UNTERRICHT: Kafkas „Der Verschollene“ – Themen und Deutungsansätze

Bob Blume
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20. Juli 2022
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Franz Kafkas „Der Verschollene“ ist im nächsten Abitur Teil des sogenannten Werkvergleichs. Das ist, das muss man so sagen, ein Brett, da Kafka sowieso schon nicht leicht zu lesen ist, dieses Werk aber mehrere hundert Seiten umfasst. Wenngleich es Lektüreschlüssel und Lehrerbände gibt, fokussieren diese doch nicht auf das eigentliche Aufgabenformat – eine literarische Erörterung als Vergleich. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle einige unvollständige Deutungsansätze vorstellen, die sich aus dem Gespräch mit meinem kritischen Kurs ergeben haben. Alle Angaben sind ohne Gewähr. Damit ist auch gemeint, dass die hier vorgeschlagenen Themen und Deutungsansätze nicht von Literaturwissenschaftlern stammen, sondern aus dem gemeinsamen Gespräch entstanden sind. Die Ansätze sind unter Schlagworten zusammengefasst, die gleichsam als Orientierungspunkte zu sehen sind.

Zusammenhangslosigkeit

Beim ersten Lesen erscheint der Roman zusammenhangslos. Das hat zwei Gründe: Zum einen handelt es sich um ein Fragment, das nicht fertiggestellt wurde. Die letzten Episoden machen dies deutlich, indem beispielsweise Figuren wie „Fanny“ wiedererkannt werden, die Lesenden diese aber noch gar nicht kennengelernt haben.

Zum anderen ist diese Zusammenhangslosigkeit aber nur eine scheinbare. Sie spiegelt die Orientierungslosigkeit einer in den sozialen Abgrund taumelnden Figur wider, die selbst oft nicht weiß, wie ihr geschieht. Damit sind die Episoden zwar lose miteinander verknüpft – aber sie bleiben verknüpft, beispielsweise dadurch, dass die Struktur des Romans immer wieder zwischen Übergängen, Konflikten und Phasen scheinbarer Ruhe wechseln.

Autonomie vs Heteronomie

Autonomie bezeichnet Selbstständigkeit, also die Fähigkeit, in Situationen aufgrund der eigenen Möglichkeiten zu entscheiden. Heteronomie ist das Gegenteil. Es ist die Abhängigkeit von Personen oder Dingen. Eine Frage, die schwer aufzulösen ist, und eben damit als Motiv den gesamten Roman bestimmt, ist jene, die Karl Rossmann autonom handelt oder Spielball des Geschehens ist. Für die zweite Alternative spricht, dass er immerzu auf dem unteren Ende der hierarchischen Leiter ist. Und dies wiederum ergibt sich aus seinem Amerikaaufenthalt. Aus dieser Perspektive beginnt der Weg in den sozialen Abgrund, an dessen Ende er ein namenloser „Negro“ wird also schon mit Beginn seiner Amerika-Reise, weil er es nie schafft, sich von den Personen, die ihn vereinnahmen, zu lösen.

Auf der anderen Seite muss man bedenken, dass Karl es beispielsweise bei den beiden Landstreichern Robinson und Delamarche schafft, sich zu emanzipieren und diese zunächst zurückzulassen. Das spricht also für Karls Möglichkeit und dafür, dass er in den entscheidenden Momenten die Möglichkeiten, die er hat, nicht zu nutzen weiß.

Ungerechtigkeit

Je nachdem, wie man die Frage nach Autonomie beantwortet, fällt auch die Sicht auf die Frage nach Ungerechtigkeit aus. Die von Kafka gezeichnete amerikanische Gesellschaft ist allein aufgrund ihrer strengen hierarchischen Ordnung zweifelsohne ungerecht. Dies sieht man in besonderer Weise an der Funktionsweise des Hotels Okzidental. Auf der anderen Seite haben die dort befindlichen Figuren immer die Möglichkeit des Aufstiegs. Gerade die Nicht-Wahrnehmung dieser Möglichkeiten macht Karls Abstieg so schmerzlich, da vor dem Scheitern immer ein ungenutztes Potenzial hervorschimmert.

Schuld

Eng mit der Frage danach, inwiefern Karl autonom handeln kann, ist auch die Frage nach Karls Schuld. Während die Literaturwissenschaft vorgibt, dass Karl zu keiner Zeit in Gänze schuldig ist (er wird weggeschickt, obwohl er quasi vergewaltigt wurde, er wird vom Onkel im Stich gelassen, obwohl er ihm erlaubt zu gehen etc.) kann man eine Schuld von Karl auf eben jener Grundlage annehmen, dass es Momente gibt, in denen er a) reflektiert, was um ihn herum passiert und b) auch dementsprechend handelt. Damit wäre er zumindest teilschuld an seinem stetigen sozialen Abstieg.

