BILDUNG: Die Schule brennt - ein Hilferuf aus der Community

Bob Blume
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8. Dezember 2024
7 Kommentare
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Das deutsche Bildungssystem kämpft mit einer Vielzahl von Herausforderungen, die Lehrkräfte, Schüler:innen und Eltern gleichermaßen belasten. Während es wichtig ist, darüber zu sprechen, was jetzt schon gut läuft oder an welchen Stellen Schule anders gelingt (zum Beispiel in den zahlreichen Folgen von "Die Schule brennt"), muss auch auf die Baustellen hingewiesen werden. In einer Umfrage habe ich meine Instagram-Community gefragt, welche Probleme an ihren Schulen aktuell am drängendsten sind. Die Rückmeldungen zeigen ein System, das in vielen Bereichen an seine Grenzen stößt. Die engagierten Lehrkräfte stemmen sich täglich gegen diese Missstände – oft unter enormer persönlicher Belastung. Im Folgenden stelle ich die zentralen Problembereiche detailliert dar, ergänzt um neue Einblicke aus der Praxis.

Anmerkung zur Nutzung von KI und Aussagekraft

An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass ich für die Strukturierung der zahlreichen Beiträge (wir sprechen von über 100, die eingeflossen sind, weitere 100-150 konnten gar keine Berücksichtig finden) die neueste Version von ChatGPT genutzt habe. In dem Prompt sollte die KI die Aussagen Kategorien zuordnen und die Rückmeldung entsprechend strukturieren. Eine Arbeit, die ohne KI mehrere Stunden gekostet hätte. Die Ergebnisse wurden von mir auf Richtigkeit überprüft. Das Artikelbild wurde mit Midjourney generiert.

Es ist klar, dass die Ergebnisse keinen wissenschaftlichen Anspruch haben. Es ist insofern auch keine Erfassung, die alle Schulformen und Bundesländer beinhaltet. Es handelt sich um eine unsystematische Sammlung von Erfahrungen, die direkt aus der Praxis stammen. Dies kann man beanstanden. Auf der anderen Seite war genau dies mein Ziel: Eine Problembeschreibung direkt aus der Praxis, die hinter die zahlreichen Studien blickt, die die hier beschriebenen Probleme bestätigen. Ich danke meiner Community für die Offenheit der Rückmeldungen, die sich im Einzelnen unter anderem in meinem Instagram-Channel nachlesen lassen. 

Problemfelder und Erfahrungen

1. Lehrermangel und Überlastung

Der akute Lehrermangel betrifft nahezu alle Schulformen und Regionen. Die Arbeitsbelastung der verbleibenden Lehrkräfte hat ein Niveau erreicht, das viele an den Rand der Erschöpfung bringt.

Hauptschule, ländliches NRW: In einer Schule mit rund 300 Schüler:innen und nur zwei sonderpädagogischen Stunden pro Woche müssen die Klassenlehrkräfte alle Aufgaben der sonderpädagogischen Förderung selbst übernehmen – von Förderplänen bis zur differenzierten Unterrichtsgestaltung. Eine Lehrerin berichtet: „Ich differenziere Klassenarbeiten fünffach und schreibe für jedes Kind ohne B1-Niveau einen ausführlichen Lernstandsbericht. Der Spagat ist kaum zu bewältigen.“
Oberschule, Cottbus: Lehrkräfte stehen vor überfüllten Klassen mit bis zu 30 Schüler:innen, darunter viele mit besonderen Bedarfen. Eine Lehrerin beschreibt: „Wenn ich nur unterrichten müsste, hätte ich ein tolles Leben. Mit allem Drumherum arbeite ich mit meiner 88%-Stelle 50+ Stunden. Der Akku ist leer.“
Grundschule, Hessen: Immer mehr „verhaltenskreative“ Kinder und solche, die aufgrund des Stichtages eingeschult werden, aber noch nicht schulreif sind, belasten Lehrkräfte zusätzlich. Es gibt keine Unterstützung durch weitere Pädagog:innen im Raum, obwohl Teamteaching hier enorm entlastend wirken könnte.

Die Frustration wächst, weil die Lehrkräfte oft das Gefühl haben, dass ihre Bemühungen nicht gewürdigt werden und dass ihre eigenen Bedürfnisse – wie ausreichende Arbeitszeit und Gesundheitsschutz – völlig ignoriert werden.

