Jede Zeit hat ihre eigene (progressive) Didaktik. Wer sich zu ihr bekennt, kann sich und seinen Unterricht als zeitgemäß beurteilen. Alle anderen sind dann entweder altbacken oder auf dem Weg; oder sie sollen und müssen sich auf den Weg machen. Diese Einteilung hat per se nichts Schlechtes, im Gegenteil. Impulse für eine neue Didaktik vermischt mit dem schon Bestehenden machen Bildung und deren Prozesse flüssig, was ob einer sich in stetigem, schnellen Wandel befindlichen Zeit unerlässlich erscheint. Problematisch wird es, wenn bestimmte Schlagworte zu Axiomen werden, die dann wieder, teilweise völlig subjektiv, zu den „wahren“ Pfeilern von Bildung gemacht werden. Einige Anmerkungen.
Die gespaltene Community
Ob man nun das, worüber sich diejenigen Lehrer, die auch in ihrer Freizeit gerne mit ihrem Handy spielen oder über es Kultur erfahren, „digitale Bildung“, „Bildung in einer digitalisierten Welt“ oder „zeitgemäßes Lernen“ nennt – die Frontlinien, die sich zeigen, werden schnell deutlich und (man möge die Gruppierungen erweitern) zeigen sich in vier groben Gruppierungen (die Namensgebung sauge ich mir aus den Fingern).
Die Ablehner halten nichts von digitalen Geräten, Tools und Methoden in der Schule. Vielmehr ist dazu nicht zu sagen.
Die technischen Formalisten haben so lange nichts gegen digitale Bildung, wie sich mit ihr die schon bestehenden Muster reproduzieren lassen. Die Herangehensweise an Bildung, Didaktik, Unterricht bleibt bestehen, nur die Plattform ändert sich. An diese Kategorie kann die Verlags- und Techniklobby am besten anknüpfen, da die Herausforderung, nach „altem Muster“ überprüfbare Inhalte zu erstellen, überschaubar scheint.
Die Gruppe der moderaten Integrierer (zu denen ich mich zähle), versuchen, Kompetenzziele, wie sie im Bildungsplan stehen, kulturelle Inhalte und politische Strömungen so mit der digitalen Sphäre zu koppeln, dass aus der Reibung der beiden Teile Vorteile erwachsen. Die Rolle des Lehrers bleibt dabei jedoch die der vermittelnden Lehrperson.
Die radikalen Digitalisten verfolgen eine völlige Neuorientierung des Wissens, der Bildung und aller an der Bildung Interessierten und in ihren Institutionen Mitwirkender. Sie sehen sich als Ebner neuer Wege, die weg von vorgegebenen Inhalten führen und hin zu kollektiven, kollaborativen, kreativen und kritischen Kommunikationsformen. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass diese Gruppe auch dann eine andere Bildung fordern würde, wenn das Digitale noch nicht so ausgeprägt wäre. Grundlegend ist der Wunsch nach einer Veränderung der Bildung vom Horizontalen ins Vertikale, was natürlich insbesondere das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler betrifft (Bisher sind mir dazu kritische Beiträge jedoch unbekannt).
Aus der letztgenannten Community erfolgen zahlreiche fruchtbare Impulse.
Das 4K-Modell des Lernens
Visualisierung des Frameworks von P21, Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/4K-Modell_des_Lernens
Das vom Medienexperten Philippe Wampfler auf Wikipedia zusammengetragene 4K-Modell des Lernens kann man wohl als den Grundpfeiler – oder die 4 Grundpfeiler – der radikalen Digitalisten sehen. Hier einige – für diesen Artikel – grundlegende Informationen (aus dem Wikipedia-Artikel):
- Die 4C gehen auf die Partnership for 21st Century Learning (P21) zurück, das ist eine US-amerikanische Non-Profit-Organisation, in der sich Wirtschaftsvertreter, Bildungsfachleute und am Gesetzgebungsprozess Beteiligte seit 2002 für die Bildung in einem digitalen Kontext einsetzen.
- P21 geht davon aus, dass diese Fertigkeiten in Arbeitsumgebungen des 21. Jahrhunderts besonderes Gewicht erhalten. Jedem der vier Ks ist ein eigenes Forschungsdossier gewidmet.[4]
- Die 4K stellen (...) eine Reaktion auf die Wissensarbeit in digitalen Kontexten dar.
Für den deutschen Bildungsbereich ist gerade der in dem Artikel folgende Verweis auf die Bildungsforscherin Lisa Rosa besonders wichtig, die drei Gründe für die Orientierung hin zu den 4K liefert:
- Immer mehr Arbeiten werden von Maschinen übernommen.
