DISKUSSION: Zeitgemäßes Lernen – Abschied von einem Begriff

Um über den missverständlichen Begriff der „digitalen Bildung“ hinwegzuhelfen, war die Zusammensetzung „zeitgemäße Bildung“ bzw. „zeitgemäßes Lernen“ hilfreich. Nach und nach hat sich jedoch gezeigt, dass ein als Hashtag begonnener Begriff, der von jedem beliebig mit Inhalt gefüllt werden kann, für ein Nachdenken übers Lernen nicht taugt – oder sogar so exklusiv genutzt wird, dass er alle ausschließt, die seinen willkürlich hinzugezogenen oder abgezogenen Aspekten nicht gerecht werden. Ein Abschied.

Disclaimer

Ich zitiere (so gut wie) nicht und bleibe im Unklaren. Deal with it.

Eine kleine Vorgeschichte des Begriffs

Die Idee, den Hashtag bzw. den Begriff „zeitgemäße Bildung“ zu verwenden, um sich von der missverständlichen „digitalen Bildung“ abzugrenzen, war eine gute. Allerdings hatte er, so muss man rückwirkend sagen, schon den Geburtsfehler, dass jede Definition mit „Für mich ist es…“ begann.

Die Unternehmung, einen vagen Begriff mit Inhalt zu füllen, fand ich selbst spannend und beteiligte mich auch daran. Interessant wurde es immer dann, wenn es konkret werden sollte: So zeigte sich beispielsweise bei der Blogparade „Zeitgemäßes Lernen konkret“, dass die meisten es nicht schafften, konkret zu werden. Auch hier muss man rückwirkend sagen: Wie auch: Wenn es kein tatsächlich hergeleitetes theoretisches Framework gibt, muss man das Unmögliche tun: Seine eigene Vorstellung davon, was nun „zeitgemäß“ ist entweder ins Praktische Zusammendrücken, wobei dann jede Praktik als „zeitgemäß“ erscheint oder seine eigene Praxis in ein theoretisches Framework aufblähen. Beides funktioniert nur so mittelgut.

In der Entstehung und Kritik des „zeitgemäßen Lernens“ zeigte sich so denn auch, dass der Begriff so vage war, dass er ein Modewort wurde. Im Grunde war die Übersetzung nicht viel anders als bei dem Begriff „modern“, der ja auch immer wieder – welch treffende Figur etymologica – modernisiert wird. Schon nach der Blogparade zeigte sich ein weiteres Phänomen, das sich nur noch verfestigt hat: Man solle, so hieß es vonseiten nicht näher definierter Türsteher der digitalen Begriffsverwaltung, den Begriff nicht weiter zu klären versuchen, da dies schon jemand gemacht habe und die Definition also abgeschlossen worden ist. Ach so.

Fallstricke der gegenwärtigen Verwendung

Begriffe sind dann nützlich, wenn Sie Konzepte oder Gedankengebäude enthalten, die sich aus ihrer Verwendung und Reflektion ergeben und die im besten Fall (auch) an wissenschaftliche Prozesse angebunden werden können. Natürlich können sie dennoch Meinung beinhalten, im besten Fall ist diese Meinung aber zumindest durch unterschiedliche Feedbackprozesse verifiziert (ein Beispiel dafür ist der Begriff des „New Learning“, dessen Bestimmung sicher nicht abgeschlossen ist, der sich aber durch das Hagener Manifest durch einen transparenten, einsehbaren Prozesse von Teilnehmer:innen unterschiedlicher Praxis ergeben hat).

Der Begriff der „zeitgemäßen Bildung“ leistet all das (zumindest in einem theoretischen Sinne) nicht – oder beinhaltet sogar das Gegenteil dessen, was er soll. Da ist es dann zeitgemäß, mit digitalen Applikationen zu arbeiten (auch wenn gerade –  wie jedes Jahr seit mindestens 10 Jahren – von jemandem “entdeckt” wird, dass es eigentlich gar nicht um die Apps geht). Oder es ist zeitgemäß, wenn alte Inhalte mit neuen Medien aufgehübscht werden und eine tolle bunte Grafik dem angeblich aus der Zeit gefallenen Stoff neuen Anstrich gibt.

