[…] DIGITAL: Was ist NEW LEARNING? […]
Ein neuer Begriff hält gerade Einzug in die Diskussion. Dieser heißt „New Learning“ und bezeichnet zunächst einen Ansatz, der sich von den sogenannten „New Work“[1] ableitet. Obwohl die jahrelangen Diskussionen um Begriffe wie „digitale Bildung“, „zeitgemäßes Lernen“, „agile Didaktik“ und weitere Versuche, die Bildung des 21. Jahrhunderts zu definieren und neu zu fassen zu gewissen Ermüdungserscheinungen geführt hat, fasziniert mich dieser Begriff aus unterschiedlichen Gründen. Dieser Versuch eines ersten Umrisses versteht sich gleichsam als Work in Progress und damit eine Form von Working out loud[2] (WOL), die wiederum Teil eines New Learning sein kann.
UPDATE: Mittlerweile wurde der Begriff des New Learning im sogenannten Hagener Manifest als Grundlage für einen neuen Lernbegriff verwendet. Ich gehöre mit zahlreichen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Wissenschaft, Gesellschaft und Schule zu den Erstunterzeichner*innen. Hier geht es zum Padlet, in dem Workshopteilnehmer*innen über New Learning diskutiert haben.
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Die Frage danach, warum noch ein Begriff „gebraucht“ wird, ist sicherlich berechtigt, haben doch die Teilnehmer*innen des digitalen Diskurses so manchen, in einen Hashtag gegossenen Begriff kommen und gehen sehen. Die Besprechung des New Learning in diesem Artikel soll auch darauf eine Antwort geben. Eine erste Antwort ist jedoch jene, dass auch neuartige, agile oder durch digitale Technik weiterentwickelte Lernformen aus einer Mitte entspringen müssen, aus der sie erwachsen und weiterentwickelt werden können. Dafür ist ein Begriff notwendig, da dieser, selbst wenn er im Entstehungsprozess begriffen ist, dafür sorgen kann, eine Unterscheidbarkeit der Ansätze zu verdeutlichen. Schon die ersten Ansätze von New Learning zeigen, dass eine solche Unterscheidbarkeit gewährleistet werden kann. Ein weiterer Punkt ist, dass die Implementierung von Begriffen in verschiedenen Diskursen (digital[3], wissenschaftlich, gesellschaftlich) für eine Rückkopplung sorgen kann, die im besten Fall dazu führt, dass Begriffe zu mehr als modischen Buzzwords werden.
Es erscheint sinnvoll zu beantworten, warum der Lernbegriff aus meiner Perspektive so wichtig ist. In neuartigen Ansätzen von Bildung, die die Kultur der Digitalität[4] als Medium verstanden wird (nicht in Form von Werkzeugen, sondern als Umgebung, innerhalb derer sich das Individuum selbst bildet), weist schon der Begriff der Bildung auf die Prozesshaftigkeit der Aneignung: „Bildung als produktive Verwicklung“[5] ist damit kein normativ gesetzter Begriff, sondern einer, der selbst der Dynamik seiner Bestimmung unterworfen ist: „Wir verorten Bildung innerhalb der Verwobenheit in soziomateriellen Praktiken. Bildung kann nie abschließend bestimmt werden.“[6] Neben einem solchen performativen Bildungsbegriff steht zumeist dennoch ein Bildungsbegriff, der gleichsam ontologisch und epistemologisch hergeleitet wird: „Gebildet ist dann derjenige, der kraft seiner Mündigkeit ein vor sich und anderen zu verantwortendes Leben zu führen vermag. (...) Dem Bildungsbegriff kommt somit auch eine politische Dimension zu, er muß „auf die Mitmenschlichkeit, die Sozialität (Gesellschaft) und auf die politische Existenz des Menschen bezogen gedacht werden“.[7]
Kurz: Ein Bildungsbegriff, der sich gleichsam auf das Individuum und sein Werden als auch auf die eigene Prozesshaftigkeit bezieht, muss das Lernen in das Zentrum der Überlegungen stellen. Lernen ist damit die Kreation dessen, was im Prozess und in seinem Ausgang Bildung erzeugt. Dass das momentane Schulsystem zumeist andersherum argumentiert, dass also Bildung Ausgang von zuvor definierten Inhalten ist, deren Aneignung selbst keine Beachtung erfährt, sei hier nur am Rande erwähnt.
Wer sich mit Bildung befasst, befasst sich also zwangsläufig mit Lernen. Dieses Lernen steht im Zentrum einer „digitalen Gesellschaft“[8], die in den Grundüberlegungen des Lernens berücksichtigt werden müssen.
