Im Leistungskurs Deutsch bereiten sich die Schüler*innen anhand ihrer eigenen Schwerpunktthemen auf das Abitur vor. An dieser Stelle kann man eine Interpretation der Schülerin Sophia R. lesen, be der ich mich herzlich für die Bereitstellung bedanke. 

Anmerkung

Die Gedichtinterpretation ist – mit Ausnahme einiger marginaler Korrekturen – im Original belassen. Dies gilt auch für jene Punkte, die im gemeinsamen Gespräch als zu verbessern herausgearbeitet worden sind.

  1. Die zentrale Gestalt des titelgebenden Gottes der Stadt als Fluchtpunkt für eine personifizierte Gottheit des überschwänglichen Fortschritts
  2. Einige fehlende Begründungen innerhalb der Analyse
  3. Ein deutlicherer Hinweis auf inhaltliche Schwerpunkte und ein möglicher Diskurs expressionistischer Form am Ende des Gedichts

Da ich der Auffassung bin, dass die Interpretation der Schülerin trotz der bestehenden Verbesserungsmöglichkeiten dennoch ein hohes Niveau aufweist, stelle ich es hier zur Verfügung. Die genannten Punkte können den Leser*innen gleichsam eine Aufgabe für die Weiterarbeit sein.

Gedichtinterpretation

Das 1910 verfasste Gedicht „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym kritisiert die Zerstörung der Natur als Folge der Industrialisierung verbunden mit der entstandenen Abhängigkeit der Menschen an materialistische Orientierungen.

Das expressionistische Gedicht besteht aus 5 Strophen mit jeweils 4 Versen und beinhaltet einen durchgängigen Kreuzreim. Das Metrum ist ein regelmäßiger fünfhebiger Jambus mit Ausnahme von Vers 10. Auffällig sind die Enjambements in den jeweils letzten 2 Versen aller Strophen, bis auf Strophe 5, in der das Enjambement in den mittleren beiden Versen zu finden ist. Diese verdeutlichen die Sprunghaftigkeit der modernen Welt, ausgelöst durch Materialismus und Anonymität der Menschen. Dennoch steht die strenge, einheitliche Form des Gedichts im Kontrast zu seinem vom Chaos dominierten Inhalt. Dies erzeugt zusätzliche Verwirrung und Orientierungslosigkeit.

Die erste Strophe (V. 1-4) beschreibt ein lyrisches Ich, welches aufgrund seiner Position auf einem Häuserblock die Stadt überblicken kann. Dabei blickt es voller Wut in die Ferne, in der noch einige Häuser auf dem Land zu sehen sind. In der zweiten Strophe (V. 5-8) wird die Verehrung des Baal, einem orientalischen Gott, beschrieben, die von viel Lärm und überwältigender Zahl begleitet wird. Auch in der dritten Strophe (V. 9-12) geht es um die lärmende Masse der Stadt, die den Gott fast schon ekstatisch anbetet. Die vierte Strophe (V. 13-16) beschreibt erneut den Zorn des lyrischen Ichs, welches sich in dessen äußerlichen sowie in der zeitlichen und meteorologischen Veränderung widerspiegelt.In der letzten Strophe (17-20) ergießt sich dieser Zorn schließlich zerstörerisch auf die Stadt.

Schon der Titel, in dem die Rede von einem „Gott“ ist, suggeriert die Dominanz und Überlegenheit eines übernatürlichen Herrschers, der auch geographisch höhergestellt ist als die übrigen Menschen der Stadt, da er auf einem „Häuserblocke“ (V.1) sitzt. Dabei wird jedoch lediglich das Personalpronomen „er“ (V. 1) verwendet, was ihn ungreifbar und mysteriös erscheinen lässt.

Dass dieser Gott sehr mächtig ist, zeigt sich auch an dessen Kontrolle über die „Winde“, die um ihn herum wehen (vgl. V. 2). Diese Winde sind allerdings auch durch die Farbsymbolik (vgl. V. 2) Zeichen seiner „Wut“ (V. 3) auf das Gegenbild der ländlichen Gegenden, die kontrastierend zur Stadt dargestellt werden (vgl. V. 3). Diese Gegenden sind geprägt von Einsamkeit und Unberührtheit und werden durch die Personifikation in Vers 4 als orientierungslos erachtet.

Sein Herrschaftsgebiet geht also nicht über die Grenzen der Stadt hinaus, sie ist somit ein abgesonderter Bereich und alles was nicht in diesem Bereich liegt wird als schlecht und fremd erachtet.

Der Gott, der in Vers 5 näher als „Baal“ (V. 5), also einem orientalischen Gott, bezeichnet wird, lässt sich von der Abendsonne, den Bauch bescheinen (vgl. V. 5), während er gleichzeitig von den „großen Städte(n)“ (V. 6) angebetet und verehrt wird (vgl. V. 6). Dabei ist aber nur die Rede von unbestimmten Städten, nicht von den einzelnen Menschen selbst, was die Anonymität und den Verlust der Individualität durch diese fast schon sklavenhafte Anbetung verdeutlicht. Die religiöse Komponente wird auch durch die „Kirchenglocken“ (V. 7), verdeutlicht. Die Zerstörung der Natur wird hier durch Lärmverschmutzung und massenhafte Überwältigung als Folgen der Industrialisierung aufgezeigt, was durch die Metapher in Vers 8 zusätzlich negativ behaftet ist.