2. Fehlende Inklusion und Unterstützung

Inklusion wird vielerorts als Herausforderung empfunden, weil die notwendigen Rahmenbedingungen fehlen. Lehrkräfte berichten, dass sie den Anforderungen nicht gerecht werden können.

Hauptschule, NRW: Die Förderung von Schüler:innen mit besonderem Bedarf liegt fast vollständig in den Händen der Klassenlehrkräfte. Diagnostische Verfahren wie AO-SF müssen selbst initiiert und durchgeführt werden, während traumatisierte geflüchtete Kinder ohne adäquate Unterstützung bleiben.
Grundschule, Hessen: Kinder, die nicht schulfähig sind, werden „mitgezogen“, obwohl sie dem Unterricht noch nicht folgen können. Ohne zusätzliche Unterstützung sind die Lehrkräfte überfordert und können den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht werden.
Oberschule, Cottbus: In einer Klasse mit 27 Schüler:innen sind vier mit Förderschwerpunkt Lernen, sieben mit geringen Deutschkenntnissen und ein Kind mit ADHS ohne Therapie integriert – eine enorme Belastung, die ohne Unterstützung kaum zu bewältigen ist.

Die emotionalen Schilderungen zeigen, wie sehr Lehrkräfte an ihre Grenzen kommen: „Es tut weh, die Kinder zu sehen, die Hilfe brauchen, und zu wissen, dass ich sie nicht geben kann.“

3. Marode Gebäude und fehlende Ausstattung

Viele Schulen kämpfen mit schlechter Infrastruktur, die den Unterricht zusätzlich erschwert. Von veralteten Gebäuden bis hin zu unzureichender technischer Ausstattung reichen die Probleme.

Grundschule, Schleswig-Holstein: Fehlende digitale Tafeln und defekte Geräte behindern die Unterrichtsgestaltung.
Gymnasium, Niedersachsen: Raum- und Platzmangel führen dazu, dass Schüler:innen teilweise ohne Sitzplatz arbeiten müssen oder hinter Säulen sitzen, wo sie die Tafel nicht sehen können.
Hauptschule, NRW: Trotz der erkennbaren Notwendigkeit fehlen selbst grundlegende Hilfsmittel und Materialien. Die Verwaltung schlägt „Hilfekärtchen“ vor – eine Maßnahme, die das Kollegium mit Sarkasmus quittiert: „Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich totlachen.“

Die Missstände in der Infrastruktur verstärken das Gefühl vieler Lehrkräfte, dass Bildung nicht ausreichend priorisiert wird.

4. Herausforderungen der Integration

Die steigende Heterogenität in den Klassen – sowohl kulturell als auch sprachlich – wird durch fehlende Ressourcen zur Unterstützung zusätzlich erschwert.

Hauptschule, NRW: In einer 8. Klasse sind 24 Schüler:innen, darunter acht ukrainische, zwei afghanische, drei rumänische und zwei syrische Kinder. Viele sprechen auch nach Jahren kaum Deutsch, und es fehlt an Unterstützung durch DaZ-Lehrkräfte.
Grundschule, Hessen: Verhaltensauffällige Kinder und solche, die kaum auf den Schulalltag vorbereitet sind, stellen eine tägliche Herausforderung dar. Ohne zusätzliche Fachkräfte bleibt diese Last allein bei den Lehrkräften.
IGS, Hessen: Deutschunterricht für geflüchtete Kinder oder Kinder mit Migrationshintergrund gleicht oft einem DaZ-Kurs, weil viele Schüler:innen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Regelklassen integriert werden.

Die Lehrkräfte sind häufig frustriert, weil sie trotz aller Anstrengungen nicht die Zeit und Mittel haben, um die Kinder angemessen zu fördern.

5. Bürokratie und unklare Verantwortlichkeiten

Die wachsende administrative Belastung nimmt Lehrkräften Zeit und Energie, die sie dringend für die pädagogische Arbeit benötigen würden.

Hauptschule, NRW: Lehrer:innen müssen nicht nur Förderpläne und Berichtszeugnisse schreiben, sondern auch diagnostische Verfahren selbst organisieren und umfangreiche Berichte für jede Schülerin und jeden Schüler anfertigen.
ISS, Berlin: Die Bürokratie nimmt Überhand, während gleichzeitig viele Entscheidungen nicht klar kommuniziert werden. Lehrkräfte fühlen sich im Stich gelassen.

