Mit seinem Podcast “Psychologie fürs Klassenzimmer” hat Benedikt Wisniewski eine große Lücke geschlossen. In den Folgen geht es meist um wichtige Studien und deren konkrete Implikationen für Unterricht, Schule und Klassenzimmer. Da ich selbst sehr viel lernen konnte, habe ich mich dazu entschieden, aus Notizen, die die ehemalige Schülerin Sarah Fianke für ein anderes Projekt erstellt hat, kurze, knackige Blogbeiträge zu bauen, in denen jeweils eine Folge des Podcasts – und damit eine Studie – skizziert wird. Am Ende des Beitrags erfolgt der Hinweis auf die Folge auf Spotify. Ich freue mich über Ergänzungen und Anmerkungen. 

“Die Erforschung von Expertise in Schachspielen und deren pädagogische Implikationen”

Forschungsfragen und Relevanz für Lehrer:innen

Die Studie nahm sich die Frage vor, was einen Experten in einem bestimmten Gebiet auszeichnet und wie Expertise entsteht. Obwohl die Forschung nicht im schulischen Kontext oder mit Schülern durchgeführt wurde, bietet sie grundlegende Erkenntnisse darüber, wie Menschen Expertise erlangen. Diese Erkenntnisse legen den Grundstein für das Verständnis der psychologischen Prozesse hinter Expertise und ermöglichen Rückschlüsse darauf, was Lehrer:innen vermitteln können und was nicht. Die Studie stellt die Annahme in Frage, dass allgemeine Denkprozesse und inhaltsunabhängiges Wissen leicht von einem Bereich auf einen anderen übertragbar sind.

Die Forschungsmethoden

Die Forscher untersuchten unterschiedlich starke Schachspieler und konfrontierten sie mit einer Gedächtnisaufgabe. Die Teilnehmer mussten eine Schachstellung unter zwei Bedingungen wiedergeben: echte Schachpositionen und beliebig aufgestellte Figuren, wie sie im normalen Spielverlauf nicht vorkommen. Die unabhängige Variable war die Anzahl der korrekt erinnerten Figurenpositionen, und es gab drei Personengruppen, die beiden Bedingungen ausgesetzt wurden: Meister, Amateure und Anfänger.

Die zentralen Ergebnisse und deren Erklärung

Die zentralen Ergebnisse zeigten, dass die Schachmeister in der ersten Bedingung (echte Schachpositionen) deutlich überlegen waren, während es in der zweiten Bedingung (beliebig aufgestellte Figuren) keine Unterschiede zwischen den Personengruppen gab. Interessanterweise waren die Schachmeister in der zweiten Bedingung schlechter als die Anfänger in der ersten Bedingung. Diese Überlegenheit der Meister bezog sich nicht auf eine allgemein bessere Gedächtnisfähigkeit, sondern auf den gezielten Abruf ihres Expertenwissens im Schach, insbesondere von tatsächlichen Schachpositionen.

Die Erklärung für diese Ergebnisse lag in der Art und Weise, wie Meister und Novizen Schachpositionen erinnern. Meister merken sich nicht jede einzelne Schachfigur, sondern größere zusammenhängende Einheiten, die als “Chunks” bezeichnet werden. Das Wissen der Meister unterscheidet sich sowohl quantitativ als auch qualitativ von dem der Novizen. Sie verfügen über mehr Faktenwissen und greifen effizienter darauf zu.

Bedeutung für Schule und Unterricht

Die Studie hebt die Tatsache hervor, dass die Methoden der Informationsaufnahme und -verarbeitung domänenspezifisch sind und nicht einfach auf andere Bereiche übertragen werden können. Die Annahme, dass Schüler:innen allgemeine Kompetenzen erwerben oder allgemeine Methoden des Wissens- und Kompetenzerwerbs lernen können, wird in Frage gestellt. Stattdessen können nur metakognitive Strategien vermittelt werden, um kritisches Denken zu fördern. Es wird betont, dass Expertenwissen sich qualitativ von Anfängerwissen unterscheidet und Lernprozesse und -strategien je nach Wissensstand unterschiedlich funktionieren.

Limitationen und weitere Forschung

Die Studie hatte einige Limitationen aufgrund ihrer kleinen und spezifischen Stichprobe, was bedeutet, dass die Ergebnisse nicht endgültig sind. Die Forscher verwiesen auch auf weitere Untersuchungen, wie diejenige von Chi, Feltovich und Glaser (1981), die die Grundlagen der Expertise in einem pädagogischen Kontext erforschen. Diese Studie befasste sich damit, wie Erstsemester im Gegensatz zu Doktoranden physikalische Problemstellungen auf der Grundlage der Ähnlichkeit kategorisieren und bot weitere Einblicke in die Natur von Expertenwissen und Lernprozessen.

Podcastfolge

Literatur

Chi, M. T., Feltovich, P. J., & Glaser, R. (1981). Categorization and representation of physics problems by experts and novices. Cognitive Science, 5(2), 121-152. 

  • Studie zu Grundlage der Expertise in einem pädagogischen Kontext
  • Wie kategorisieren Erstsemester im Gegensatz zu Doktorand: innen physikalische Problemstellungen auf der Grundlage der Ähnlichkeit? 

→ Fortgeschrittene Physiker abstrahierten zunächst physikalische Prinzipien, um sich dann einer Problemdarstellung zuzuwenden und diese dann zu lösen

→ Anfänger stützen Darstellung und Lösungsansätze auf oberflächliche Merkmale des Problems  

Taconis, R., Ferguson-Hessler, M.G.M., and Broekkamp, H., (2001). Teaching science problem solving: An overview of experimental work. Journal of Research in Science Teaching, 38(4), 442-468.

  • Meta-Studie zu Problemlösefertigkeiten 

→ Ansätze waren wirksam, wenn sie sich auf den Aufbau komplexer, integrierter Wissensgrundlagen konzentrierten 

→ Ansätze, die sich ausschließlich auf die Vermittlung von wissensunabhängigen Strategien konzentrierten, hatten geringe Effekte

Wilke, M., Depaepe, F., & Van Nieuwenhuyse, K. (2022). Fostering Historical Thinking and Democratic Citizenship? A Cluster Randomized Controlled Intervention Study. Contemporary Educational Psychology. 102115.

  • Studie zu Vermittlung von kritischem Denken: Untersuchung der Effekte zu einer Unterrichtsreihe zu historischem Denken

→ Schüler:innen wurden durch Unterricht besser darin historische Fakten zu recherchieren und einzuordnen 

→ keine Veränderungen ihres Demokratieverständnisses (kein Transfereffekt)



1 Kommentar

  1. Man könnte die Erkenntnis der Studie vielleicht auch so interpretieren, dass wir als Menschen einfach sehr gut darin sind, wiederkehrende Muster zu erkennen und sich zu merken. In echten Schachpositionen stecken eben auch wiederkehrende Muster, die in beliebigen Schachpositionen so nicht oder viel seltener auftauchen.

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