Im Leistungskurs Deutsch bereiten sich die Schüler*innen anhand ihrer eigenen Schwerpunktthemen auf das Abitur vor. An dieser Stelle kann man eine literarische Erörterung der Schülerin Celina B. lesen, bei der ich mich herzlich für die Bereitstellung bedanke. 

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Der Verlorene – Literarische Erörterung

Unsichtbar. Nicht geliebt. Nur ein Ersatz. So möchte sich keiner fühlen. Man möchte für seiner selbst willen geliebt werden und nicht der Lückenfüller in einem von Traurigkeit und Schuld gebrochenen Herzen sein. Leider gibt es Menschen, die sich genauso fühlen und denen dies gerade von den eigenen Eltern angetan wird.

So sieht jedenfalls B. Grashoff die Rolle des Ich-Erzählers im Roman „Der Verlorene“ von Hans – Ulrich Treichel, aus dem Jahre 1998, in dem es um die Suche nach Arnold, dem älteren Bruder des Identitäs- und namenlosen Ich – Erzählers, in mitten einer konfliktreichen, traumatisierten Familie mit Kommunikationsproblem geht. Der Ich – Erzähler sei nur Platzhalter für die unbegriffene Schuld der Eltern. Er würde also an die Stelle von Schuld gesetzt. Damit sich die Eltern nicht mit ihrer Schuld auseinandersetzen müssen, würden sie sich mit anderen Dingen beschäftigen und versuchen sie zu verdrängen, indem sie z.B. nach dem verlorengegangenen Arnold suchen. Dabei würde sich jedoch die bedrückende emotionale Last, also die Schuld, der Eltern auf den Zweitgeborenen übertragen, während gleichzeitig eine emotionale Distanz zu diesem geschaffen wird. Der Zweitgeborene wäre sich dabei im Klaren, dass er nur der Platzhalter ist.

