Beginnen wir mit einer scheinbar paradoxen Feststellung: Die größte Herausforderung des digitalen Fernunterrichts ist weder die Digitalität noch die Ferne. Die größte Herausforderung ist die Veränderung der Bedingungen, in Bezug auf das Lernen. Dies soll anhand der Erfahrungen der letzten Zeit erläutert und mit einem Lösungsvorschlag versehen werden. 

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Alternative Ansätze

Der Lehrer und das Mitglied im Schulleitungsteam Jan-Martin Klinge, der einen populären Lehrerblog betreibt, erklärte in der 45. Folge meines Podcasts, wie die Kinder auf seinen Unterricht reagieren. Der Mathematikunterricht findet ausschließlich über Lerntheken statt. Die Kinder lernen also, indem sie die ganze Zeit arbeiten (natürlich können sie Pausen machen). Die Reaktion also: Sie finden es anstrengend. Aber natürlich auch gewinnbringend. Klinge ist Mentor oder das, was man Lernbegleiter nennt.

Genau das müssen Eltern gerade durch die Republik auch sein. Lernbegleiter, allerdings ohne die Ausbildung und vor allem die Erstellung eines didaktischen Konzepts, wie Klinge es über Jahre gearbeitet hat. Mehr noch: Dadurch, dass die Lehrerinnen und Lehrer veränderten Bedingungen des Lernens über die Digitalität bisher noch nicht vollends durchdringen haben, kommt es zum Druck. Dieser wird oftmals an der Technik festgemacht und das mag auch ein wichtiger Aspekt der neuen Situation sein,  der politisch zu lösen ist.

Unterrichtszeit

Die wichtigsten Punkte hinter der Situation, die viele so sehr überfordert, dass sie schon nach einer Woche das Ende des Fernlernens fordern, ist aber ein anderer. Klassischer Unterricht besteht oftmals aus einem künstlichen, aber von allen Beteiligten als “normal” empfundenen Zeitfenster, das wiederum zumeist in Phasen unterteilt wird. Diese Phasen bestehen aus dem, was geplant ist und dem, was getan wird. Das heißt:

a) Schüler*innen

können während der Unterrichtszeit unaufmerksam sein, pausieren, aus dem Fenster schauen, mit ihren Nachbarn sprechen, auf das Blatt starren, etwas kritzeln und so weiter. Je mehr der Lehrer redet, desto weniger müssen sie tun. Das kann sie zwar anstrengen, aber die Phasen der Ruhe können so dennoch eintreten.

b) Lehrerinnen

können ihren Unterricht so planen, dass er zu jeder Zeit orchestriert ist. Er ist an Ort und Zeit gebunden. Die Zeit wiederum wird oftmals eingeteilt in Happen, die in der didaktischen Theorie benannt sind: Einstieg, Überleitung, Erarbeitung, Transfer und so weiter. Aber selbst wenn eine Lehrperson ausschließlich redet und sch vielleicht dadurch die Planung erspart, hat er oder sie die Phrasierung unter Kontrolle. Oder aber, die Lehrperson hat gleichsam Phasen der Ruhe, nachdem beispielsweise eine Einzelaufgabe gestellt worden ist.

Ein Gedankenexperiment

Nun stellen wir uns vor, dass nach der Corona-Krise alle Lehrpersonen so an das neue System gewöhnt wären, dass sie es genauso in die Klassenzimmer übertragen würden, wie sie es nun machen. Was würde das bedeuten? Das würde heißen, dass sie mit einem riesigen Stapel Angaben ankämen, es den einzelnen Schüler*innen auf den Tisch legen würden und sagen würden: Und los. Gleich sammle ich es wieder ein.

Und weil die Eltern nun wüssten, wie man Schüler*innen beim Lernen begleitet und es dem Lehrer sagen würden, würde dieser sich so lange neben jeden Einzelnen setzen, bis dieser alle Aufgaben bis zum Ende durchgearbeitet hat. Und danach würde der Lehrer alle Aufgaben nacheinander anschauen und alle verbessern. Oder aber er würde sich, nachdem die Aufgaben fertig sind, gar nicht mehr darum kümmern. Hört sich das verrückt an?

Ja, aber genau das ist es, was gerade passiert, während Lehrpersonen versuchen, ihren Unterricht auf das neue Setting zu übertragen, Schüler*innen versuchen, alles zu machen und Eltern versuchen, alles, was verlangt wird, mit ihren Kindern umzusetzen.