Die administrative Last sorgt für Frust und Überforderung. Eine Lehrerin fasst zusammen: „Ich bin mehr Verwalterin als Lehrerin – und das kann nicht unser Anspruch sein.“

6. Fehlende soziale und pädagogische Unterstützung

Gerade Schulen in sozialen Brennpunkten oder ländlichen Regionen berichten von einem eklatanten Mangel an Schulsozialarbeit und Förderpersonal.

Oberschule, Cottbus: Zwei Kinder wurden frisch in Obhut genommen, ein weiteres steht kurz davor. Das Kollegium fühlt sich allein gelassen und überfordert.
Grundschule, Hessen: Verhaltensauffällige Kinder, die intensive Betreuung benötigen würden, bleiben ohne zusätzliche Unterstützung. Die Lehrkräfte arbeiten am Limit, was auf lange Sicht ihre Gesundheit gefährdet.

Das Fehlen von Unterstützung führt dazu, dass Lehrkräfte mit Problemen kämpfen, die über ihren eigentlichen Bildungsauftrag hinausgehen. „Wir sind keine Therapeut:innen oder Sozialarbeiter:innen, aber wir müssen diese Rolle jeden Tag übernehmen.“

7. Digitalisierung als Baustelle

Die Digitalisierung schreitet nur schleppend voran. Fehlende Technik, mangelnde Wartung und eine unzureichende Infrastruktur erschweren den Einsatz moderner Medien.

Grundschule, Schleswig-Holstein: Digitale Tafeln und andere Geräte wurden wegen bürokratischer Hürden nicht rechtzeitig installiert.
Realschule, Baden-Württemberg: Admin-Stellen fehlen, sodass Lehrkräfte technische Probleme oft selbst lösen müssen.

Die Frustration über die verpassten Chancen ist groß: „Wir könnten so viel mehr erreichen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden.“

Fazit

Die Rückmeldungen aus der Community zeigen ein Bildungssystem, das in vielen Bereichen überlastet ist. Lehrkräfte fühlen sich alleingelassen, überfordert und oft ausgebrannt. Die Frage bleibt: Wie lange kann das System die immense Belastung noch aushalten, bevor es endgültig zusammenbricht? Und wann wird Bildung in Deutschland endlich die Priorität bekommen, die sie dringend verdient?

Gerne können an dieser Stelle weitere Kommentare angefügt werden. Dies ist auch mit falschen E-Mailadressen und damit unter Wahrung der Anonymität möglich.

P.S.

Zwei weitere Aspekte möchte ich anfügen: Zum einen wird mir persönlich und allen, die auf Probleme und Herausforderungen aufmerksam machen Alarmismus vorgeworfen. Das möchte ich entscheidend zurückweisen. Zum einen haben wir objektiv riesige Probleme. Wer dies verneint, hat Glück in einer anderen Realität zu leben oder verschließt einfach nur die Augen. Das, was ich tun kann, und das ist der zweite Punkt, ist Sichtbarkeit schaffen. Dies gelingt mit einem solchen Beitrag sofern er geteilt wird, aber auch mit anderen Mitteln, die sich womöglich in der nächsten Zeit ergeben. Stay tuned.

7 comments on “BILDUNG: Die Schule brennt - ein Hilferuf aus der Community”

  1. Vieles kann ich fürs Thüringer Gymnasium nur bestätigen. Wir sind zwar weitgehend digitalisiert, aber es fehlen die Mittel für entsprechende Software. So ist z.B. eine Notenverwaltung digital nicht möglich. Trotz moderner Technik arbeiten wir mit Papierlisten. Schulsozialarbeiter gibt es nicht, das müssen die Kollegen selbst bewältigen. Gerade bei den älteren Kollegen ist die Frustration hoch, weil das alles schon mal besser lief.

  2. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, wann für alle das System offiziell zusammengebrochen ist?? Woran werden wir (Lehrkräfte) oder die anderen (Entscheidungsträger) den Zeitpunkt erkennen??
    Welche Schilderungen sollen noch wie oft wiederholt werden?? Wie viele Kinder wollen wir noch bewusst zurücklassen??

