Nachdem der geschätzte Kollege Tobias Schreiner (Schulleiter in Bayern) eine Frage bezüglich der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen aus “Brennpunktvierteln” stellte, antwortete “Frau Stier hat Ferien” mit einem Thread, den ich nicht nur höchst interessant, sondern grundsätzlich hinsichtlich der Arbeit mit allen Jugendlichen sinnvoll finde. An dieser Stelle kann man nun eine etwas längere Version des Beitrags lesen. Zuvor die Frage und der erste Tweet als kleine Einführung. Herzlichen Dank für den Beitrag. 

Ausgangssituation

Tobias Schreiner:

Als Student durfte ich drei 9. Klassen aus einem sog. “Brennpunktviertel” ins Schullandheim begleiten. Einige dieser Jugendlichen wirkten äußerlich so hart und abgebrüht, dass es mir ehrlich Angst gemacht hat. Wie geht ihr auf solche Jugendliche zu, wie erreicht man sie?

Über die Arbeit mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen

Oder: Warum ich ein verlässlicher Beziehungspartner bin.

Wenn man so durch Twitter scrollt, begegnet einem immer wieder die Frage danach, wie man eigentlich mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen umgehen soll. Wie man es schafft, diese SchülerInnnen zu „knacken“, sie auf seine Seite zu bringen, oder überhaupt mit ihnen Unterricht zu machen.

Das Zauberwort lautet oft einfach nur: „Beziehung“.

Aber was gehört zu einer tragfähigen (!) Beziehung? Zu einer tragfähigen Beziehung mit den „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen?

Ich frage also an aller erste Stelle mich selbst: Wie ist meine HALTUNG zu diesen Kindern und Jugendlichen? Wie sehe ich MICH SELBST, wo sind meine GRENZEN, meine TRIGGERPUNKTE? Und dann kann ich überlegen: WIE möchte ich die Beziehung erreichen? WAS kann ich dafür tun, muss ich dafür tun? Wie ICH persönlich (und viele KollegInnen, die ich kenne) arbeite, möchte ich euch gern in diesem Blogbeitrag nahe bringen.

Vorweg

So arbeiten die allermeisten Sonderpädagogen. Das ist Teil unserer Ausbildung. Deswegen gibt es hier die Sicht einer Sonderpädagogin, die aktuell an einer Förderschule Lernen (Jahrgang 5 – 10) arbeitet, und genau so auch an jeder anderen Schulform arbeiten würde. Das ist „normal“ für uns.

Deswegen verzweifeln viele Sonderpädagogen so oft am Regelschulsystem. Ich glaube sofort, dass viele Regelschulkollegen so arbeiten würden, wenn das System sie ließe. Wenn das Curriculum nicht da wäre – und so weiter. Für solch intensive Arbeit ist oft keine Zeit. Ich nehme mir die Zeit. Ich habe auch ein Curriculum, an das ich mich halte. Ich habe „Stoff“ den ich bearbeiten muss. Aber all das, was im folgenden Blog Beitrag steht, ist die Voraussetzung dafür, dass „Stoff vermitteln“ überhaupt funktioniert. Und deswegen arbeite ich so. Weil nur durch Beziehung und Bindung Lernen mit diesen Kindern und Jugendlichen überhaupt erst möglich wird.

Wie erreicht man also eine Beziehung zu den SchülerInnen?

Sei authentisch.

In der Arbeit mit den SchülerInnen bin ich immer authentisch. Sie merken es, wenn man es nicht ist. Und ich kommuniziere dauerhaft mit ihnen. Ich sage ihnen, wie es mir gerade geht, was mich gerade stört, und vor allem sage ich ihnen – WARUM es so ist. Zum Beispiel sage ich „Leute, ich kann heute laute Dinge nicht ertragen, ich hatte einen sehr lauten Vormittag in meiner eigenen Klasse. Ich wünsche mir, dass wir heute eine ruhige Stunde haben. Danke.“ Und ihr wärt überrascht, wie oft das schon dabei hilft, dass es auch wirklich leiser ist. Denn sie verstehen es. Können es nachvollziehen und fühlen sich gleichzeitig sehr ernst genommen, denn ich sage ihnen – Achtung – die Wahrheit. Ich lüge sie nicht an, spiele ihnen nichts vor.

