liegt es in der pädagogischen Verantwortung der Lehrkraft die Entscheidung über den Gang zur Toilette zu treffen (vgl . § 38 Absatz 6 SchG). Hierbei steht eine restriktive Handhabung, die im Regelfall den Toilettengang während der Pause vorsieht, den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entgegen (vgl. Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz), soweit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit im einzelnen Falle Rechnung getragen wird.
Geschulte (Jung-)Juristen werden hier die Passage "im Regelfall" und "Verhältnismäßigkeit" im Auge haben, da diese einer eben unverhältnismäßigen Machtausübung seitens des Lehrers oder der Lehrerin im Wege stehen. Hier ist eine Regel also in der Regel kein Zwang.
Eine größere Perspektive
All die hier besprochenen Punkte, zu denen es mit ziemlicher Sicherheit Ausnahmen oder anders geartete Fälle gibt, könnten sich relativ einfach zusammenfassen lassen in eine Art Toilettengang-Imperativ, der etwa lauten könnte:
"Ein nicht abgesprochener Toilettengang ist dann möglich, wenn er im beidseitigen Vertrauen zwischen Schüler:in und Lehrkraft in der Regel kurz und in einer Weise geschieht, die die anderen Schüler:innen nicht vom Lernen abhält."
Ganz so einfach ist es aber nicht, und hier zeigt sich die Perspektive, die ich nun ein drittes Mal zitiere:
Am Toilettengang verdeutlicht sich das Problem einer gesetzlich geregelten Institution, die gleichzeitig den Geist der Freiheit transportieren soll.
Unabhängig von den Themen, die in der Schule von Belang sind, wird deutlich, dass sich in der Schule unterschiedliche Ebenen von Systemen überlagern: Die individuelle Freiheit, die Freiheit in und die Begrenzung der Interaktion, die Freiheit der und die Begrenzung der Organisation, die wiederum durch höhere Instanzen geregelt ist.
Das ist keine Überraschung und ist in jedem gesellschaftlichen Bereich der Fall. Das "Problem" an Schule ist die Widersprüchlichkeit, die sich aus einem Erziehungsauftrag ergibt, der auf der einen Seite gesetzlich geregelt ist, dessen Inhalt aber auch explizit demokratische Grundwerte beinhaltet. Im baden-württembergischen Schulgesetz heißt es da:
(2) Die Schule hat den in der Landesverfassung verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag zu verwirklichen. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus ist die Schule insbesondere gehalten, die Schüler (...)
zur Anerkennung der Wert- und Ordnungsvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu erziehen, die im einzelnen eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ausschließt, wobei jedoch die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie in Grundgesetz und Landesverfassung verankert, nicht in Frage gestellt werden darf.
Daraus ließe sich ableiten, dass das Beharren auf einer rigiden Regelung, die nicht auf angebrachten Problemen basiert, sondern sich nur auf das autoritäre Erziehungsverhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler:in stützt, der Wertvorstellung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht.
Gerade bei Lehrkräften meine ich hier auch unterschiedliche Haltungen in diesem Erziehungsauftrag auszumachen. Tendenziell gibt es hier die Richtung, die sich an der gesetzlichen Regelung und jene, die sich an der Erziehung zur Freiheit orientiert.
Damit wird der Toilettengang zum Corpus Delicti eines Spannungsfelds, das in der Schule oft unaufgelöst bleibt.
Der Toilettengang als Corpus Delicti
Möglicherweise ist diese Schlussfolgerung irritierend. Aus meiner Sicht erklärt sich aus ihr aber die zu Anfang gestellte Frage danach, auf welcher Basis die Aufregung rund um den Toilettengang besteht. An fast keiner anderen Regelung wird der Graubereich zwischen dem was Schule regeln kann und nicht zu regeln im Stande ist deutlicher.
Das bedeutet freilich nicht, dass es nicht zahllose weniger offensichtliche Bereiche gibt, die sich in demselben Spannungsfeld befinden:
- Die Frage nach der Abprüfbarkeit von etwas, dessen Inhalt der Abprüfbarkeit widerspricht
- Die Frage nach einem allgemeingültigen Datenschutz bei Nutzung bestimmter Technik
- Die Frage nach Freiheitsbeschneidung durch eine Pflicht, deren Inhalt auch Ungehorsam sein kann (zentral bei den Diskussionen um Fridays for Future).
Das könnte man mit Sicherheit weiterführen.
Am Ende könnte man sagen, dass alle Beteiligten damit leben müssen, dass es immer den Widerspruch gibt, dass "die bürgerliche Verfassung ein Verhältnis freier Menschen ist, die (...) doch unter Zwangsgesetzen stehen".
Das ist richtig. Wer eine längere Zeit im Schulsystem gearbeitet hat, stellt sich nur zwangsläufig die Frage, wann der Kipppunkt erreicht wird, an dem die Zwangsgesetze den freien Menschen so wenig Freiheit zugestehen, dass man man nicht mehr vom freien Menschen sprechen kann.