    Das niedergebrannte Schulgebäude ist nur ein Bild, die Realität nicht.

    Menschen im Bildungssystem werden weiter ohne Schutz in das brennende Gebäude rennen, um so viele Kinder und Jugendliche wie möglich zu retten. Erst, wenn keiner mehr rennt, wird es von außen sichtbar sein.
    Ich habe mich damit abgefunden, nicht mehr alle Schüler:innen retten zu können, nur so kann ich überhaupt noch retten. Aber es zerbricht mir das Herz.

    1. Ich frage mich auch: wann und wer entscheidet, dass das System endgültig zusammengebrochen ist? Wir an der Basis haben schon längst das Gefühl. Doch in der Politik verschließen sie weiterhin die Augen und lachen sich ins Fäustchen. So schade, dass wir nicht streiken können… dann würde es wohl vielleicht was werden mit Erkenntnis, dass das System erneuert oder saniert werden muss. Alles so traurig …

      1. Das wäre doch mal was - wenn die Lehrkräfte streiken. Was will der Staat tun? Alle entlassen? Schwer vorstellbar... Müssten ja auch nicht alle Lehrkräfte sein, wenn die Hälft mitmacht ist schon sehr, sehr viel Sichtbarkeit da.

    2. Genau so ist es. Wir leben in diesem Beruf in dem Dilemma, dass es uns letztendlich um die Kinder geht und die können in der Regel am allerwenigsten für die ganze Misere. Deshalb rennen wir unermüdlich in das brennende Schulhaus. Und das ist auf lange Sicht fatal.

  3. Danke für den Post, Bob Blume! Es ist wichtig, dass jemand mit deiner Reichweite die Probleme im Bildungssystem beleuchtet. Dafür ein Dankeschön! Doch wir sollten nicht nur Symptome diskutieren, sondern auch Reiter und Ross benennen und den Weg offenlegen, der uns in diese Krise geführt hat. Die aktuellen Probleme sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Resultat von Entscheidungen und mangelnder Haltung.

    Ein Beispiel: In Berlin erleben wir ein kollabierendes Schulsystem, das trotz neuer Sparmaßnahmen vor grundlegenden Herausforderungen steht. Schulleitungen möchten dringend neues Personal einstellen, dürfen es aber nicht. Gleichzeitig werden gesellschaftswissenschaftliche Fächer zurückgedrängt und der Ausbau von Förderschulen vorangetrieben – ein Ansatz, der im Gegensatz zu modernen Inklusionskonzepten steht. Besonders dramatisch ist, dass eine große Zahl von geflüchteten Kindern und*oder Jugendlichen mit Behinderungen betroffen ist. Deutschland hat bei der Überprüfung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Bildung eine 6 erhalten – ein ernüchterndes Ergebnis, das klar aufzeigt, wie unzureichend Menschenrechte in diesem Kontext berücksichtigt werden.

    Unter „Inklusion“ fallen übrigens mehrere der von Dir genannten Phänomene. Leider wird Inklusion oft als zusätzliche Belastung für Lehrkräfte wahrgenommen, anstatt als Menschenrecht und essenzieller Grundpfeiler einer gerechten Gesellschaft. Das zeigt, wie sehr das Managementsystem des Bildungswesens versagt hat: Anstatt Bildung und Teilhabe als Prioritäten zu setzen, liegt der Fokus auf Hierarchien und ökonomischer Effizienz – mit verheerenden Folgen.

    Warum fehlt der Widerstand? Wo bleibt der Protest gegen das Zwei-Klassen-System der Verbeamtung, gegen schlechte Rahmenbedingungen und systemische Diskriminierung? Solange Lehrkräfte und andere Betroffene nicht gemeinsam für Solidarität und bessere Bedingungen eintreten, wird sich an dieser destruktiven Dynamik wenig ändern.

  4. Welche neue Erkenntnis haben wir jetzt gewonnen? Das ist schon seit Jahren so und seit Jahren bekannt. Auch die Politik kennt die Klagen. Von Betroffenen für Betroffene geschrieben. Damit wir uns im eigenen Elend suhlen? Damit wir uns besser oder schlechter fühlen? Was ändern? Aber wie? Jetzt wissen wir warum unsere eigene Lehrer und später unsere älteren Kollegen irgendwann fertig waren und in die innere Immigration gegangen sind.

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