Und wenn ich mal „platze“, entschuldige ich mich hinterher. Und sage, warum ich es heute nicht geschafft habe, geduldig zu sein. Denn ich bin auch nur ein Mensch, und Menschen machen nun mal Fehler.

So können die Kinder und Jugendlichen mich besser einschätzen. Sie wissen, wie es mir an dem Tag geht, sie wissen, warum es mir wie geht und warum meine Zündschnur gegebenenfalls sehr kurz ist an dem Tag. Dadurch merken sie: Die da vorne, die ist ein Mensch. Die ist authentisch. Die sagt, was gerade los ist. Die ist ehrlich. Die vertraut uns. Die erlebt die gleichen Sachen wie wir in der Schule.

Ich bin, in dem ich so mit den SchülerInnen kommuniziere, auch gleichzeitig ein Vorbild: Gerade diese Kinder und Jugendlichen haben oft gelernt, ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse zu verstecken. Vermeintlich „stark“ sein und auf gar keinen Fall das Gesicht verlieren steht oft an erster Stelle. Wenn ich mit ihnen auf diese Art und Weise kommuniziere, merken sie – es geht auch anders. Man kann seine Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle mitteilen, ohne das Gesicht zu verlieren. „Lernen am Modell“ ist hier das Stichwort.

Kommuniziere auf Augenhöhe.

Diese Kinder und Jugendlichen kennen in der Regel nur Erwachsene, die sie bevormunden wollen. Die sagen „Tu dies nicht, mach das nicht, lass das“ und keine Erwachsene, die 1. Ihre Wünsche begründen „Lass die Schere bitte liegen, ich habe Angst, dass du dich damit verletzt“ und 2. die sich überhaupt ihre Bedürfnisse anhören.

Nimm ihre Bedürfnisse ernst und frage nach dem „Was brauchst du?“

Die Frage nach dem aktuellen Bedürfnis ist ebenfalls sehr wichtig. „Was brauchst du?“ gehört für mich zu einem der Standardsätze, die ich im Alltag nutze. Und die Bedürfnisse werden nach Möglichkeit erfüllt! Sei es eine Auszeit, ein Gespräch, eine Pause auf dem Flur, eine Bewegungsrunde, was zu Essen, zu Trinken, irgendwas. Wenn ich es möglich machen kann, mache ich es.

Respektiere deine SchülerInnen.

Ich bin im Umgang immer respektvoll. Ich erwarte, dass meine SchülerInnen mich respektieren. Also respektiere ich sie ebenfalls. Das bedeutet: Keine Abwertung. Jeder kann zu jeder Zeit sein Gesicht wahren. Jede Meinung wird ernst genommen. Jede Aussage wird ernst genommen. Um einmal ein Beispiel zu geben: Ein Schüler verließ das Schulgelände und war in einem abgeschlossenen Bereich. Ich konnte nicht zu ihm. Ich war darauf angewiesen, dass er zu mir kommt. Umdrehen und zu mir kommen war nicht möglich, denn das hätte Gesichtsverlust bedeutet. Also habe ich vorgeschlagen, dass er rückwärts gehen könnte… und genau das hat er dann auch getan. Bis ich ihn berühren konnte. Und dann ging auch das Umdrehen.

Nimm deine SchülerInnen an.

Ich nehme sie an, wie sie sind. Ich mag diese Kinder und Jugendlichen, und zwar ehrlich. Ich interessiere mich für sie, zeige ehrliches Interesse an ihrer Lebenswelt, an ihrem Alltag außerhalb der Schule, an ihrer Person, ihren Gedanken und Gefühlen. Und ich werte davon nichts. Ihre Lebenswelt ist oft eine andere als meine, ein Urteil darüber steht mir in keiner Weise zu. Und ich sage ihnen, dass ich sie mag. Denn oft tut das außer mir niemand.

