Über einen Tweet von Dennis Hauk, Erziehungswissenschaftler der Uni Jena, wurde ich aufmerksam auf eine Studie zu offenem Unterricht, die ich sehr interessant fand. Ich fragte also nach, ob die Möglichkeit für eine Veröffentlichung in der Form eines Blogbeitrags bestünde. Diesen Beitrag kann man nun an dieser Stelle nachlesen. Ich bedanke mich bei Herrn Hauk für die Kooperation.
Offener Unterricht = Guter Unterricht?
Eine systematische Untersuchung internationaler Studien zeigt, wie mehr Eigenverantwortung und Mitbestimmung im Unterricht das Lernen verändern können.
Was ist besser: Offener Unterricht oder der traditionelle Frontalunterricht? Diese Frage treibt nicht nur Lehramtsstudierende in ihrem Studium um, sondern beschäftigt auch viele Eltern, Schulleitungen und die Bildungspolitik. Derzeit erhält die Diskussion um das Lernen im offenen Unterricht wieder eine große öffentliche Aufmerksamkeit, weil ein Teil der Medienlandschaft ein individualisiertes und adressatenorientiertes Lernen als vermeintliche Hauptursache für das schwache Abschneiden von Grundschülerinnen und Grundschülern im aktuellen Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) ausgemacht hat.
Diese Pendelbewegung, in der der offene Unterricht mal als pädagogischer Heilsbringer, mal als pädagogischer Sündenfall eingeschätzt wird, konnte man in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder beobachten. Seit den Ursprüngen der Reformpädagogik im ausklingenden 19. Jahrhundert gibt es Kritik an einem zu „schülerfreundlichen“ Lehren und Lernen. Gegner dieser Richtung kritisieren insbesondere einen vermeintlichen Verlust der klassischen, humanistischen Allgemeinbildung und tradierter Erziehungsideale. Dieser Position widersprechen Vertreterinnen und Vertreter der Reformpädagogik jedoch vehement. Nach ihrer Meinung sei die Hinwendung des Unterrichts zum Lernenden der einzig wahre Weg, um ein bedeutsames und selbstständiges Lernen zu ermöglichen. Denn was könnte schließlich relevanter und lebensvorbereitender sein als das Verfolgen eigener Interessen und Ziele ohne den – vermeintlich – störenden Einfluss einer außenstehenden Lehrperson?
Die Hoffnung darauf, dass dieser pädagogische Richtungsstreit durch den Aufschwung der empirischen Lehr-Lernforschung zu Beginn der 1980’er geklärt werden könne, war groß. Wenn man sich allerdings die Ergebnisse der bisherigen Forschung anschaut, dann muss man mit einiger Ernüchterung feststellen, dass durch den Fokus der Unterrichtsforschung auf den instruktionsorientierten Lehrgangsunterricht so gut wie keine belastbaren Erkenntnisse vorliegen, die spezifisch Auskunft über die Wirkung und Gestaltung des offenen Unterrichts geben. Nicht einmal John Hattie konnte in seiner allseits bekannten Metastudie eine zufriedenstellende Antwort liefern. Das hat einerseits forschungsmethodologische Ursachen (siehe hierzu den lesenswerten Beitrag von Falko Peschel), andererseits liegt es auch am Forschungsgegenstand selbst. Denn von welcher Art Unterricht sprechen wir, wenn wir von offenem Unterricht sprechen? Ist es ein Unterricht, in dem Schülerinnen und Schüler mit individuellen Wochenplänen arbeiten? Ist es ein Unterricht, in dem Schülerinnen und Schüler vornehmlich an Gruppenarbeitsplätzen, in jahrgangsübergreifenden Klassen mit Selbstlernmaterialien lernen? Oder ist mit offenem Unterricht schon jede Art der differenzierten Unterrichtsgestaltung gemeint?
Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen konzeptionellen Zugänge wird schnell ersichtlich, dass es unter Forschungsgesichtspunkten nicht zielführend ist, sich dem offenen Unterricht nur an der Oberfläche im Sinne einer fest etablierten Unterrichtsform zu nähern. Wesentlich entscheidender sei, so der Bildungswissenschaftler Thorsten Bohl in einem wichtigen Beitrag, die für den offenen Unterricht konstitutiven Mikroprozesse und Strukturmerkmale stärker in den Blick zu nehmen. Zu diesen Merkmalen gehören beispielsweise das kognitive Aktivierungspotenzial der häufig zum Einsatz kommenden Selbstlernmaterialien, die didaktische Rahmung und Begleitung der Lernaufgaben, die Effektivität der zur Reflexion einladenden Lernportfolios oder die Wirkung so genannter Klassenräte auf das Klassenmanagement einer Lerngruppe.
Was untersucht wurde
In unserer Studie zum offenen Unterricht sind wir dem Rat von Thorsten Bohl gefolgt und haben unter dem Begriff der Schülermitbestimmung ein konkretes Strukturmerkmal des offenen Unterrichts genauer in den Blick genommen. Konkret ging es darum zu erforschen, wie sich das Lernen und die Motivation von Schülerinnen und Schüler verändert, wenn sie – im Sinne einer Unterrichtsöffnung – ein didaktisches und methodisches Mitspracherecht an der Gestaltung des Unterrichts erhalten. Macht es beispielsweise einen Unterschied, ob die Lehrperson das heutige Stundenthema auswählt oder die Lernenden selbst? Ist es für das Lernen und die Motivation von Schülerinnen und Schülern förderlich, dass sie sich selbst ihre Lernzeit einteilen können, über den Lernort entscheiden oder selbstausgewählte Lernmaterialien benutzen?
Betrachtet man das zentrale Ergebnis unserer Untersuchung, dann zeigt sich zunächst ein altbekanntes Bild, das die bisherigen Forschungsbefunde zum offenen Unterricht auf den ersten Blick zu bestätigen scheint. Im Kern lautet unser Befund: Ein offener Unterricht, in dem die Lernenden ein Mitbestimmungsrecht in Fragen der Unterrichtsgestaltung erhalten, besitzt einen positiven Effekt auf die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern, er hat aber keinen nachhaltigen Einfluss auf das Erreichen kognitiver Ziele (z. B. das Verstehen von Inhalten oder das Memorieren von Fakten).
Hintergrundinformation und Beispielstudie: Die Untersuchung basiert auf der systematischen Auswertung und der statistischen Analyse von 20 empirischen Einzelstudien (vor allem aus den USA und Deutschland), die in einem quasi-experimentellen Design eine oder mehrere Lerngruppen miteinander verglichen haben – einmal unter der Bedingung, dass die Lernenden über die didaktische und methodische Gestaltung des Unterrichts mitentscheiden durften und einmal ohne diese Option. Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden hierfür unter möglichst realen Bedingungen in Klassen oder Seminaren an Primar-, Sekundar- und Hochschulen unterrichtet. In einer Studie von Katrin Bätz, Ludmilla Beck, Laura Kramer, Jessica Niestradt und Matthias Wilde (2015) wurde beispielsweise mittels eines Prä-Posttest-Designs der Wissenserwerb und Motivation von bei 96 Realschülerinnen und Realschülern der fünften Jahrgangsstufe analysiert. Die Schüler der Versuchsgruppe erhielten in dieser Studie die Möglichkeit über Inhalt und Methoden einer vierstündigen Unterrichtssequenz im Fach Biologie abzustimmen. Die Schüler der Kontrollgruppe erhielten denselben Unterricht ohne diese Mitbestimmungsmöglichkeit. Im Ergebnis waren der Wissenszuwachs und die intrinsische Motivation der Versuchsgruppe am Ende der Lerneinheit signifikant erhöht. |
Das Ergebnis der im Infokasten beschriebenen Beispielstudie zeigt deutlich, dass man bei der Interpretation unseres Ergebnisses mit Pauschalaussagen zur Wirkung der Schülermitbestimmung im Unterricht vorsichtig sein sollte. Trotz einer sorgfältigen und systematischen Recherchearbeit ist das Design der in der Studie enthaltenen Unterrichtsvergleiche stark heterogen. Das zeigt sich am besten am Faktor der Lernbegleitung: Nur in einem Bruchteil der von uns herangezogenen Studien standen den Schülerinnen und Schülern im offenen Unterrichtssetting eine Lehrkraft unterstützend zur Seite. Mehrheitlich erhielten die Lernenden nur wenig Hilfe oder schlimmer noch: sie wurden bei der selbstgesteuerten Arbeit (z. B. beim Umgang mit Schülerexperimenten) allein gelassen. Das in einem solchen Untersuchungsdesign ein lehrergesteuerter Unterricht besser als ein offener Unterricht abschneidet, scheint an dieser Stelle daher nur wenig überraschend.