Ob zu sagen, ob die Behauptungen Grashoffs wirklich stimmen, muss man im vornerein erstmal klar machen, ob die Schuld der Eltern wirklich unbegriffen ist oder nicht. „Unbegriffen“ bedeutet dabei, dass die Eltern sich ihrer Schuld zwar bewusst sind, sie aber verdrängen und nicht verarbeiten. Dies lässt sich an mehreren Stellen im Roman feststellen.                                                                                                                                    Zum einen als die Mutter dem Ich-Erzähler von den Geschehnissen bei der Flucht erzählt, wo sie Arnold „voreilig“ (vgl. S.16, Z.16) weggeben hat. Dieses „voreilig“ der Mutter impliziert schon die Schuld, da Arnold ja aufgrund von falschen Schlüssen, nämlich dass er und die Mutter sterben würden, weggeben wurde. Arnold könnte also immer noch bei ihnen sein, wenn die Mutter ihn nicht weggeben hätte, aufgrund von falschen Vermutungen, denn die Russen hatten nie vor die Familie zu töten. Stattdessen haben sie die Mutter vergewaltigt, so jedenfalls  von der Mutter angedeutet, in dem sie immer wieder von dem „Schrecklichen“ (vgl. S.16, Z.3) redet, dass „dann doch passiert“ (vgl. S.16, Z.4) sei. Die Schuld des Vaters beziehe sich hierbei darauf, dass er seine Frau nicht beschützen und nur hilflos zusehen konnte:   „Was es war, sagte die Mutter nicht, sie sagte nur immer wieder, daß ihr auch der Vater nicht habe helfen können und daß ihr niemand habe helfen können.“ (vgl. S.16, Z.8 – 13).                                                                                                                                 Mit dieser Schuld wollen sie beide jedoch nicht auseinandersetzen. Stattdessen stürzen sie sich in Aktivitäten, die sie von den schlimmen Geschehnissen und der Schuld ablenken sollen. Die Mutter flüchtet sich ins Putzen und der Vater stürzt sich in Arbeit: „Je mehr sich die Mutter im Haus zu schaffen machte, umso weniger konnten die Scham und die Schuld sich ihrer bemächtigen.“ (vgl. S.32, Z.10ff.) Kurz darauf beginnen die Beiden jedoch mit der Suche nach dem verlorengegangen Arnold, die nur als Ersatzhandlung dient, um sich nicht mit den eigenen Gefühlen auseinander setzen zu müssen. Dies zeigt sich vor allem an der letzten Szene des Romans, bei der die Mutter und Ich-Erzähler Arnold endlich finden, doch anstatt in das Geschäft zu Arnold zu gehen, fährt die Mutter davon. Dies tut sie, da sie sonst keine Ersatzhandlung mehr hätte und sich dem entsprechend nun mit der Schuld auseinandersetzen müsste und dies will sie natürlich nicht.                                                                       Würde man den Verlorenen in Grashoffs These als den verlorenen Bruder Arnold definieren, so wäre die Suche nach ihm definitiv der Platzhalter für die unbegriffene Schuld, erkennt man in dem Verlorenen jedoch den Ich-Erzähler sieht die Sache schon ein wenig anders aus.                                                                                                                                                      Dieser wird im Gegensatz zu seinem Bruder kaum von den Eltern beachtet, bekommt von ihnen aber ihre bedrückende emotionale Last, also die Schuld, übertragen: „Vom Tag meiner Geburt an herrschte ein Gefühl von Schuld und Scham in der Familie, ohne daß ich wußte, warum. Ich wußte nur, daß ich bei allem, was ich tat eine gewisse Schuld und eine gewisse Scham verspürte.“ (vgl. S.17, Z. 13 – 17) Von Kindesbeinen an fühlt der Ich-Erzähler dementsprechend Schuld und Scham, die ihren Ursprung jedoch nicht in ihm selbst haben, sondern von der von Schuld und Scham verseuchten Atmosphäre im Elternhaus kommen, die durch die gezwungene Abwesenheit eben dieser Emotionen entsteht. Diese erzwungene Abwesenheit zeigt sich zum Beispiel in der Szene, in der die Mutter zusammen mit dem Zweitgeborenen Fernsieht und im Fernseher eine Kussszene zu sehen ist. Sowohl die Mutter als auch der Ich-Erzähler werden von Scham erfasst, die auch dann bestehen bleibt, wenn die Szene im Fernseher vorbei ist: „Schon bei harmlosesten Kußszene wartete ich auf den Fortgang des Films und die Erlösung von der bedrängenden Szene. Doch oftmals stellte sich die Erlösung nicht ein, und die Beschämung hielt auch dann noch an, wenn es keinerlei intime Szenen mehr auf dem Fernsehschirm zu sehen gab.“ (vgl.S.31, Z.8 – 14) Weder die Mutter noch der Ich – Erzähler möchten ihre Gefühle und vor allem deren Ursache näher thematisieren. Stattdessen versuchen sie krampfhaft es zu ignorieren und warten darauf, dass die Gefühle von allein weg gehen. Aber gerade durch dieses krampfhafte Verschweigen werden die Emotionen deutlicher hervorgehoben.                                              Beim Vater zeigt sich dies beim Schweinekopf essen. In dieser Szene wird in aller Deutlichkeit die Schlachtung eines Schweins mit dem anschließenden Festessen beschrieben. Es wird dabei auch beschrieben, was aus den einzelnen Schweineteilen später gemacht wird: „Der Schweinekopf erwies sich als ein wahres Füllhorn, das die unterschiedlichsten Speisen freigab: Schweinebacke und Schweinezunge, Schweineohren und Schweineschnauze, Schweinekopfbrühe und Schweinekopfpaste.“ (vgl. S.41, Z.13 ff.). Die Abtrennung und Verarbeitung der einzelnen Sinnesorgane des Schweines durch den Vater symbolisieren hierbei den Umgang des Vaters mit dem Trauma. Er verschließt Augen und Ohren und blendet die Geschehnisse vollkommen aus. Stattdessen wirft er sich in seine Arbeit oder die Umgestaltung des Hauses.                                                                                                Wobei letzteres ebenfalls einen Weg aufzeigt, wie die Eltern mit dem Trauma umgehen und zwar versuchen sie ihre Vergangenheit zu verdrängen und auszulöschen. Der Hausumbau spiegelt dies wieder. So wird das heimelige Kindheitslabyrinth des Ich – Erzählers in einen kalten, modernen Neubau umgebaut, der keinerlei Erinnerung mehr an Kindheit und Vergangenheit hervorruft: „Der Umbau hatte mir mein Kindheitslabyrinth genommen, es begradigt, entkernt und ausgeleuchtet“ (vgl. S. 47, Z. 19 ff.) Es wird auch der Dachboden umgebaut, in dem der Ich – Erzähler eine Luke zu einem geheimen Raum findet, der weit unter dem Haus zu liegen scheint, von denen der Ich – Erzähler den Eltern nicht wagt zu erzählen, der er die Verbindung zwischen dem geheimen Raum den Eltern spürt. Der geheime Raum steht nämlich für ihr Unterbewusstsein, in denen all die traumatischen Erlebnisse, ihre Schuld und die Scham versteckt liegen. Mit dem Umbau verschwindet die Luke und damit der Zugang zum Raum, er selber bleibt aber bestehen: „Natürlich war auch die Falltür verschwunden und mit ihr der einzige Zugang zu dem verborgenen Raum. Doch seltsamerweise war die Fläche unterhalb der Falltür nach dem Umbau ebenso groß wie zuvor. […] ich glaubte fest daran, daß der Raum noch immer existierte, auch wenn er nun gänzlich unauffindbar und unbetretbar geworden war.“ (vgl. S.47, Z. 24 – S.48, Z. 1 – 8). Die Eltern verschließen den Zugang zu ihrem Unterbewusstsein und damit zu den traumatischen Erlebnissen und der Schuld völlig und verdrängen sie damit endgültig aus ihrem Bewusstsein, wodurch deutlich wird, dass die Eltern um jeden Preis sich damit nicht auseinandersetzen möchten.