Der erneute Bezug zu religiösen, orientalischen Eigenarten in Vers 9: „Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik“ verdeutlicht die chaotische Situation in der Stadt. Es sind zu viele, „Millionen“ (V. 10) Menschen, die Lärm und Unruhe verursachen (vgl. V. 10). Die Stadt ist also etwas, was sich unaufhörlich und unberechenbar ausbreitet. Aber auch der Konflikt zwischen Natur und Industrie wird durch die Inversion „der Schlote Rauch“ (V. 11) und die Metapher „die Wolken der Fabrik“ (V. 11) betont. Auch hier wird deutlich, dass all diese Dinge aufgrund der Verehrung des Gottes Baal geschehen und die eigentlich schädlichen Emissionen „wie Duft von Weihrauch“ (V. 12) reinigend und gut für ihn sind. Da Baal als Symbol der materialistischen Orientierung der Menschen fungiert, drückt sich hier also die für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwendige Zerstörung der Natur aus.

Ab der nächsten Strophe wandelt sich die chaotische, unruhige Stimmung in ein Gefühl aufkommenden Unheils, was sich an der Veränderung des „Windes“ (V. 2) in das gesamte „Wetter“ (V. 13) zeigt. Es sind also nicht mehr nur Winde als Zeichen seines Zorns, sondern schon bedrohliche „Stürme“ (V. 15). Auch die Zeit verändert sich: „Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt“ (V. 14). Das bevorstehende Unheil kommt also immer näher. Auch an Baal selbst wandert der Zorn von seiner „Stirn“ (V. 2) über die „Augenbrauen“ (V. 13) bis sich schließlich sein „Haupthaar (…) sträubt“ (V. 16). Dieser Zorn ist gierig und auf Zerstörung aus, was der Vergleich „wie Geier“  und die Metapher „Stürme flattern“ (V. 15) zeigen.

Dieser Zorn ergießt sich dann schließlich auf die Stadt (Strophe 5). Baal streckt seine, ungewöhnlich als „Fleischerfaust“ (V. 17) beschriebene Hand aus und in Form von „Glutqualm“ (V. 19) spürt die Stadt seinen zerstörerischen Zorn. Die „Fleischerfaust“ (V. 17) drückt einerseits Stärke und Größe aus, andererseits steht sie auch für den Tod, der unweigerlich auf die Stadt zukommt. Dabei jagt ein Meer von Feuer / Durch eine Straße“(vgl. V. 18/19), was durch den unbestimmten Artikel wiederum die selbstverschuldete Unbestimmtheit und Anonymität des Einzelnen verdeutlicht. Die beiden Verben „jagt“ (V. 18) und „braust“ (V. 19) verdeutlichen, dass es unmöglich ist, die kommende Zerstörung aufzuhalten; und auch dass die Straße aufgefressen wird (vgl. V. 20) betont dies. Diese Zerstörung findet innerhalb des Zeitraumes von abends bis morgens statt, also nachts, und symbolisiert daher die Sündhaftigkeit der Menschen in dieser Zeit. Trotzdem wird es wieder „Morgen“ (V. 20), die Stadt wird also nicht komplett zunichte gemacht, sondern die Hoffnung auf einen Neubeginn bleibt bestehen.

Im Gegensatz zu seiner Verehrung als solcher, ist Baal also in keinster Weise ein „Gott“ im ursprünglichen Sinne, sondern ein Gott, der Opfer und Zerstörung fordert. Deshalb steht Baal sinnbildlich für die verzerrten Normen und Werte, die die Stadt beherrschen. Es herrscht dort keine Nächstenliebe oder Vergebung, sondern zerstörerische Wut und chaotische Verhältnisse. Das Leben in der Stadt ist also kein besonders erstrebenswertes oder hoffnungsvolles, vielmehr eine Bedrohung und ein Problem für die Menschen. Sie verlieren dadurch ihre Individualität und werden nur zu einem von vielen. Dass sie diesen Zustand allerdings nicht so einfach ändern können oder wollen, zeigt sich in der kuriosen Verehrung und gleichzeitige Abhängigkeit von „Baal“, durch den ihre materiellen Wünsche erfüllbar werden, was gleichzeitig aber die Zerstörung der Umwelt und ihrer selbst auslöst.

Durch die Industrialisierung bildeten sich zur Entstehungszeit des Gedichts bereits die ersten Großstädte, was zunächst eine hoffnungsvolle Aussicht auf ein gutes Leben bot. Doch die Städte, die sich unaufhörlich ausbreiteten, forderten damit die Zerstörung der Natur durch Lärm- und Umweltverschmutzung. Aber auch gesellschaftlich hatte die Stadt nicht den gewünschten Effekt: Lärm und Überbevölkerung sorgten für zunehmend schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen und auch die sich ausbreitende materialistische Orientierung der Menschen verursachte soziale Abhängigkeit und Anonymität.

Heym greift in seinem Gedicht ein zentrales Thema des Expressionismus auf und bringt die ganzheitlichen Folgen der Verstädterung zum Ausdruck. Er kritisiert die materielle Orientierung des modernen Menschen in einer Welt, die mehr Leid als Glück bringt und die sich der Mensch selbst so erschaffen hat, dass er mittlerweile abhängig ist von seinen Normen und Werten, die schnell zu einem Teufelskreis der Orientierungslosigkeit geworden sind.

3 Kommentare

  1. “Da ich der Auffassung bin, dass das Gedicht der Schülerin trotz der bestehenden Verbesserungsmöglichkeiten dennoch ein hohes Niveau aufweist,”

    die Gedichtinterpretation.

    Danke für die Veröffentlichung (auch an die Schülerin)!

  2. Diese Analyse ist für das Niveau einer Schülerin wirklich hervorragend, solche Schüler wünscht man sich oft sehr gerne selbst. Danke für die Bereitstellung.
    (P.S. oben ist ein kleiner Tippfehler in der Einleitung, es fehlt ein “i”: …”Sophia R. lesen, be der ich mich” )

    Schöne Grüße, Frank

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