Das alles kann in keinem Gesamturteil enden. Denn: Ja, es gibt gute Apps, es gibt schlechte Apps und man kann alten Stoff neu bearbeiten und so weiter. Aber ob das zeitgemäß ist oder nicht, ist dabei in den wenigsten Fällen ausschlaggebend. Oder anders gesagt: Der Begriff leistet genau so viel oder wenig für ein Bildungsverständnis wie das Wort „modern“.

Sollte Unterricht „modern“ sein? Ja, sicher… Manchmal aber auch nicht, weil man ansonsten die Botschaft vermittelt, alles müsste alles aus seinem historischen Kontext gelöst werden, weil es ansonsten nicht mehr sprechen könne. „Faust“ ohne Instagram ist dann nicht mehr zeitgemäß oder modern oder was auch immer. Das bedeutet natürlich nicht, dass Inhalte nicht in der Tat „aus der Zeit“ fallen oder irrelevant werden können. Es bedeutet lediglich, dass die Kategorie „zeitgemäß“ nicht nur missverständlich, sondern auch missbräuchlich verwendet werden kann – und wird.

Damit öffnen sich dann aber ganz andere Tore, nämlich jene, die den Rufen nach „Versicherungen, Mietverträgen und Aktien“ folgen wollen. Zeitgemäß ist dann, was verwertbar ist. Die nützliche Verwertbarkeit wird damit zum goldenen Kalb von etwas, das man nicht mehr Bildung nennen kann (nur nebenbei: All jene Gebiete, die in einem verkürzten Bildungsverständnis an der Kategorie der Alltagstauglichkeit angebunden werden können, sind natürlich nicht einfach abzulehnen. Nur gehören sie in einen Zusammenhang, der sich nicht ausschließlich aus fehlgeleiteten Dichotomien wie „nützlich/ unnütz“ ableitet).

Die andere, mittlerweile genauso verbreitete Variante der „zeitgemäßen Bildung“ ist jene, in der sich ihre Vertreter – man müsste Anhänger sagen – nicht zu schade sind, ein aus Bauchgefühl entstandenes Verständnis von Bildung gegen wissenschaftlich validierte Ergebnisse zu stellen. Damit ist dann beispielsweise „wirksamer Unterricht“ abzulehnen, weil der Begriff Wirksamkeit – man ahnt es schon – nicht „zeitgemäß“ ist. So kann man eine Ideologie begründen, aber keine Idee von Bildung (was sich im Übrigen auch dadurch zeigt, dass es Personen gibt, die den Austausch mit anderen aufgrund von ideologischen Erwägungen ausschließen).

Eine Alternative: Reflektiertes und relevantes Lernen

Vor einigen Jahren hätte ich, wenn ich einen solchen Artikel geschrieben hätte, eine schöne und griffige Alternative präsentiert, quasi fertig gebacken als Hashtag. Das möchte und kann ich an dieser Stelle nicht tun. Stattdessen kann ich sagen, dass ich die etwas klobige Phrase des „reflektierten Lernens“, meist mit dem Anhängsel „im digitalen Wandel“ sehr häufig verwende. Dies ist auch keine „Erfindung“, sondern leitet sich vom Meta-Lernen der 21st Century Skills ab, der Fähigkeit also, sein eigenes Lernen zu reflektieren. Damit ist weder ein theoretischer Rahmen geschaffen noch wird damit ein Programm definiert. Für mich leistet die Phrase aber, dass sie mehr umfasst als den Blick nach vorne. Denn wer reflektiert lernt, lernt auch mit dem und über das, was auch dann relevant ist, wenn es nicht unter eine diffuse Kategorie von „zeitgemäß“ fällt.

Damit habe ich ausgesprochen, dass der Begriff der Relevanz mein momentanes Nachdenken über Lernen und Bildung bestimmt. Relevanz ist dabei aber keine bloße Kategorie des Inhalts (also des Was) und auch nicht der Methode (also des Wie), sondern vor allem eine Kategorie des Gesellschaftlichen (also des Warum) und ist damit nah an Klafkis Bildungsbegriffs, den ich an anderer Stelle mit lockerer Feder versucht habe, für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen.