Innerhalb einer Diskussion um neuartige Lernformen werden oftmals verschiedene Begriffe verwendet, darunter das schon genannte „zeitgemäße Lernen“, aber oftmals auch das „Lernen 4.0“, „agiles Lernen“ und, seit einiger Zeit eben das „New Learning“. Um die Abgrenzung der Begriffe soll es hier nur am Rande gehen, zumal das „zeitgemäße Lernen“[9] meinem Verständnis von New Learning schon sehr nahe kommt. Prof. Dr. Anja Schmitz und
Prof. Dr. Nele Graf definieren in ihrem Aufsatz „Agiles Lernen, New Learning, Lernen 4.0“[10] die drei Formen präzise. Diese Definitionen sollen an dieser Stelle als Abgrenzung übernommen werden.
In dem genannten Aufsatz wird das Lernen 4.0 folgendermaßen definiert:
Lernen 4.0 basiert analog zur Industrie 4.0 auf
der digitalen und technologischen Vernetzung
und dem Grundgedanken der Effizienzsteigerung.
Im Fokus steht die zeitnahe Befähigung
zur anforderungsgerechten individuellen Performance.
Der Lernende wird dabei durch ein
smartes Lernumfeld (zum Beispiel Sensoren,
Bots, Avatare, ...) unterstützt. Kollaboration
zwischen Mensch und Maschine, Augmented
Reality und KI-gestützte Assistenzsysteme so
wie Individualisierung prägen das Lernen 4.0.
(Vgl. Graf & Schmitz, 2019).
Ohne die ohnehin schon kurz und präzise gefasste Definition nochmals zu verkürzen, kann doch festgehalten werden, dass, angelehnt an der Industrie 4.0, das Wichtige an einem solchen Lernverständnis die smarte Umgebung ist. Dabei geht es um mehr als um Plattformen und/ oder soziale Netzwerke, sondern um eine Hilfe durch künstliche Intelligenz (Mehr zur Genese des Begriffs kann in dem Aufsatz nachgelesen werden).
Agiles Lernen leitet sich vom agilen Arbeiten ab
und zielt auf die lebenslange Anpassungs- und
Innovationsfähigkeit von Mensch und Organisation.
Agile Lernprozesse zeichnen sich durch
kurze, klar strukturierte Abläufe bei gleichzeitiger
Flexibilisierung und Individualisierung
der Inhalte (zum Beispiel WOL, Barcamp)
aus. Zielorientierung, Kollaboration, Selbststeuerung
und Dynamik prägen diesen Ansatz.
Im weiteren Sinne bedarf agiles Lernen eines
passenden Mindsets (Selbstwirksamkeit und
Entwicklungsfähigkeit), Skills (zum Beispiel
Lernkompetenzen) und eine passende Fehler-
und Lernkultur. (Vgl. Graf & Schmitz, 2019).
Die Definition von Graf und Schmitz mag jenen bekannt vorkommen, die mit Innovationen im digitalen Diskurs vertraut sind. Auch Konferenzen im Bereich Digitalität und Lernen bauen immer öfter auf Strukturen, die weitestgehend agil sind und von Teilgeber*innen gestaltet werden. Das Interessante an einem Ansatz, der Agilität als Basis für das Weiterarbeiten sieht, ist, dass die Digitalität nicht im Zentrum steht wie beim Lernen 4.0, sondern Teil einer komplexen Prozessstrukturierung ist. Damit öffnet das agile Lernen (in der Form wie es hier definiert ist) den Raum für noch nicht absehbare Weiterentwicklungen. Während das Lernen 4.0 die Technik in den Vordergrund rückt, ist es beim agilen Lernen also der Prozess.
Mit der Definition des New Learning kommen wir zum eigentlichen Gegenstand des Artikels. Hier heißt es bei Graf/ Schmidt:
New Learning basiert auf Frithjof Bergmanns
New-Work-Konzept und hat die Selbst- und
Potenzialentfaltung des Individuums zum Ziel.
New Learning bezeichnet Lernen, das vom
Lernenden als sinnhaft erlebt wird und die
Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen.
Die Lernprozesse sind geprägt von Selbstbestimmung,
Autonomie und dem Streben nach
Wirksamkeit. Dabei gilt, dass die Lerner ein
hohes Maß an Selbstverantwortung und die
Zugehörigkeit zur (Lern-)Gemeinschaft erleben.
(Graf & Schmitz, 2019).
