Zugegeben: Man muss auch nicht über jedes Stöckchen springen, das momentan medial hingehalten wird. Aber was der ehemalige Staatssekretär und momentane Hochschulprofessor Roland Merten in der Thüringer Allgemeine loslässt, ist eine so schwer zu ertragende Melange aus Ahnungslosigkeit, Pauschalisierung und Populismus, dass man nur von einer fahrlässigen Berufsbeschädigung sprechen kann.
Neben den Aussagen von Herr Merten sehen die öffentlich scharf kritisierten Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), die unter anderem Mehrarbeit für Lehrkräfte vorschlagen, geradezu vernünftig aus.
Es gäbe gar keinen Lehrermangel, so der ehemalige Staatssekretär für Bildung (sic!). Vielmehr habe sich das "System Schule immer weiter mit Stunden vollgesogen, die jedoch nicht in Form von Unterricht bei den zu unterrichtenden Kindern angekommen seien".
Und weiter:
"Vielmehr haben sich die lehrkräfte mit teilweise windigen begründungen durch sogenannte abminderung ihrer dienstlichen aufgaben (...) in einem nicht mehr zu begründenden Umfang entledigt."
Das steht da wirklich! Und weiter heißt es: "Diese Lehrkräfte werden ihrer pädagogischen Verantwortung nicht gerecht." Als Beispiel zieht er hinzu, dass es beispielsweise nicht hinzunehmen sei, dass eine Lehrkraft Ermäßigung dafür enthalte, einen Referendar zu betreuen.
Es ist also nicht hinzunehmen, dass man als Lehrkraft für eine halbe Stunde in der Woche mit Referendaren Unterricht plant, diesen nachspricht, hospitiert, in schulische Belange einführt, Lehrproben reflektiert, Besuche vorbereitet, lektoriert, unterstützt und als Ansprechpartner präsent ist, Herr Merten?
Der Hochschulprofessor untersuchte einen Zeitraum von 30 Jahren und kommt zu dem Schluss, dass mehr als 20 Prozent des gesamten Unterrichtsvolumens in Abminderungen fließen, wie es bei ihm heißt "zweckwidrig vernutzt". Nun klingt diese Sprache nicht nur wie aus den 50er Jahren, sondern das, was hier als Erkenntnis präsentiert wird, wäre selbst für eine Bachelor-Arbeit eine zutiefst unterkomplexe Schlussfolgerung.
Schwer fällt es nicht, aus dem, was hier als bahnbrechende These präsentiert wird, eine Frage abzuleiten, nämlich: Wie kann es sein, dass Schulen 20% ihrer Stunden in Aufgaben fließen lassen müssen, die "zweckwidrig" sind? Könnte dies daran liegen, dass die Aufgaben, die Schulen 130 Jahre nachdem Herr Mertens in die Schule gegangen ist, sich gewandelt haben, es aber keine Personen gibt, die diese erledigen könnten?
Jede, aber wirklich jede Lehrkraft, die solche Stunden hat, weiß, dass dies meist nur eine freundliche Geste ist. In Wirklichkeit ist die Arbeitsbelastung für jene, die Abminderungsstunden erhalten, nämlich höher!
Nun sollte man vielleicht Altersmilde walten lassen mit jemandem, der in den 70er-Jahren in die Schule gegangen ist, zu einer Zeit also, als es zumindest kein Problem mit dem Lehrermangel gab.
Dass aber ein Sprecher des Bildungsministeriums auf Anfrage der Thüringer Allgemeinen Zeitung angibt, Mertens Arbeit gebe "keine solide Grundlage für politische Maßnahmen ab", spricht Bände. Nun könnte man die Äußerungen also als altersschwachen Wunsch nach kurzer politischer Relevanz deuten, wenn nicht im gleichen Artikel der Zeitung unter der Kategorie "Meine Meinung" ein Kommentar den ja als fehlerhaft beurteilten Studie neue Legitimität verleihen.
Dort heißt es:
"Mertens Fleißarbeit mag Schwächen haben. Aber fest steht: Sie wird die wichtige Diskussion um den richtigen Umgang mit Unterrichtsausfall befeuern."
"Fleißarbeit". So, so. Die bahnbrechende Erkenntnis des Kommentars mit dem Titel "Die Debatte wird befeuert" ist also, dass eine fehlerhafte Studie die Debatte befeuert. Aber es stimmt. Die Debatte wird in der Tat befeuert.
Wenn irrelevant gewordende ehemalige Staatssekrätere durch fehlerhafte Studien mit journalistischer Beihilfe die Mär vom faulen Lehrer unterstützen können und gleichzeitig im Kommentar für ihre "Fleißarbeit" gelobt werden, dann wird die Debatte tatsächlich befeuert. Gleichzeitig geschieht aber noch etwas:
Eine Zeitung, die in einem Artikel zwei Drittel des Umfangs dafür hergibt, eine fehlerhafte Studie zu präsentieren und in einem Drittel einräumt, dass sie fehlerhaft ist, darf sich fragen lassen, welches Informationsbedürfnis sie befriedigt hat. Ein Journalist, der eben diese fehlerhafte Studie als Möglichkeit nutzt, dass die "Debatte befeuert wird", darf sich fragen lassen, welche Debatte das genau ist.
Und ein ehemaliger Bildungssekretär und Hochschullehrer darf sich fragen lassen, was genau er in seiner Zeit als politisch Verantwortlicher über Lehrkräfte gelernt hat. So jedenfalls schadet er dem Ansehen seiner eigenen Profession geradezu fahrlässsig.
Aber das ist nicht die Pointe. Die titelgebende fahrlässige Berufsbeschädigung bezieht sich auf einen Beruf, der mal eben nicht für seine "Fleißarbeit" gelobt wird, sondern der gerahmt wird, als wenn Lehrkräfte raffgierige Zeitabsorber wären, die sich neben ihrer sowieso schon bestehenden üppigen Freizeit auch noch Stunden fürs Nichtstun unter den Nagel reißen.
So wird man den Lehrermangel nicht nur nicht lösen. Sondern dafür sorgen, dass sich junge Menschen, die den Beruf ergreifen wollen, zu Recht fragen sollten, ob sie sich dies antun sollten. Das, Herr Merten, ist Ihre Verantwortung!
Und auch wenn es mich weniger Fleißarbeit gekostet hat: Für diese Erkenntnis brauchte ich keine Studie.
P.S. Unter jedem dieser Artikel muss ich mit den Stimmen sprechen, die fragen, ob ich diesen Gedanken nicht zusätzlichen Raum gebe und damit widersprüchlich handle. Man kann das so sehen. Für mich ist es aber wichtig, solcherlei Hirnflatulenzen nicht stehenzulassen sondern klar, nachvollziehbar und laut zu sagen, dass sie falsch sind. Auch deshalb, damit im besten Fall der Widerspruch und nicht geäußerte Aussagen hängen bleiben. Ein frommer Wunsch, ja. Aber ein Wunsch!