Man muss es so deutlich sagen, wie es ist: Der immer wieder als Notwendigkeit stilisierte Zwang zum Präsenzunterricht kaschiert monatelange politische Versäumnisse. Oder anders: Wer nur einen Plan hat, sieht diesen halt als alternativlos. 

Etwas Gutes haben die Masken schon, die man in der Schule bis zu acht Stunden am Stück tragen muss: Sie verdecken wohl sehr deutlich die aufeinander gebissenen Kiefer der Lehrerschaft, wenn sie in der Zeitung weitere Gründe dafür entdecken, warum die Schulen aus Sicht der Politik die einzigen übrig gebliebenen Menschenansammlungen sind, vor denen die weltweite Pandemie Halt macht. Die Infektionszahlen steigen zwar auch bei Kindern drastisch, aber irgendeine veraltete Studie hat noch jeder gefunden, die es rechtfertigt, Stoßlüften als den heiligen Gral der Bildungspolitik zu feiern.

Und als wäre es für Lehrerinnen und Lehrer nicht schon genug, die fröhliche Apokalypse mit stoischem Gehorsam hinzunehmen, wird das Stoßlüften in seiner deutschesten Form institutionalisiert: Als beamtenkonformes Minutenprotokoll.

Auf der einen Seite sollen Lehrerinnen und Lehrer also die hinter der Maske verborgenen Zähne zusammenkneifen und so tun als seien die 300.000 Schülerinnen und Schüler, die sich zur Zeit in Quarantäne befinden nur Einzelfälle – eine in der momentanen Zeit sehr deutsche Auffassung von systemische Problemen. Auf der anderen Seite werden sie im institutionalen Bemühen, wenigstens das bisschen Nichts zu etwas aufzublasen, was sich dann Konzept nennen kann, zu analogen Formularstatisten infantilisiert. Auf diese Weise kann man wenigstens nachweisen, wer am Ende Schuld an einer potenziell tödlichen Infektion gewesen ist. “Ich gebe zu Protokoll, Herr Schulze hat in der Klasse 7b um 16:20 nicht stoßgelüftet.” Die Sanktion für ein solches Vergehen würde doch sehr interessieren.

Unlängst hat das Handelsblatt die knallharte Erkenntnis ins Äther promoviert, dass die Lehrer vielleicht gerade diese Arbeit scheuen. Das passt wunderbar in das alte Prinzip des Öl – Verzeihung – Alt-SPDlers: Die faulen Säcke! Beim Handelsblatt heißt es – man muss sagen – ernsthaft: “Es drängt sich der Verdacht auf, dass hinter den Funktionären nicht nur um ihre Gesundheit besorgte Lehrer stehen, sondern auch solche, denen der ganze Aufwand mit den Masken und der Lüfterei in den Klassenzimmern zu viel ist.” Im Titel heißt es: “Die Lehrer müssen einsehen, dass in der Krise ein Extrabeitrag notwendig ist.”

Ich sehe mich schon vor mir, wie ich in einigen Jahren – endlich wieder in Präsenz – auf einem großen Digitalgipfel in Dänemark, voller Emphase mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Twitterlehrerzimmers im Duktus eines Kriegshelden davon erzähle, wie ich in völlig unproportionaler Mehrarbeit sogar neben der Stoß- manchmal eine Querlüftung vorgenommen habe. Das verwaschene Lüftungsprotokoll hängt dann bestimmt direkt über meinem Dienstfaxgerät, das im Jahre 2034 mit einem waschechten Dienstrechner der Marke Medion ersetzt wird, die aus Geberländern in die Bundesrepublik eingeflogen werden. Der eigentliche Grund, warum die seit Jahren vernetzte Lehrercommunity sich jeden morgen in den Wachzustand eskaliert ist aber: Das alles müsste nicht sein. Die Lehrerinnen und Lehrer scheuen die Mehrarbeit nämlich nicht. Im Gegenteil: Sie wurde schon geleistet. Und sie wird immer noch geleistet. Allein: Es interessiert keinen. Oder zumindest keinen, der Entscheidungen treffen könnte.

Natürlich ist für eine Institution wie die Kultusministerkonferenz, für die auch der Lehrerbedarf immer wieder eine Überraschung darstellt, der abrupte Wechsel von Sommer auf Herbst und, Gott behüte, dann auch auf Winter, wahrscheinlich ein von keinem Menschen vorhersehbares Ereignis gewesen – also abgesehen von Christian Drosten, dessen Podcast ja nun wirklich für jeden Daheimgebliebenen zugänglich gewesen sein musste. Und, naja, abgesehen von allen anderen.

Aber selbst vor dem Hintergrund dieses überraschenden Jahreszeitenwechsels ist es als einigermaßen digitalaffiner Mensch schier unmöglich, auf Twitter oder auch in so ziemlich allen anderen Bereichen des Netzes keinen Menschen zu finden, der nicht wenigstens 5 gute Ideen für funktionierende Konzepte hat. Wer auf Twitter keinen Experten findet, findet auch auf Telegram keine Nazis. Es gibt hunderte Leute auf Twitter, die aus dem Stegreif eine Stunde über funktionierende Konzepte sprechen könnten. Manche von ihnen haben sogar für Ministerien gearbeitet, was aber wohl auf den entsprechenden Videokonferenzen keine Rolle gespielt zu haben scheint. Nebenbei: Ich gehe mal davon aus, dass das Gesundheitsrisiko für einen Minister deutlich höher ausfällt als bei Schülern, ansonsten ist mir einigermaßen unverständlich, warum sich die Länderchefs nicht in Konferenzräumen treffen sollten. 15qm Altbau. Einfach alle 20 Minuten aufstehen und Fenster aufmachen, Protokolle lassen wir allen zukommen, wenn nötig per Fax.

Die Wahrheit ist leider sehr viel einfacher und sie hängt noch nicht einmal an wirklich validen Argumenten: Ja, für manche Schülerinnen und Schüler ist es schwierig, an ein gutes Netz zu kommen. Ja, nicht überall ist das W-Lan stark. Ja, selbstständiges Arbeiten ist nicht für alle gleich einfach. Aber darum geht es gar nicht, denn an jedem dieser Punkte könnte und müsste gearbeitet werden – allein schon für die Zukunft des Bildungsstandort Deutschland. Die gesamten Entscheidungen basieren auf dem Wunsch nach Betreuung, der, so muss man es sagen, auf der Unwissenheit darüber aufbaut, was digitaler Fernunterricht oder Hybridunterricht eigentlich sein soll. Ein Problem, das man beheben könnte. Experten gibt es genug. Wie geben eine Wiederholung zu Protokoll: Es interessiert keinen.

Und so schlittern wir sehenden Auges in einen zweiten Lockdown, der dann zu einer Zeit durchgeführt werden muss, bei der zumindest diejenigen nicht beschult werden müssen, die mit vermeidbaren Infektionen im Krankenbett liegen. Aber vielleicht ist das auch alles viel zu pessimistisch. Neben Stoßlüften und Masken gibt es ja schon einen neuen Plan: Zwei Tage eher in die Weihnachtsferien. Welch konzeptionelle Offenbarung! Es ist Zeit für eine Stoßlüftung.

 

4 Kommentare

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein