhalt der Lektüre sehr genau kennen muss. Am besten durch eine eigene Bearbeitung (also eine, die von einschlägigen Lektürehilfen unabhängig ist) UND Lerngruppen, die es ermöglichen, auf eigene Verständnisprobleme hinzuweisen.

Der hier genutzte Außentext entstammt einer Sammlung von Außentexten, die auf dieser Seite zu finden sind. Um keine merkwürdige Selbstzitation vorzunehmen (da der Ausgangstext von mir selbst geschrieben worden ist), werde ich mich als Mitautor des Außentextes ausklammern und stattdessen jene Autorin als Urheberin angeben, die den Außentext bearbeitet und mir in dieser Form zugeschickt hat oder nur von “Autoren” sprechen.

Ich argumentiere also im folgenden gegen mich selbst. Und noch eine letzte Sache. Während des Schreibens und nach dem Schreiben ist mir aufgefallen, dass meine Haltung gegenüber dem Außentext sehr deutlich ablehnend ist. Das muss natürlich nicht so sein. Es ist möglich, den Thesen zu widersprechen, sie zu bestätigen oder auch einen Mittelweg zu nehmen. Und zuletzt: Die momentane Version ist noch relativ kurz und beinhaltet keine Seitenangaben. Beides bitte ich zu beachten. Wenn ich nochmals ein Zeitfenster habe, wird dies noch nachgearbeitet. Ich hoffe dennoch, dass die Ausführungen helfen.

Außentext: Aktualität des Romans

Der Roman ist nicht aktuell, er ist zunehmende Realität. Der einzige Unterschied zwischen unserer hochmodernen Gesellschaft und der Hygienediktatur des Romans ist, dass wir uns die Fesseln selbst anlegen. Wir durchleuchten unser Leben jetzt schon, indem wir jede Kleinigkeit und jeden Event zelebrieren und anderen präsentieren, auf Social-Media teilen, per Facebook oder Instagram unsere Erlebnisse, unsere Mahlzeiten wie auch deren Zubereitung und auch unsere intimsten Schicksalsschläge preisgeben und darauf hoffen, dass wir im Kollektiv aufgenommen werden. Je mehr zustimmende „Klicks“ wir erhalten, desto glücklicher werden wir als Individuum und fühlen uns als integriertes und anerkanntes Mitglied unserer Gesellschaft. Wir messen mit Fitness-Uhren unsere Gesundheitswerte, die schon bald den Krankenkassen zugeschickt werden oder müssen bei diesen bereits angeben, ob wir Nikotin- und/oder Alkoholkonsumenten sind oder in welchem Maße wir diese Genussmittel konsumieren. Wir haben Cheat-Days, in denen wir es uns ausnahmsweise gestatten zu essen, als würden wir dafür kontrolliert wie Mia Holl in dem Roman „Corpus Delicti“ – Ein Prozess“. Die Inhalte des Romans sind keine Vorausgriffe, sondern an vielen Stellen Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Wenn wir den Roman von Juli Zeh lesen und beschreiben, dann sehen wir hinter die Fassaden unserer Gesellschaft und wagen einen Blick in die Kristallkugel der Zukunft!

(BOB BLUME/mod. K.Bruhn)

Arbeiten Sie die Argumentation des Textes heraus. (20%)

Setzen Sie sich mit der Position des Autors auseinander. (80%)

Literarische Erörterung zu Corpus Delicti

Von Bob Blume

  • Einleitung / kreative Hinführung

In Zeiten einer weltweiten Pandemie und deren wissenschaftlicher Bakämpfung und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikte verbietet es sich im Grunde genommen einem Roman eine unterkomplexe Aktualität zuzuschreiben, wenn man Fehlinterpretationen nicht Tür und Tor öffnen will. Keine Frage, die Thematik von “Corpus Delicti”, jener 2009 von Juli Zeh entworfenen Dystopie, in deren Mittelpunkt eine Hygienedikdatur jede Privatheit einschränkt, schreit förmlich nach einem solchen Bezug. Aber gerade dort, wo sich die fiktionale Darstellung scheinbar sanft und einfach an eine bestehende Realität anschmiegt, sollte man vorsichtig mit zu einfachen Bezügen sein.