Sichtbarmachung

In einem Gespräch mit einer Kollegin ging es darum, wie wenige Schüler*innen es anscheinend schaffen würden, die Aufgaben hochzuladen. Dieses Problem kennen jene Lehrer*innen, die hinterher sind, dass auch wirklich alle Schüler*innen die Aufgaben machen. Und ja, es kann sein, dass es technische Probleme gibt. Oder das die Technik oder das W-Lan nicht ausreichend vorhanden ist.

Aber könnte es nicht auch sein, dass gerade vor allem sichtbar wird, was eigentlich immer so ist? Dass nämlich manche es nicht schaffen, die Aufgaben zu machen. Sie können aber im regulären Unterricht einfach die Aufgabe ihres Nachbarn vorlesen. Oder so tun, als hätten sie etwas überhört. Oder sich schnell während des Antworten etwas überlegen.

Und auf Lehrerseite: Wenn tatsächlich alle Lehrerinnen zu jeder Zeit alle Aufgaben jeder Klasse, die sie haben, korrigieren würden; dann bliebe keine Zeit mehr für etwas anderes. Ich weiß, wovon ich spreche, denn wenn aus einem Leistungskurs nur die Hälfte des Kurses Feedback einfordert, dauert die Korrektur in einer normalen Schulwoche Tage.

Veränderte Bedingungen und andere Lernformen

Das alles sollte deutlich gemacht haben, dass es andere Bedingungen braucht. Diese wiederum sind abhängig von der Stufe und natürlich auch von didaktischen Ansätzen, aber sie zeigen deutlich, dass bestimmte Formen von Unterricht, wie sie im Präsenzunterricht die Regel sind, nicht mehr übertragbar sind. Dazu ein positives Beispiel: Der Unterricht hat sich für meinen 12er Kurs nicht sonderlich verändert.

Schon vor der Zeit der Schulschließungen, war es die Aufgabe der Schüler*innen sich eigenständig einen Schwerpunkt und innerhalb des Schwerpunktes Teilkompetenzen herauszunehmen, die sie dann nach und nach sichtbar erarbeitet haben. Ich war Impulsgeber, gab Feedback und Anweisungen. Genau so funktioniert es gerade weiterhin. Es änderte sich außer dem sozialen Kontakt, den ich natürlich wie alle anderen auch vermisse, nichts. Nun lässt sich dieses Setting natürlich nicht 1:1 auf alle Klassen übertragen, dennoch zeigt dieses Beispiel schon einen Ansatz, wie digitaler Fernunterricht funktionieren kann: Durch Individualisierung. Weitere Punkte, wie der Druck herausgenommen werden kann: Langzeitaufgaben. Positive Beispiele. Und die 4+1-Regel.

Die hier genannte Individualisierung erreicht man durch etwas, das ich KAKAO-Aufgaben nenne: Diese Aufgaben sind kreativ (hinsichtlich der Durchführung), angemessen (hinsichtlich des Umfangs), kurz (in der Aufgabenstellung), aktuell (hinsichtlich des Themas) und Offen (hinsichtlich der Bearbeitungsmöglichkeiten).

Individualisierung

Individualisierung bedeutet, dass die Aufgaben weitestgehend offen gestaltet sind. Das ist bei Langzeitaufgaben beispielsweise (weiteres Beispiel) der Fall. Individualisierung bedeutet hier, ein Angebot an dem zu bieten, was gemacht werden kann und ein deutlich kleineres Arsenal an Dingen, die gemacht werden müssen. Schon die Kurze Zeit hat gezeigt, dass, wenn die Aufgaben motivierend gestaltet sind, die Schüler*innen viel mehr machen, als sie eigentlich müssten. Und wenn nicht: Dann ist das auch in Ordnung. Dann ist das in diesem Fach einfach diese kleine Pause, die die Schüler*innen während des Unterricht sowieso machen.

Das bedeutet freilich nicht, dass man Larifari macht. Es bedeutet die Ersetzung von Druck erzeugender Willkür (jeder Lehrer gibt eine Anzahl von Aufgaben in einer bestimmten Zeit). Zu verbindlicher Flexibilität. Aufgaben müssen gemacht werden, aber die Kinder haben die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wann. Das bietet sich, auch nach einigen Rückmeldungen, für die Unterstufe an. Freilich nicht immer und in allen Fächern. Aber doch so, dass es für die restlichen Fächer, die intensivere Betreuung brauchen, entzerrend wirkt.

Positive Beispiele

Natürlich ist es gut, wenn man als Lehrer in der Lage ist, alle Aufgaben zu korrigieren. Aber in manchen Phasen ist es, genau wie im Präsenzunterricht auch, deutlich effizienter, positive Beispiele herauszunehmen und mit den Schüler*innen zu teilen.