Es ist fast unmöglich, in der Zielsetzung einer „Potenzialentfaltung“, wie sie in Bergmanns Konzept einer neuen Arbeit, wie sie in den 80er Jahren als Gegenentwurf zur standardisierten Akkordarbeit erdacht wurde, nicht einen Humboldt’sches Bildungsverständnis wiederzuentdecken. Das ist einer der Gründe, warum das New Learning so großes Potential hat. Es ist eine Rückkehr in die Zukunft. Insbesondere muss die Sinnhaftigkeit, die in diesem Lernverständnis (und dieser Definition) die entscheidende Rolle spielt, hervorgehoben werden. Denn anders als in dem zuvor genannten technikzentrierten oder prozessorientierten Lernverständnis steht damit hier das Individuum im Zentrum eines Lernens, dass natürlich dennoch die kulturelle Umgebung einbezieht. Anders formuliert: Während ein Lernen 4.0 keinen Raum für ein Lernen trotz Medien lässt und das agile Lernen auf das Lernen mit Medien verkürzt werden kann, geht es in dem New Learning um ein Lernen, der das Lernen mit, über und trotz Medien[11] beinhaltet, ohne von einem der Aspekte dominiert zu werden. Es antwortet so auf die Frage danach, wie und warum, der Einzelne im 21. Jahrhundert lernen kann.
Gleichzeitig wird in einigen Annäherungen auch schon in der Definition die Technik als zentraler Aspekt hervorgehoben: Damit konkurriert digitales Lernen nicht mit analogem Lernen, sondern beide Methoden unterstützen sich gegenseitig.[12]
Dr. Johanna Uhl bringt es in ihrer Dissertation so auf den Punkt:
"Die (...) „new skills“ (ebd., S. 241) beruhen, wie Abbildung 1 zeigt, auf einem Verständnis von Lernen, das personalisiert, lernerzentriert, situiert, kollaborativ, ubiquitär und lebenslang stattfindet; die Charakteristika der Technologien entsprechen diesen Eigenschaften quasi in Form ihrer Funktionalität: Sie sind personalisierbar, nutzerzentriert, mobil, in ein Netzwerk eingebunden, ubiquitär und dauerhaft verfügbar. Eine solche Mobilität des Lernens entspricht auch der ureigenen Natur des Lernens, denn Lernen ist – und war schon vor dem Mobile Age – „natürlich“ mobil".
(Uhl, Johanna: Informelle Sprachlernbegegnungen mit dem Englischen von Kindern und Jugendlichen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. phil.) der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ingolstadt 2019, S.72)
Es ist klar, dass New Learning, wie es in diesen ersten Definitionsversuchen umrissen ist, noch keine abgeschlossene Einheit ist – und in Bezug auf die schon erwähnte „produktive Verwicklung“ sicherlich weiter ergänzt wird. Dabei ist beispielsweise daran zu denken, die Wissensgesellschaft noch mehr in den Blick zu nehmen: Ein „Universalgelehrter“ ist heute (...) nicht mehr jemand, der alles weiß, sondern jemand, der mit Wissen und Nichtwissen souverän umgehen kann. Zwei Skills sind dafür elementar wichtig: Kreativität und dieFähigkeit, Kontexte herzustellen.[13]
Diese beiden Fähigkeiten sind nicht nur zufällig in einem Kontext mit den als grundlegend definierten Kompetenzen der 4K[14] zu sehen. Damit knüpft das New Learning an einen Diskurs an, der online in der Blogosphäre schon seit mehr als 10 Jahren geführt wird. Mit anderen Worten: Für die Pioniere der "digitalen Bildung" ist der Inhalt dessen, was hier New Learning genannt wird, eher ein alter Hut.
Gleichzeitig wird das New Learning auch von einer Basis der Praktiker und Konsumenten einer ortsunabhängigen Bildung definiert. Der Youtuber, Mathematiker und Geschäftsmann Daniel Jung, dessen Videos hunderte Millionen Mal geklickt worden sind, betont insbesondere Die Beziehung zwischen New Learning und seiner gerade im werdenden Genese aus der New Work:
In einer sich exponentiell ändernden Welt gibt es kein "Ich bin fertig mit Schule, Uni, ..." mehr, sondern einen Prozess des "lebenslangen Lernens". Das erfordert auch das Überdenken der Kompetenzen, die wir in möglichst frühen Jahren fördern sollten.[15] In dem hier zitierten Beitrag kommen weitere Punkte hinzu, die an einigen Stellen sehr interessant und auch für den Bereich Schule denkwürdig sind (Lernräume etc.). Eine aufzählende Kommentierung würde hier aber den Rahmen eines ersten Zugangs sprengen.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir New Learning als ein Begriff, der um jene Basisbereiche erweitert werden könnte, die ich im Artikel zum zeitgemäßen Lernen in ähnlicher Form beschrieben habe:
Die Grundlage dafür ist, dass das Lernen als Aneignungsprozess in den Vordergrund gestellt wird. 10 Thesen, die in dem Artikel "Was ist zeitgemäßes Lernen?" (Blume 2019), skizzieren diesen Ansatz:
Ein so verstandenes New Learning beruht demnach auf den folgenden Grundsätzen:
-Fokussiert sich auf den Prozess des Einzelnen.