  • Basissatz

Insofern ist muss man im Grunde genommen festhalten: Juli Zehs “Corpus Delicti” ist weder Zukunftsvision noch fiktionale Prophezeiung, sondern eine geradezu groteske Überspitzung eines anti-aufklärerischen Gedankens, der das Individuum gegenüber dem Staat als Märtyrer für eine scheinbar unfehlbare Menschlichkeit präsentiert. Die im Außentext angedeutete Aktualität ist insofern eine oberflächliche, scheinbar offensichtliche, die sich bei näherem Hinsehen als wenig zu belegende Fehldeutung offenbart.

  • Einordnung/ Analyse des Außentexts

Im vorliegenden Außentext machen die Autor:Innen sehr schnell deutlich, welche These sie vertreten: “Der Roman ist nicht aktuell, er ist zunehmende Realität” (Z.1), heißt es da lapidar. Angelehnt an diese Behauptung, die den Roman im Grunde genommen zu einer, wie es auch später heißt, “Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft” (Z.17) macht, ist es auch nicht erstaunlich, dass die Autoren zu einem geradezu prophetischen Fazit kommen:”Wenn wir den Roman von Juli Zeh lesen und beschreiben, dann sehen wir hinter die Fassaden unserer Gesellschaft und wagen einen Blick in die Kristallkugel der Zukunft!” (Z.17ff.). Zwischen diesen starken Behauptungen findet sich zwar eine Relativierung – so sei “der einzige Unterschied zwischen unserer hochmodernen Gesellschaft und der Hygienediktatur des Romans” (Z.2f.) die Autonomie der Bürger – im Grunde zielen die angeführten Beispiele jedoch auf eine Gleichsetzung, die geradezu gefährlich ist. Diese Gleichsetzung wir an der Durchleuchtung der Persönlichkeit festgemacht (vgl. Z.4), daran, dass die eigenen Handlungen von anderen goutiert werden (vgl. Z.8) und uns so integrieren (vgl. ebd.) und daran, dass wir bestimmte Werte jetzt schon mit technischen Mitteln messen können. Der Twist dieser Beispiele liegt dann in einer unbestätigten Annahme: “(…) als würden wir dafür kontrolliert wie Mia Holl in dem Roman (…)”, heißt es da. Der Einzelne beraubt sich also seiner eigenen Freiheit, indem er sich sozial zelebrieren lässt und sich selbst kontrolliert. Und dies sei in dem Roman vorgezeichnet. Das sind starke Thesen – und unzulässige.

  • Funktionale Inhaltsangabe zur Orientierung

Die Geschichte von Mia Holl, der rational denkenden Biologin, die sich durch den Tod ihres Bruders Moritz Holl in eine Widerstandskämpferin gegen das totalitäre System der Methode entwickelt, ist in eine Realität eingebettet, die einen Gegenwartsbezug an zahlreichen Stellen zulässt. Die Bekämpfung der Leukämie-Erkrankung von Moritz Holl, die biologischen Untersuchungen Mias und anderer Menschen, die sich anti-methodistischer Umtriebe strafbar gemacht haben, ja sogar die Örtlichkeiten – von Mias Wohnung bis hin zum Gericht – bilden einen Resonanzboden für den heutigen Leser. Anders als in der heutigen Demokratie ist aber die Verhaftung von Moritz  wegen Vergewaltigung und Mord in eben jenes totalitäre System eingerahmt, das sich selbst als unfehlbar darstellt.  Durch den Beweis, dass die DNA-Methode im Falle von Moritz Holl nicht funktionierte, wird die bis dahin als „unfehlbar“ geltenden METHODE  in Frage gestellt. Mia geht in die Öffentlichkeit und wird wegen Suizidgefahr verhaftet. Man foltert sie. Sie reißt sich den Gesundheitschip aus dem Arm. Im Prozess wird ihr unterstellt, die RAK (Recht auf Krankheit) angeführt zu haben. Sie wird zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt. Als das Urteil vollzogen werden soll, wird sie zur „Umerziehung“ begnadigt.

  • Bezug zu den Thesen und Erörterung

Da die Hauptthese des vorliegenden Außentextes so weitreichend fehlgeleitet ist, verbietet es sich eigentlich, auf die Richtigkeit von Teilaussagen einzugehen. Dennoch erscheint zumindest ein Nachvollzug der Beispiele angemessen, um aus diesen die viel wichtigere Diskrepanz zwischen Roman und Realität abzuleiten.

Die Romanwelt ist in der Tat an der unsrigen angelegt: Der Umweltschutz hat einen hohen Stellenwert, Energiegewinnung findet ausschließlich über Wind- und Sonnenkraft statt. Schon die ersten Seiten verdeutlichen, dass man der Schwerindustrie abgeschworen hat. Es gibt keine Autobahnen mehr, nur noch Magnetbahnen. Neben der Industrie ist auch die Religion nicht mehr relevant. Mehr noch: Sie wird im späteren Verlauf von Moritz Holl als Feier der Natur aufgegriffen und damit der lupenreinen Wissenschaft entgegengestellt. In diese Welt, in der auch allgemeiner Wohlstand und Gleichheit für alle herrscht, ist kein Platz für Individuelles. Zahlreiche Hinweise entlarven die Rationalität, von der sich die METHODE ableitet, als sterile Kontrollinstanz: Der Einzelne darf seinen eigenen Körper nicht schädigen, nicht rauchen oder gar ohne Fahrradhelm Fahrrad fahren. Der Punkt ist, dass es sich um minutiöse Verbote handelt, für die es Paragraphen gibt, die eine unbeschränkte staatliche Kontrolle zeigen: Man muss sogar Schlaf- und Ernährungsberichte einreichen, Sport ist staatlich vorgeschrieben, der Aufenthalt außerhalb von desinfizierten Bereichen ist verboten.
Während wir also in einer zunächst distanzierten Beschreibung unsere eigene Gesellschaft zu erkennen vermögen, müssen wir doch schon in der Bezugnahme auf die Unterschiede erkennen, dass sich ein Vergleich verbietet.

Es mag sein, dass der Körperkult, wie er auf Social-Media-Plattformen betrieben wird, das Maß einer Eigenkontrolle annimmt, die ungesund ist. Keine Frage: Aber zwischen dem eigens auferlegten Handeln, das sich an Schönheitsidealen orientiert, und staatlicher Kontrolle, die jemanden wegen Rauchens vor Gericht zehrt, bestehen Welten. Der Unterschied zeigt sich letztlich sogar durch die Romanhandlung selbst, die außerhalb der fiktiven Romanwelt gar nicht funktionieren würde.

Mia Holl, die zuweilen depressive Rationalistin, wird ja erst durch das massive Unrecht an ihrem Bruder zu der Widerstandskämpferin, die sie gar nicht sein will. Der Kampf, den sie mit den verschiedenen Protagonisten kämpft, ist der zwischen Gefühl und Verstand: Das Gefühl wird verkörpert durch ein eben nicht wissenschaftlich begründbares Verlangen eines Moritz Holl, für den alles, was nicht den hygienischen Vorschriften entspricht, ein Akt der Liebe ist. Es wird verkörpert durch die imaginäre Gestalt der idealen Geliebten, die wie der Transfer des Gewissens von Moritz Holl in Mias Nacken sitzt und wie das Freudsche “Es” danach strebt, Mia aus der Anpassung einer Gesellschaft zu holen, an der alles künstlich ist. “Im Übrigen bin ich, anders als Sie [Kramer], in der bequemen Lage, das Rationalisieren aufgegeben zu haben. Ich kann jetzt mit dem Herzen denken”, so Mia zu ihrem Widersacher.