Anti-Bildungsroman

In einer genrespezifischen Lesart kann „Der Verschollene“ als Anti-Bildungsroman gelesen werden – eben wegen jenes stetigen sozialen Abstiegs. Unter einem Bildungsroman versteht man – grob vereinfacht – einen Roman, der den Weg eines jungen Menschen zum Erwachsensein skizziert und der dabei durch herausfordernde Stationen charakterlich wächst. Karl Rossmann wächst nicht in dieser Weise. Auch wenn sich interpretieren ließe, dass er dazulernt, bleibt er doch oftmals die naive Figur, die sich ausnutzen lässt und die ihr Schicksal allzu oft in die Hände ihrer Mitmenschen legt. Da Rossmann dies tut, steigt er nach und nach die soziale Treppe hinab. Dies kann auch als Gegenteil dessen gesehen werden, was einen Bildungsroman normalerweise ausmacht.

Sowohl was die Figur, deren (fehlende) Entwicklung und die Handlung angeht, kann „Der Verschollene“ also als das Gegenteil eines typischen Enwicklungsromans gesehen werden.

Figuren-Konstellation

Karl Rossmann ist als Figur von anderen Figuren abhängig und pflegt keine gesunde, zwischenmenschliche Beziehung. Aus dieser Abhängigkeit heraus entwickeln sich Konflikte, die zu Rossmann Verstoßung führen. Beispiele dafür gibt es viele: Schon Rossmann Verstoßung durch seine Eltern für eine Sache, die er nachweislich nicht verschuldet hat, kann als Beispiel für eine solch fehlende Beziehung und eine Bestrafung durch eine Autorität gesehen werden. Im weiteren Verlauf sind die Beziehungen zu weiteren Figuren (Robinson, Delamarche, die Oberköchin, Brunelda etc.).

Ödipus-Komplex

Aus der Abhängigkeit ergibt sich eine psychoanalytische Deutungsperspektive, die sich anhand von Freuds Instanzenmodell oder dem Ödipus-Komplex verdeutlichen lassen kann. Im Instanzenmodell ist das Ich die Figur selbst, Karl, der getrieben ist von unbewussten Trieben (Es), die sich durch weitere Figuren verdeutlichen lassen (Stubenmädchen). In diesem Modell ist der Vater, der ihn fortschickt, das Über-Ich. Gleichzeitig kann aber auch die Gesellschaft des fremden Amerikas als Über-Ich gesehen werden, also als Figuration der unbekannten Normen, die unter anderem für den stetigen Abstieg des Protagonisten sorgen.

Das ödipale Dreieck aus Vater, Mutter und Sohn lässt sich nicht nur auf die zuvor beschriebene Konstellation anwenden (in der das Dienstmädchen aus psychoanalytischer Sich die Mutter repräsentiert), sondern auch in weiteren Konstellationen des Romans (Mack als Vater, Klara als Mutter, Delamarche als Vater, Brunelda als Mutter). Diese Deutung darf aber nicht zu eng durchgeführt werden, um den literarischen Handlungsfortgang nicht ausschließlich auf diese modellhafte Sicht zu reduzieren.

Fazit

Karl Rossmann ist in einer ständigen Zwangslage und in Dilemmata, die er nicht auflösen kann. Zwar werden diese scheinbar weniger komplex, dies hat aber damit zu tun, dass mit seinem sozialen Abstieg auch die Entscheidungsfähigkeit verloren geht. Mit anderen Worten: Während Karl als Diener für Brunelda – man muss sagen „missbraucht“ wird, hat er weniger Möglichkeiten sich für eine andere Option zu entscheiden als zu Beginn, als er entweder mit dem Onkel mitgehen oder beim Heizer bleiben kann.

Aus der Zwangslage einer anderen Kultur, Figuren, die ihre höhere Stellung ausnutzen und einem Reflexionsdefizit in den entscheidenden Momenten, stürzt Karl Rossmann als Hauptfigur förmlich die soziale Leiter herab. Innerhalb dieses Absturzes werden, wie deutlich geworden ist, Fragen nach Abhängigkeit, Autonomie, Gesellschaft, Psyche und dem Erwachsenwerden gestellt.

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