Beim digitalen Diskurs oder dem Diskurs unter digitalen Bedingungen, ist es schwer, nicht in diverse Fallstricke zu treten. Manchmal bräuchte es eine Typologie der (gerade noch) erlaubten Kritik, an die man sich heranhangeln kann, damit man möglichst keinen in der Community verletzt. Das ist schade, da so, wie so oft im (politischen) Diskurs die Sache auf der Strecke bleibt. Ein Kommentar zum Lesen und zum Umgang mit Kritik.
1. Teil
Beginnen wir mit meinem persönlichen Umgang. Da lese ich einen in der Sache wichtigen Artikel vom Christian Füller, Berliner Journalist und professioneller Wadenbeißer (ich hoffe, Christian, das ist in Ordnung) gegenüber einem sich gefallenden Diskurs. (Anmerkung: Mein eigenes digitales Blogleben startete erst so richtig, als mir Christian so deftig einen vor den Latz knallte, dass ich gekränkt, wütend und beleidigt nach Verbündeten suchte, die ich in der digitalen Community fand). Ich lese bzw. überfliege also diesen Artikel, der sehr wichtige und, wie ich finde, von der digitalen Community (teilweise) ignorierte Einwände formuliert.
(M)eines Erachtens sind die Folgen des Online-Tsunamis auf das Lebens- und Lernverhalten von Kindern gar nicht hoch genug einzuschätzen. Es wird Zeit, dass wir uns damit in einer problemorientierten öffentlichen Debatte damit befassen, erste Studien gibt es dazu ja schon.
Diese Studien zitierend, die in der Tat ein besorgniserregendes Bild bezüglich der Lesefähigkeit bei gleichzeitigem exponentiellen Ansteigen der Smartphonenutzung zeigen, beschreibt Füller seine Besorgnis. Er schließt mit einer konkreten Forderung:
Wer sich dem digitalen Lernen nicht in den Weg stellen will, und das analoge Lernen nicht vernachlässigen möchte, der könnte folgendes machen: einen Digital- und Analogpakt (Siehe Waldorfschulen).
Ich retweetete den lesenswerten Artikel.
Wo ist nun das Problem? Nun, Füller nimmt einen Tweet des Freiburger Lehrers und SMV-Beauftragten Dejan Mihajlović zum Anlass, seine Ausführungen zu zitieren. Die sich normativen Urteilen entgegenstellende Ansicht, das Leseverhalten habe sich verändert, nennt Füller „ängstlich“, und „unangemessen“. Die Begründung folgt und eben im weiteren Verlauf die Ausführungen, die ich für interessant halte.
Nach einem Sturm der Entrüstung, man können doch keine Tweets dekontextualisieren (Was ich übrigens sehr oft und gerne mache, allerdings im Positiven, weshalb sich keiner beschwert) und denjenigen, der die Tweets schrieb, angreifen sollte, musste ich mich, wie so oft in Zeiten, in denen Menschen und Theorien so oft miteinander eins gesetzt werden, entscheiden. Bleibe ich bei meinem Retweet und unterstütze so das, was andere als verletzende Kritik wahrnehmen? Oder nehme ich ihn zurück?
Mein kindisches Verhalten ist für die Filterblase, in der ich mich bewege, typisch (obwohl ich versuche, „drüber zu stehen“). Ich nahm den Retweet zurück. Nicht, weil ich den Artikel nicht gut finde, sondern aus „Furcht“, als jemand dazustehen, der es hinnimmt, dass Dejan böse kritisiert wird (wobei dieser sich gar nicht dazu äußerte und er durch seinen Anspruch, dem, was Bildung in der heutigen Zeit ist, als „zeitgemäße Bildung“ einen Namen zu geben, eine größere Zielscheibe für Kritik darstellt).
Man könnte auch sagen: Diese erste Hälfte meines Blogartikels ist eine Apologie, warum ich den Artikel von Christian Füller wichtig finde, ohne zwangsläufig mit der Art und Weise einzustimmen, wie diese artikuliert wird (wobei ich dabei bleibe: Wer von Füller kritisiert wird, wird für mich eher geadelt als dass ich glaube, dass ein persönlicher Angriff damit bezweckt wird).
2. Teil
Foto: Thomas Clemens
Es wäre sehr unglücklich, würde ich nun ausgerechnet Dejans Tweet als die Ausgangslage meiner eigenen Ausführungen zum Lesen von Büchern nehmen. Aus diesem Grund versuche ich allgemein zu bleiben. Der Grund, weshalb viele Mitglieder der digitalen Community reflexartig die Forderung nach Büchern relativieren, ist einfach: Experten der digitalen Sphäre sind immer und immer wieder damit konfrontiert, dass Lehrerinnen und Lehrer klare Grenzen ziehen. Buch: gut! Handy: schlecht! Mit einer solchen Dichotomie lässt sich nichts bewegen.
Also sprechen die Verfechter einer (wieder mal) neuen digitalen Kultur innerhalb und außerhalb der Schule lieber davon, dass nichts schlechter ist, sondern eben nur alles anders. Das ist absolut nachvollziehbar und nicht nur eine Entwicklung der Buchkultur.