Doch gerade dieses nicht in der Lage sein mit einander über die belastenden Gefühlen zu sprechen und sie stattdessen zu verdrängen, führt zu einer emotionalen Distanz zwischen Ich – Erzähler und den Eltern. Diese äußert sich zum Beispiel darin, dass der Ich-Erzähler von seinen Eltern nur förmlich redet, nämlich „Die Mutter“ und „Der Vater“.                                                                                                                                Es äußert sich aber auch darin, dass der Vater mit seinem zweiten Sohn kaum ein Wort redet und mit seinen Kunden eine engere Bindung hat, als mit seinem eigenen Sohn. Er behandelt seinen Sohn eher als eine Art Angestellten, da er nur mit dem Sohn redet, wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt: „Dem Vater reichten kurze Befehle und Arbeitsanweisungen, um sich mit mir zu verständigen“ (vgl. S.12, 13 ff.). Dagegen sucht er ständig das Gespräch mit den Kunden, hört sich ihre Sorgen an und ist für sie da bei etwaigen Problemen: „Wenn er seine Kunden bereiste, so vor allem, um mit ihnen über ihre Sorgen zu sprechen.“ (vgl. S.33, Z.23f.). Der Zweitgeborene bekommt das natürlich mit und so kommt es, dass selbst über Jahre später der Anblick von Wurstwaren traurig stimmt, denn es erinnert ihn daran, dass der Vater, der ein Großhändler für Fleisch- und Wurstwaren ist, immer näher seinen Kunden stand als ihm und sich mehr für sie interessierte, als für ihn: „noch Jahre später wunderte ich mich darüber, wie traurig ich angesichts […] einer Frischwurstauslage werden konnte.“ (vgl. S.37, Z.25 – S.38, Z.1 ff.).                                                                           Die Mutter hingegen spricht zwar gelegentlich mit dem Ich-Erzähler, aber die Konversation endet meistens in Tränen über den verloren gegangenen Arnold: „die Mutter redete wohl gelegentlich mit mir, doch meist lief das Gespräch auf den Bruder Arnold und damit auf Tränen oder Schweigen hinaus.“ (vgl. S.12, Z.15 – 18).

Der Ich-Erzähler wird also entweder kaum beachtet oder es geht um Arbeit oder Arnold, wenn sie mit ihm reden. Selbst der Vater ist nur einmal freundlich zu ihm, weil er ihn um Hilfe bittet, bei der Suche um Arnold: „So hatte ich den Vater noch nie mit mir sprechen hören. Er sprach zu mir wie zu einem Freund. Oder zumindest wie zu einem Kunden. Er wollte mich um etwas bitten.“ (vgl. S.50, Z.15 – 19).

Es geht eigentlich immer nur um Arnold und der zweite Sohn rückt damit in den Hintergrund und wird damit zum eigentlichen Verlorenen. Er selbst scheint dies stellenweise auch zu begreifen: „Denn erst jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir eine Nebenrolle zugewiesen hatte.“ (vgl. S.17, Z.6 – 9). Erst ist der zweite Sohn für die Eltern nur eine kaum beachtenswerte Nebenfigur, die nur dann wichtig ist, wenn er nützlich ist für die Suche nach Arnold. Wenn die Eltern etwas tun, dann tun sie es wegen Arnold, aber nie wegen ihm: „Die Eltern sorgten sich beständig um ihn. Wenn die Mutter traurig war, dann war sie wegen Arnold traurig. Wenn der Vater nach Heidelberg fuhr, dann fuhr er wegen Arnold nach Heidelberg. Und wenn wir jetzt das Schloß besuchten, dann taten wir auch dies nur wegen Arnold.“ (vgl. S.121, Z.15 – 20).

Später erkennt dann der Ich-Erzähler dann schließlich, dass er für die Mutter nur ein Ersatz für Arnold und für seinen toten Vater, der im Laufe des Romans an einem Herzinfarkt stirbt, ist und er ihr als sich selbst nicht genügt: „Aber ich konnte ihr Arnold nicht ersetzen. Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich ihr Arnold ohne weiteres ersetzt. […] Aber ich genügte ihr nicht. Ich war nur das, was sie nicht hatte.“ (vgl. S.140, Z.7 – 13). Der Ich-Erzähler ist für die Mutter also nur ein Platzhalter für ihre unbegriffene Schuld bezüglich des Verlusts von Arnold und später auch von dem Vater.

Abschließend kann man sagen, dass der verlorene Sohn, sowohl wenn man ihn als Arnold als auch als den Ich-Erzähler betrachtet, ein Platzhalter ist für die unbegriffene Schuld. Die Suche nach Arnold dient dabei als Ersatzhandlung, um sich eben nicht mit der Schuld, ihn voreilig weggegeben zu haben, auseinandersetzen zu müssen. Der Ich – Erzähler ersetzt dabei Arnold und damit die Schuld diesen weggegeben und damit verloren zu haben.

2 Kommentare

  1. Danke fürs Teilen deiner Erörterung liebe Celina! Sie wird meinen Schüler*innen sehr helfen auf dem Weg zum Abitur. 🙂
    Könnte oben vielleicht von dir Bob noch das Zitat eingefügt werden, auf das sich die Erörterung bezieht? Vielen Dank!

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