An den anderen Figuren erkennen wir also auch ihre Transformation: Sie fährt nicht aus der Haut oder resigniert wie ihre Richterin Sophie, die daran verzweifelt – verzweifeln muss – dass ein System, an das sie geglaubt hat, im entscheidenden Moment versagt. Sie hat keine Möglichkeit mehr, sich opportun zu geben wie Heinrich Kramer, für den das Systemversagen nichts anderes ist als ein Kleckser auf einem ansonsten immer noch funktionsfähigem Staat. Sie, die Grenzgängerin, die Hexe, zieht ihre Handlungsmotivation aus der Liebe zu ihrem Bruder, dessen Suizid zu einem Akt der Selbstbefreiung stilisiert wird. Nur innerhalb eines solchen Zwangsapparats ist ein Widerstand, der sich in der Art radikalisiert, überhaupt legitimierbar.

Vor diesem Hintergrund davon zu sprechen, dass “der einzige Unterschied” zwischen Roman und Hygienediktatur die Autonomie der Handelnden ist, ist das gleiche, als wolle man sagen, dass Feuer und Wasser dasselbe seien. Nur Wasser sei eben nass.

Wer die beiden Welten des Romans und der Realität so gleichsetzt, der verklärt unsere Welt zu einer Hygienediktatur. In der Romanwelt ist für Moritz Holl der Tod die einzige Möglichkeit, handlungsfähig zu bleiben: “Ja, ich kann mich umbringen. Nur wenn ich mich auch für den Tod entscheiden kann, besitzt die Entscheidung zugunsten des Lebens einen Wert!” Das kann man als heldenhaft sehen. Oder als Aussage eines verblendeten Esoterikers. Zumindest dann, wenn man, wie die Autoren des Außentextes davon ausgeht, hier würden wir “die Kristallkugel der Zukunft” sehen.

  • Abschluss und Fazit 

Nein, selbst wenn wir versuchen, die Beispiele der Autoren nachzuvollziehen, müssen wir schlussfolgern, dass es nicht funktioniert. Nicht etwa, weil die angebrachten Beispiele, in denen der Außentext gegenwärtige Entwicklungen in den Blick nimmt, nicht kritikwürdig wären. Das sind sie allemal. Und in der Tat muss sich ein jeder fragen, wie viel Anpassung an ein System wünschenswert ist, das sich auf soziale Kontrolle begründet. Aber aus einer selbst gewählten sozialen Kontrolle, wie sie über die sozialen Netzwerke ausgeübt wird, kann man – auch wenn das schwierig sein kann – entfliehen. Und zwar einfach, wenn man die Geräte ausmacht.

Innerhalb der Romanwelt kann niemand aus der Kontrolle entfliehen. Es gibt nur den Tod, das Einfrieren oder die Konformität. Das ist schrecklich und es verbietet sich, hier von der “Realität” zu sprechen. Im Grunde wurde hier eine Chance verpasst. Jene nämlich, gerade in den Unterschieden zwischen Romanwelt und Realität die Deutungsräume auszuloten, die in der Tat ein besseres Verständnis für unsere, selbstverständlich nicht perfekte Welt bieten würden. Denn dabei hilft uns “Corpus Delicti”: So sehr der Roman uns versucht zu zeigen, dass auch gute Ideen wie die wissenschaftliche Rationalität in ein unmenschliches System übertragen werden können, so sehr weist es eigentlich auf die Humanität unserer Demokratie hin. Hier können wir nämlich, anders als oft behauptet, gegen Maßnahmen sein, diese ablehnen und uns auf unsere eigenen Wissenschaftler berufen. Der Roman ist aktuell, aber Realität ist er nicht. Wer das behauptet, lebt entweder in seiner eigenen Welt oder hat den Roman nicht genau genug gelesen.

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