Auch die Öffnung innerhalb anderer gesellschaftlich-kultureller Bereiche bietet, wenn man sie ernst nimmt, Chancen für einen Unterricht, der auf die Jetztzeit vorbereitet. Die Analysen von Memes und Selfies, das Lesen von Graphic Novels und Screenplays – all das wird durch einen digitalen Zugriff begünstigt und kann nur Einzug in die schulische Bildung erhalten, wenn man die Höhenkammliteratur nicht für das Maß der Dinge hält.
Ein Aber
Darum, denke ich, geht es aber nicht. Bei einem Diskurs über das Lesen, über Bücher und über Tablets und über das, was man Literalität oder Literacy nennt, geht es nicht um das Medium, welches die Narrative bereithält. Ich kann genauso gut jeden Tag Pfennigromane als analoge Blättchen lesen wie ich die Bildzeitung auf meinem iPad konsumiere. Meine intellektuellen Fähigkeiten oder meine Kompetenz, Zusammenhänge in ihren Nuancen nachzuvollziehen, wächst dadurch nicht (empirisch habe ich das nicht belegt).
Genauso gut kann ich aber auch Thomas Mann, Franz Kafka und Arthur Schnitzler auf meinem iPad lesen. Oder ich habe sie eben im Regal.
Meine eigene Handlungsweise gegenüber Büchern ist relativ streng. Alles, was ich mehr mag als das es einen flüchtigen Moment der emotionalen Berührung überdauern könnte, brauche ich um mich herum. Vielleicht sogar als Bestätigung meiner selbst. Mein Regal bin ich. Alles, was ich lediglich für einen Moment sammle, kann ich digital archivieren. Es bedeutet mir nur für den Zweck etwas. Meine Lieblingsbücher haben keine Zweckmäßigkeit, außer dass sie sind, was ich geworden bin.
Das kann man pathetisch nennen oder sich damit identifizieren: Was bleibt ist, dass es meine eigene Nutzung ist, eine, die ich durch mein Aufwachsen erlernt habe. Ich würde mir nicht anmaßen, sie anderen aufzuzwingen. Aber: Was viele von denen, die wie ich beide Welten kennen und sich in ihnen auskennen, meinen, ist, dass dies Kinder automatisch auch könnten. Und das ist nicht so.
Viele meiner eigenen Schülerinnen und Schüler (nicht empirisch nachgewiesen), klagen darüber, dass sie sich nicht konzentrieren können. Ihnen fällt es schwer, mehr als eine Seite zu lesen. Eine Seite! Dabei ist es relativ egal, ob sie diese Seite oder diese Seiten auf dem Mac, dem iPad oder im Buch lesen. Das zieht sich bis in die Oberstufe! Lesen ist anstrengend.
Und das soll es auch sein. Einen Gedanken nachzuvollziehen, der sich in seiner Tiefe erst nach einigen Seiten entfaltet, sich zurücknimmt, dann wieder vorwärts prescht; einen Gedanken, der schwer zugänglich ist und sich erst nach und nach in seiner ganzen Buntheit offenbart; einen Gedanken, der durch Strichpunkte weitergeführt wird (kleiner Metawitz). Einen solchen Gedanken nachzufühlen oder rational zu ergreifen bedeutet mehr Aufwand als einen kurzen Blogartikel oder eine WhatsApp Nachricht.
(Wenn ich es mir erlauben kann, an dieser Stelle einen kleinen positiven Seitenhieb zu machen: Hätten wir alle die Standardwerke von Axel Krommer et al. gelesen, z.B. das hier, würden wir nicht so oft denken, dass jede neue Idee von uns selbst ist und hätten eine Grundlage für die Diskussion; aber, und da spreche ich für mich selbst: Es ist sehr anstrengend, Grundlagenwerke zu lesen und zu verstehen, wenn man Vollzeit arbeitet, eine Familie hat und nicht nochmals studieren kann).
Zurück zum Unterschied zwischen einem langen Gedanken und einer Textnachricht. Das also das Ergreifen eines umfassenden Gedanken schwieriger ist, hat auch damit zu tun, dass Lesen als Handlung, die einen selbst berührt und die Perspektiven eröffnet, etwas anderes ist, wenn es ein Mensch macht, der sich Schriftsteller oder Journalist nennen kann. Weil er sein Leben dem widmet, was Worte mit dem Geist machen. Weil er Einblicke in die dunklen Tiefen der Psyche hatte und erlernte, diese so klar zu schleifen, dass sie anderen einen Blick eröffnen.
Können wir dann sagen, dass alles nicht so schlimm ist, weil viel gelesen wird?
Mehr noch: Tun wir unseren Kindern und Schülern einen Gefallen, wenn wir meinen, dass das ständige Lesen von WhatsApp-Nachrichten auch ein solches Lesen ist, dass dem eines Buches gleichzusetzen ist?
Ist also Lesen gleich Lesen?
Ich meine, nicht. So, wie ich (nun, im allerkleinsten Kreis) dafür kämpfe, dass die digitale Kultur, das Wissen um Umgang, Algorithmen und Kommentarkultur, das Netz und soziale Medien Einzug in die Schulen halten, so werde ich darum kämpfen, dass das Buch (egal, ob seine Worte, Sätze und Buchstaben auf Totholz oder auf dem Retina-Display dargestellt werden), die Schule nicht verlässt. Denn dabei geht es um mehr, als darum, ein paar Autoren zu kennen. Es geht darum, denken zu lernen. Denken, das über zwei Zeilen hinausgeht.
Legere aude!
Ihr kennt das.