- Jede neue Arbeit verlangt mehr komplexes Denken, situierte selbstverantwortliche Entscheidungen und Beziehungsfähigkeit.
- Die zu lösenden gesellschaftlichen Probleme sind so komplex, dass sie nur noch mit kollektiver Intelligenz bearbeitbar sind.
Kritik
Teile der Kritik an den 4K richten sich zum einen darauf, ob Wirtschaftsorganisationen „derart prägend in die Formulierung neuer Lehr-Lernkonzepte“ eingreifen sollten. Auch Lisa Rosa nimmt dieses Problem in den Blick, wenn Sie davor warnt, den Bildungslobbyisten in diesem Zusammenhang zu viel Einflussmöglichkeiten einzuräumen.
Insgesamt zeigt sich jedoch gerade bei Rosa, dass das Konzept in einen (nötigen) didaktischen Zusammenhang gerückt wird (der hervorragende Artikel „Welche digitale Bildungsrevolution wollen wir?“ unternimmt diese Kontextuierung, und zwar nicht nur innerhalb eines institutionellen, sondern eines übergeordneten kapitalismuskritischen Rahmens), der im Umkehrschluss eine flache Verwendung der Begriffe als Legitimation alles Digitalen von Vornherein ausschließt.
In einer durch Fettdruck von ihr als zentral markierten Passage, schließt sie die Forderung nach der Übernahme der 4K durch die an der Bildung Beteiligten mit einer Forderung an die Beteiligten selbst:
Diese neuen Lernziele sind die neue Stufe des Humboldt, ein Humboldt 2.0 sozusagen – und wir müssen ihre Umsetzung als Meilenstein auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft einfordern und ihre Reduktion auf dieselbe ökonomische Verzweckung durch den Kapitalismus bekämpfen, die schon im 19. Jh. die Humboldtschen Vorstellungen ereilt hat. Dazu müssen wir zeigen, wie.
Bei der Beantwortung der Frage geht es ihr darum,
ob die Menschen lernen, sich weltweit zu vernetzen und diese Vernetzung für die eigenen persönlichen und zugleich der Emanzipation Aller dienenden Ziele zu nutzen.
In einer Gegenüberstellung zeigt sie, welche (wie sie selbst sagt) gar nicht so neuen Ideen umgesetzt werden müssten, um diese übergeordneten Ziele zu erreichen. Weiter bedeutet dies für Rosa eine Umorientierung hin zu einer Anleitung zu Autodidaktik, Überwindung von Fächerorganisation und Individualisierung an den persönlichen Sinn eines jeden Einzelnen (dies alles ist stark verkürzt und sollte bei Interesse nochmals im Originalartikel nachgelesen werden).
Teil des „ideellen Überbaus“ in Anlehnung an Giesecke, Lisa Rosa, Welche digitale Bildungsrevolution wollen wir?
Anmerkungen
Vieles von dem, was bei Lisa Rosa und anderen beschrieben wird, finde ich ungeheuer spannend. Die Probleme, die ich im Diskurs sehe, beziehen sich auf zwei Dinge:
- Die Totalität der Grundannahme von guten und schlechten Prozessen.
- Die flache Verwendung der Begrifflichkeit samt Loslösung von der eigentlichen Wurzel.
Um den ersten Punkt kurz zu umreißen, lohnt es sich, in die bestehende Geschichtsdidaktik zu schauen. Dort wurde und wird immerzu (zumindest vor ein paar Jahren und innerhalb des Freiburger Seminars – der Föderalismus lässt keine Pauschalisierung zu) Problemorientierung und –bewusstsein, Urteilsfähigkeit und das Wissen um die Konstruktion von Geschichte gefordert, also wenn man so will, eine Dekonstruktion bestehender Hermeneutik. Das ist spannend, nachvollziehbar und würde, ganz im Sinne einer fächerübergreifenden Didaktik, eine medienkritische Perspektive fördern, die nicht nur diachron, sondern auch synchron angewendet werden kann, nur:
Was man dekonstruieren will, muss man konstruiert haben.
Es wäre falsch, nun eine sukzessive Kritik an der Gegenüberstellung von Industrie- und Digitalzeitalter zu unternehmen, nur um Situationen zu kreieren, in denen die eine oder die andere Grundannahme stimmt.