Sei berechenbar.

Ich bin in meinem Handeln und in meinen Aussagen nach Möglichkeit immer berechenbar. Das heißt, ich lege meine Grenzen fest, teile sie den Kindern und Jugendlichen mit, sage immer das Gleiche und vor allem handle ich immer gleich. Sie müssen mich lesen können. Sie müssen wissen, was mich stört, was mich freut, was passiert, wenn… Diese Kinder und Jugendlichen haben in ihrem Alltag oft genug unberechenbare Dinge, ich gehöre nicht dazu. Und das gibt ihnen Halt und Stabilität. Und wenn ich einmal etwas nicht weiß oder eben gerade noch nicht eine Konsequenz aussprechen kann, dann sage ich das auch. Denn so bleibe ich trotz Unsicherheiten berechenbar. „Ich muss mich erst mit xy absprechen, dann kann ich dir sagen, was wir tun werden.“ Oder „Ich kann gerade noch nicht sagen, was passiert. Ich weiß es nicht.“

Sie meinen nicht dich.

Ein wichtiger Satz, den man verinnerlichen muss. Ich weiß, sie meinen nicht mich. Ich nehme die Dinge, die sie tun und sagen, nicht persönlich. Sie meinen weder mich noch meine Person, und genau deswegen kann ich sie immer annehmen. Ich bin die professionelle Person an dieser Stelle. Also kann ich das Verhalten der Kinder und Jugendlichen richtig blöd finden, es ihnen sagen und sie trotzdem so annehmen, wie sie sind. Weil auch wenn sie Mist bauen – sie meinen damit nicht mich. Also kann ich damit gut umgehen. Und das Verhalten einordnen. Und für sie verlässlich da sein.

Sei DA. Immer.

Ich bin einfach immer ein verlässlicher Beziehungspartner. Ich bin DA. Immer. Sie bauen Scheiße in ihrer Freizeit, können das aber nicht allein lösen? Natürlich helfe ich ihnen. Sie können sich darauf verlassen, dass ich Dinge für sie löse, die sie nicht allein schaffen. Ich kümmere mich um alles. Sie haben Stress mit ihren Geschwistern? Ich kümmere mich. Sie kommen mit dem Sozialarbeiter im Jugendzentrum nicht zurecht? Ich kümmere mich. Ich bin DA. Immer.

Und wenn du diese Punkte erfüllst, dann kommst du in Beziehung zu ihnen. Dann nehmen sie dich ernst, respektieren dich, sind ehrlich, nett, freundlich und so weiter. Nicht immer. Es wird Tage geben, da wirst du alles verfluchen. Du wirst alles ätzend und blöd finden, wirst verzweifeln, weil sie so viel Scheiße in der Schule und in ihrer Freizeit machen, dass es dich richtig wütend, traurig und verletzt machen wird. Du wirst Kämpfe ausfechten, immer wieder. Mit ihnen, mit ihren Eltern, ggf. sogar mit deinen Kollegen. Aber die Kinder und Jugendlichen sehen dich. Sie sehen, dass du das für sie machst. Das du sie magst, dass du für sie kämpfst. Oder gegen sie, wenn sie das brauchen. Wenn sie den Konflikt mit dir suchen, ist das nämlich eigentlich ein gutes Zeichen. Sie fühlen sich sicher genug, diese Kämpfe mit dir zu führen. Sie fühlen sich sicher genug, um zu wissen, dass du sie trotzdem gern hast. Oder sie testen eben genau das aus: Mag die mich noch, auch wenn ich mich scheiße verhalte? Mag sie mich noch, auch wenn ich nicht mitarbeite? Die Antwort darauf ist immer: Ja. Du kannst immer zu mir kommen. Ohne dein Gesicht zu verlieren. Ohne, dass ich dich verurteile. Denn ich bin DA. Mit meiner ganzen Person. Und das führt dazu, dass sie sich auf mich verlassen können. Das sie anfangen, mich wirklich, ehrlich zu mögen.

Probiert es aus.

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