Konkret: Die Sprache einer oder mehrerer Kulturen zu beherrschen muss nicht zeitgemäß sein, ist aber höchst relevant. Geschichte ist quasi nie zeitgemäß, aber immer relevant, vor allem dann, wenn man sieht, wo Menschen sie ignorieren. Kulturzugangstechniken zu erlernen, indem man sie so lange einübt, bis man sie automatisch beherrscht, ist nicht zeitgemäß, aber relevant. Und so weiter und so fort.

Dominik Schöneberg hat in einem älteren Artikel Thesen formuliert, die sich hieran anschließen lassen, so z.B.:

„An der Gegenwart ausgerichtete Bildung ist kurzsichtig“ oder

„Ein Blick zurück zeigt Perspektiven für die Zukunfts-Bildung“.

Er schließt mit folgendem Absatz, den ich hier in Gänze übernehmen möchte:

„Das heißt ausdrücklich nicht, dass im Unterricht nicht aktuelle und/oder digitale Probleme behandelt werden sollten. Aber nicht in erster Linie, weil sie zeitgemäß sind, sondern weil sie die Probleme der Schüler*innen sind. Im Zentrum der Bildungsbemühen von Schulen sollte stehen, dass die jungen Menschen durch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart die zeitlos wichtigen Kompetenzen erwerben, die sie für die Zukunft brauchen: Autonomie, Empathie, Kritikfähigkeit und so weiter. Digitale Technik in der Schule muss sich daran messen lassen, inwiefern sie dazu einen Beitrag leisten kann.“

Meine Konsequenz: Transparente Ablehnung

Kein Hahn kräht danach, ob jemand Bestimmtes einen Begriff ablehnt. Der Artikel mag dennoch für jene interessant sein, die wie ich nach anderen Möglichkeiten suchen, tradierte Lernkonzepte, Haltungen und Zugwangsweisen hinter sich zu lassen und dennoch nicht in eine Fundamentalablehnung abzudriften, die entweder alles ablehnt, dass nicht der eigenen Definition oder bestimmten, willkürlich auswechselbaren Aspekten entspricht.

Es wird auch weiterhin Kongresse, Podiumsdiskussionen und Vorträge geben, in denen die Frage nach dem „zeitgemäßen Lernen“ gestellt wird. Und ich werde diese sicherlich weiter besuchen. Warum auch nicht? Wir sind ja keine Kindergartenkinder. Ich werde jedoch – man muss sagen weiterhin – deutlich machen, dass „zeitgemäß“ keine Kategorie ist, die sich für eine Auseinandersetzung mit Bildung fruchtbar machen lässt. Was diverse Diskussionen auch zeigen.

Im engen Sinne werde ich den Begriff selbstverständlich verwenden. Sowas wie: „Eine Verwaltung, die nicht digital ist, ist nicht mehr zeitgemäß.“ Das Schöne an einer solchen Nutzung: Jeder weiß, was gemeint ist.

2 Kommentare

  1. Diesen Artikel, auch wenn er sich nicht auf zitierte andere Autoritäten bezieht, wie im Vorwort vermerkt, finde ich sehr relevant für das Nachdenken über Bildung. Das Schöne ist, dass hinterfragt wird, ob der Begriff “zeitgemäß” überhaupt eine gültige Kategorie ist, um das Phänomen der Bildung zu beschreiben. Zeitgemäß können die Wissensinhalte sein, die vermittelt werden. Auch Methoden und Medien können zeitgemäß sein oder nicht. Die Bildung, die ich durch Schulunterricht aber anstrebe, ist ein universelles Gut. Bildung ist der Prozess des Erkenntnisgewinns und das Ergebnis von Lernen, Forschen und Entwickeln von Ideen. Das im Unterricht Vermittelte sollte für die Schüler und Schülerinnen jedoch immer bedeutsam sein und/oder durch didaktische Reduktion altersgemäß und verständlich sein. Man sollte sich nicht scheuen, Schüler und Schülerinnen intellektuell herauszufordern. Die Tendenz, ihnen das Denken durch vermeintlich zeitgemäße Aufbereitung des “Stoffs” abzunehmen, verbessert Bildung nicht.

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