Trotzdem fehlt mir in der Diskussion um die Umorientierung (so wie ich sie verstehe), die Substanz, das Greifbare, der Inhalt. Und zwar ganz und gar so normativ, wie es sich anhört. Dies geht in die Richtung, die in vielen Fächern die Kritiker der Kompetenzorientierung angeführt haben. Wenn Kompetenz losgelöst vom Inhalt ist, dann ist zwar die Fähigkeit eines Prozesses und/ oder einer Methode im besten Falle auf alles anwendbar, aber die Essenz, der Kern der Schlussfolgerung bleibt willkürlich.
Mit anderen und auf ein konkretes Beispiel bezogen: Man kann die (nachträgliche) Selbstverleugnung von Menschen unter kollektiven Zwangssystemen durchaus anhand anderer Quellen analysieren als denen von KZ-Aufsehern in den Nürnberger Prozessen (ein konstruiertes Beispiel). Aber die (auch ex negativo) sinn- und identitätsstiftende Wirkung einer solchen Beurteilung würde nicht gewährleistet werden können.
Ergo:
- Das geforderte System geht von einer Zeitlosigkeit aus, die zwar Zukunft miteinschließen kann (was es soll, um nicht im Vergangenen zu verharren), aber Vergangenheit ausschließt.
- Das System geht vom idealen Lerner aus, der unter (natürlich auch utopischen) Bedingungen, die sein eigenes Lernen in idealer Weise fördern, auch tatsächlich all das umsetzt, was (trotzdem) von ihm gefordert wird.
- Die Entscheidung, was für den persönlichen Wert/ Nutzen/ Gebrauch wichtig ist, ist in diesem System dem Lerner in solch einer drastischen Weise selbst überlassen, dass er/sie sich zur totalen Kulturverweigerer*in morphen könnte.
Die persönliche Erfahrung leitet oft fehl und ist natürlich abhängig von den gegebenen Umständen; dennoch erfahre ich beispielsweise das gemeinsame Lesen und diskutieren von deutscher oder englischsprachiger Literatur für die Schülerinnen und Schüler auf vielen Ebenen als bereichernd. Gerade und insbesondere auch dann, wenn zuvor und während des Lesens Widerstände gebrochen werden müssen, die sich erst nach und nach mit der Erfahrung der eigenen Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen oder eine schwierige Personenkonstellation zu überblicken, legen. Auch „zwinge“ ich Schüler*innen zum Auswendiglernen von Jahreszahlen, teilweise von epochenspezifischen Merkmalen oder ähnlichem. Und das nicht, weil ich den Gedanken an ein Gespräch auf dem Balkon, ohne dass jemand Google zur Hand hat, so liebreizend finde (was ich tue); sondern weil die Konstruktion eines Wissensnetzwerks Hand in Hand gehen muss mit der kritischen Beurteilung. Ob dafür nun normative Inhalte notwendig sind, bleibt diskussionswürdig. Ich meine, ja.
Der zweite Punkt ergibt sich durch das Vorangegangene. Wenn Grundpfeiler eines Systems wie dem der 4K im besten Fall das absolut reine Destillat, der absolute Kern eines Gedankensystems darstellen, muss dieses im besten Falle mitgedacht werden: Und genau das passiert nicht.
Die Dekontextuierung der 4K, wie sie in den Sozialen Medien (nach meiner Einschätzung) oft verstanden wird, verdeutlicht ironischer Weise genau den Kern der ausgeführten Kritik. Da kann dann jeder „für sich“ entscheiden, was „kritisch“ ist, ob „Kritik“ dasselbe ist und inwieweit eine genutzte Unterrichtsmethode nun „Kritik“, „Kritikfähigkeit“ oder „kritisches Denken“ gefördert oder gefordert hat (Nutzung der Phrase intended).
Schlimmer noch: Zusammen mit der oben genannten totalitären Einteilung in die Dichotomie zwischen industriellem und digitalem Lernen sorgt dies dafür, dass jeder mit den richtigen Kampfbegriffen entscheiden kann, wer dazu gehört und wer nicht; wer außen ist und wer innen; wer es verdient, „guter Lehrer“ genannt zu werden und wer nicht; wer im schlimmsten Falle demokratiefeindlich ist und wer nicht.
Der Diskurs bleibt für mich spannend und oftmals gehen von ihm Impulse aus, die für eine persönliche Reflexion und im besten Fall zumindest experimentelle Neuorientierung sorgen. Aber ich sehe auch die Gefahr, die er birgt. Diese wollte ich mit diesen Anmerkungen zum Ausdruck bringen.
Wie "zeitgemäßes Lernen" aussehen kann, dass sich an Bestehendem und Entstehendem orientiert, kann man hier nachlesen.