Das geht über den Messenger, eine Cloud oder ein Padlet. Vor allem geht es aber auf ganz unterschiedliche Weise. Zum Beispiel könnte, nachdem ein/e Schüler*in um Erlaubnis gefragt worden ist, ein Produkt per Link zur Verfügung gestellt werden und mit einer Audiodatei erklärt werden, warum es gelungen ist. Schon können die Schüler*innen (und die Eltern, wenn sie helfen) sich daran orientieren. Das bietet sich sowohl für die Mitteltstufe als auch für die Oberstufe an.

Audiobotschaften sind übrigens für die Kleinen auch so eine schöne Möglichkeit, sie mit der Stimme zu unterstützen, wertzuschätzen und den sozialen Kontakt aufrecht zu erhalten.

Die 4+1-Regel

All das geht natürlich nur, wenn man einen Plan davon hat, wie man das, was “Unterricht” genannt wird, aber in Wirklichkeit eine begleitete unterstützende Lernaufgabe ist, strukturiert.

Nochmals kurz zurück zum klassischen Präsenzunterricht: Hier ist der Ort, die Zeit und die Phase der Abgabe auch die Deadline. Eine Hausaufgabe wird zu der Zeit präsentiert, bei der alle anwesend sind. Und schon da ist es mit der Aufmerksamkeit schwierig. Das geht beim Fernunterricht selbst in virtuellen Konferenzen sehr schwer. Eine Lösung ist die 4+1-Regel.

Die Schüler*innen bekommen zu einem ausgemachten, wiederkehrenden Zeitpunkt die Aufgabe, die nicht mehr sein darf als sie in einem Fach an durchgehender Arbeitszeit veranschlagen würden (wir erinnern uns: Abzüglich der Zeit, in der man redet, scherzt, einen Spruch bringt, organisiert). Dann haben die Schüler vier Tage Zeit, die Aufgabe zu machen. Am vierten Tag ist Abgabe. Jetzt ist für die Lehrperson Zeit, die Aufgaben anzuschauen, um am nächsten Tag in einer virtuellen Konferenz ODER als Feedback ODER als Audiofeedback ODER als Video eine Rückmeldung zu geben.

Der Teil einer Aufgabe kann dabei auch sein, von den Schüler*innen neben der Aufgabe auch einzufordern Fragen zu stellen oder zu erläutern, was besonders schwierig gewesen ist. Auf diese Weise wird der digitale Fernunterricht zu einer Fernlerntheke, in der im besten Fall eine individuelle Beratung erfolgen kann. Und zwar eine, die positiven Beispiele herausnimmt und so dafür sorgt, dass die Kolleg*innen sich auch nicht in den Burnout arbeiten (es ist nicht übertrieben: Während die einen sehr relaxed sind und die Aufgaben rausgeben und dann wenig anschauen, korrigieren sich andere die Finger wund).

Was ich bisher noch nicht weiß, ist, ob sich dieses System auch für ganze Fachschaften oder sogar Schulen anbieten würde. Man stelle ich vor, dass die Schüler*innen wüssten, dass beispielsweise Montag “Sprachentag” ist. Sie wüssten, es gilt 4+1, aber sie können es einteilen, wie sie wollen. Könnte dies nicht für eben jene Form der flexiblen Verbindlichkeit sorgen, von der ich gesprochen habe? Ich werde weiter darüber nachdenken.

Visualisierung von Wibke Tiedmann

Fazit

Digitaler Fernunterricht ist kein Unterricht. Und Digitalität und Ferne spielen nur zweitrangig eine Rolle. Der Punkt bei digitalem Fernunterricht ist viel eher, dass es sich um begleitetes, zeitgemäßes Lernen handelt.

Je eher Lehrer*innen und Lehrer sowie Eltern dies versuchen in ihre Überlegungen einzubeziehen, desto eher werden wir es schaffen einen Rahmen zu schaffen, in dem nicht nahezu alle Beteiligten überfordert sind. Ich hoffe sehr, dass dieser Artikel eine Anregung sein kann, die Haltung dementsprechend zu überdenken und über alternative Maßnahmen bei digitalem Fernunterricht nachzudenken.

Wegweiser Referendariat

Dieser Beitrag ist Teil des Buches „Wegweiser Referendariat“, in dem alle wichtigen Blogartikel zum Referendariat vollständig überarbeitet, erweitert und angepasst in einem handlichen Buch auf 200 Seiten gesammelt sind.

Der Lehrer und Schulleiter Jan-Martin Klinge urteilt über das Buch: „Es ist ganz einfach: Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie ein besserer Lehrer“.

17 Kommentare

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