Relevant für die Einordnung unseres Ergebnisses ist darüber hinaus ein weiterer Befund, der erst in der differenziellen Nachuntersuchung der Einzelstudien zu erkennen war: Nicht alle Mitbestimmungsräume im Unterricht wirken sich gleichermaßen auf das Lernen von Schülerinnen und Schülern aus. Überwiegend positive Effekte scheinen sich insbesondere bei inhaltlichen Entscheidungsfragen einzustellen, z. B., wenn Schülerinnen und Schüler wie in der oben skizzierten Beispielstudie im Unterricht über ein Stundenthema, inhaltliche Vertiefungsbereiche oder Wahlaufgaben (mit-)entscheiden dürfen. Eine Öffnung des Unterrichts in methodischer Hinsicht (z. B. beim eigenverantwortlichen Umgang mit physikalischen Schülerexperimenten) scheint demgegenüber für das fachliche Lernen und die Lernmotivation eher hinderlich zu sein.
Quo vadis offener Unterricht?
Zusammenfassend sind aus der Forschungsperspektive vor allem zwei wesentliche Punkte für die Weiterentwicklung des offenen Unterrichts relevant. Hierzu gehört (1) die Erkenntnis, dass sich die Qualität offenen Unterrichts letztendlich weniger am Grad (viel/wenig), sondern stärker an den spezifischen Typen der Unterrichtsöffnung (organisatorisch, inhaltlich, methodisch, etc.) entscheidet. (2) ist es mühselig und wenig erkenntnisreich, eine Entscheidung über die Qualität von Unterricht ausschließlich am Unterrichtsformat (offen vs. geschlossen) festmachen zu wollen. In beiden Fällen gibt es sowohl lernförderliche als auch lernhemmende Umsetzungsvarianten in der Praxis. Zentraler scheint vielmehr die Frage, wie beide Formate sich gegenseitig ergänzen können und welche Qualitätsmerkmale der jeweilige Unterricht in seiner Tiefe aufweisen muss, um auch wirklich lernwirksam zu sein. Als mögliche Reflexionspunkte eignen sich dabei Fragen wie zum Beispiel: Aktivieren die bereitgestellten Lernmaterialien/-fragen meine Schülerinnen und Schüler kognitiv, damit sie sich in der Tiefe mit dem Lerninhalt auseinandersetzen? Führt die Unterrichtsstruktur zu einem hohen Maß an aktiver Lernzeit? Werden zusätzliche Unterstützungsstrukturen für hilfesuchenden Schülergruppen bereitgestellt?
Quellenangabe zur Studie
HAUK, D., & Gröschner, A. (2022). How effective is learner-controlled instruction under classroom conditions? A systematic review. Learning and Motivation, 80, 101850. https://doi.org/10.1016/j.lmot.2022.101850
Über
Dr. Dennis Hauk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) und Habilitand am Lehrstuhl für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er studierte die Fächer Geschichte und Sozialkunde für das Lehramt an Gymnasien (1. und 2. Staatsexamen) und arbeitete neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer. Seine Forschungsinteressen liegen im Feld der empirischen Unterrichtsforschung (u.a. zum eigenverantwortlichen Unterricht und zur lernförderlichen Kommunikation & Interaktion im Unterricht) und der Professionalisierung von Lehrpersonen (u.a. im Bereich der Fort- und Weiterbildungsforschung). Weitere Informationen gibt es hier: https://www.teach.uni-jena.de/team/mitarbeiterinnen-und-mitarbeiter/dr-dennis-hauk
Kontakt
Dr. phil. Dennis Hauk
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Erziehungswissenschaft
Lehrstuhl für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung
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