-Denkt schulische und nicht-schulische Bildung zusammen.
-Denkt informelles und formelles Lernen zusammen.
-Findet im Rahmen der Kultur der Digitalität statt
-Denkt Bestehendes und Entstehendes zusammen.
-Öffnet die eigenen Praktiken nach außen und innen.
-Erfordert Filter-/ Beurteilung- und Methodenkompetenz.
-Erfordert das Zusammenspiel von Wissen, Charakter, Haltung und Metalernen.
-Ist also immer reflektiertes Lernen.
-Ist gesamtgesellschaftlich relevant.
-Nimmt den Leitmedienwechsel ernst.
-Integriert digitale Medien als Teil dieses Leitmedienwechsels und der Kultur der Digitalität.
Innerhalb eines solchen Verständnisses sind digitale Medien also keine "Werkzeuge", sondern jene Umgebung, in der die Aneignung des Wissens, Könnens und Arbeitens stattfindet. Anstelle einer Antwort, besteht die Herausforderung zunächst in der Fragestellung: Diese ist weniger: Was müssen wir wissen? Sondern: Wie wollen wir zusammen lernen?
Es mag die Gefahr bestehen, dass auch New Learning als Modeerscheinung besprochen und dann wieder verworfen wird. Der Ansatz eines sinnstiftenden Lernens als Basis für eine Bildung des 21. Jahrhunderts, das die Kultur der Digitalität sowohl innerhalb als auch außerhalb der Institutionen als Lernumgebung ernst nimmt und reflektiert erscheint dabei aber äußerst sinnvoll zu sein.
Wie immer freue ich mich über Kommentare, Anmerkungen und Kritik.
[1] „Neue Arbeit bedeutet hiernach vor allem, dass der Mensch nicht der Arbeit dient, sondern umgekehrt.“ In: Von Appen, Kerstin Sarah: New Work unplugged. Die Arbeitswelt von morgen heute gestalten. Verlag Franz Vahlen. München 2019, S.13.
[2] https://workingoutloud.com, aufgerufen am 11.07.2020.
[3] https://bobblume.de/2019/10/31/digital-was-ist-zeitgemaesses-lernen/, aufgerufen am 14.07.2020.
[4] Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Suhrkamp 2016.
[5] https://bobblume.de/2020/06/10/digital-bildung-als-produktive-verwicklung/, aufgerufen am 11.07.2020.
[6] Heidrun Allert, Michael Asmussen, Christoph Richter (Hg.): Digitalität und Selbst. Interdisziplinäre Perspektiven auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Transcript 2017. S.27.
[7] Auszüge aus der „Allgemeinen Didaktik“ (Wilfried Plöger: Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik. München 1999). Plöger zitiert und kommentiert Klafki in sieben Punkten. https://bobblume.de/2020/02/21/bildung-anmerkungen-zum-bildungsbegriff/, aufgerufen am 11.07.2020.
[8] Nassehi, Armin: Muster. Theorie einer digitalen Gesellschaft. München 2019.
[9] https://bobblume.de/2019/10/31/digital-was-ist-zeitgemaesses-lernen/, aufgerufen am 14.07.2020.
[10] Schmitz-Graf2020Agiles-Lernen-New-Learning-Lernen-4.0.pdf, aufgerufen am 14.07.2020.
[11] Döbeli-Honegger, Beat: Mehr als 0 und 1. hep verlag; Auflage: 2 (1. August 2017)
[12] https://www.einstein1.net/new-learning/, aufgerufen am 14.07.2020.
[13] https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/bildung-im-zeitalter-der-
wissensexplosion/, aufgerufen am 15.07.2020.
[14] Das 4K-Modell (kurz 4K, englisch Four Cs oder 4Cs) formuliert Kompetenzen, die für Lernende im 21. Jahrhundert von herausragender Bedeutung sind, aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Kompetenz_(Pädagogik), aufgerufen am 14.07.2020.
[15] https://www.xing.com/news/insiders/articles/was-ist-eigentlich-new-learning-2336894, aufgerufen am 15.07.2020.
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