Sibylle Berg: Nacht (2001)[1]

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Vorbemerkung I:

In fast allen Schulformen ist die Interpretation eines Prosatextes ab der 7. bzw. 8. Klasse Pflicht. Jedoch unterscheiden sich die Anforderungen und Vorgehensweisen oftmals von Schule zu Schule und von Lehrperson zu Lehrperson. Deshalb ist es an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Interpretation eine Möglichkeit der Deutung aufzeigt, ohne jedoch Anspruch auf Übertragbarkeit zu erheben.

Vorbemerkung II:

Es gibt unendlich viele Arten, sich Texten zu nähern. Sie können psychologisch, philosophisch, marxistisch oder historisch[2] gedeutet werden. Oftmals wird in den höheren Klassenstufen – vor allem in der Kursstufe – gefordert, dass die Literaturepoche in der Schlussbetrachtung eine definierende Rolle einnimmt. Auch das Leben des Autors fließt oftmals in Deutungen ein. Dies soll hier nicht geschehen. Ausgegangen wird von einer Texthermeneutik, die ausschließlich darauf schaut, was anhand des Textes zu verstehen, abzulesen und zu deuten ist. Generell sollte darauf geachtet werden, dass es nicht darum geht, zu rätseln, was die Autorin oder der Autor im Sinn hatte, sondern darum, was der Text selbst zu sagen hat. Insofern sind auch Schlüsse, die über den Text hinausgehen meistens nicht zielführend, da die Personen, Orte und Zeiten nur innerhalb des Textes bestehen, den man vor sich hat.

Vorbemerkung III:

Die Struktur einer Interpretation ist zwar oftmals gleich; Lehrpersonen, Schulen und Universitäten haben jedoch unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte. Aus diesem Grund ist auch hier zu sagen, dass diese Interpretation keinen Anspruch auf Allgemeinheit erhebt.

Hier geht es zum neuen Artikel, der die Aspekte von Kurzgeschichten darstellt und erläutert. 

Weitere Ausführungen zum Thema Kurzgeschichten gibt es in dem Band „Endlich Kurzgeschichten verstehen”. Dabei handelt es sich um eine Schülerhilfe, mit präzisen Tipps für bessere Interpretationen, Interpretationshilfen, vollständigen Interpretationen und einem großem Methoden- und Fachglossar.

Die Parallelwelt des Ausbruchs[3]

In der 2001 im Verlag Kiepenheuer und Witsch in der Sammlung „Herrengeschichten“ von Sibylle Berg verfassten Kurzgeschichte „Nacht“ geht es um den mutigen Ausbruch aus der monotonen Welt der alltäglichen Routine.

Die Kurzgeschichte kann in drei Sinnabschnitte gegliedert werden, die – je nach Version – schon durch Absätze getrennt sind. Im ersten Absatz (Z. 1-9) geht es um die alltägliche Lebensroutine von tausenden Menschen, die vom auktorialen Erzähler ironisch kommentiert wird. Im zweiten Abschnitt (Z.10-22) werden zwei junge Menschen vorgestellt, die zunächst unabhängig voneinander sowohl gedanklich als auch räumlich aus dieser Monotonie entfliehen wollen. Im dritten und letzten Abschnitt (Z. 23-39) kommen sich die beiden jungen Menschen nah und erleben einen Moment des gemeinsamen Entrücktheit von einer in dumpfer und unreflektierter Wiederholung erstarrten Welt.

Der Einstieg der Kurzgeschichte benennt die beiden Protagonisten als noch unbekannte „Sie“ (Z.1), die „in den Abend geschoben“ werden und Teil einer Masse von „Tausenden“ (Z.1) sind. Noch ist nicht klar, wer mit dem Personalpronomen gemeint ist. Die Spannung, die sich hieraus ergibt, wird erst im zweiten Abschnitt aufgelöst. Die Passivität, in der die noch unbekannten beiden schon zu Beginn der Kurzgeschichte sind, wird durch das Partizip „geschoben“ deutlich. Nicht sie sind es, deren aktive Bewegung sie hinaus aus der Stadt führt. Sie werden vielmehr hinaus gedrängt.

Schon im zweiten Absatz zeigt sich der auktoriale Erzähler, dessen Wiederholung des steigernden Adverbs „zu“ (Z.2) verdeutlicht, dass auch er die Anzahl der Menschen, die „zu dicht“ (Z.2) aneinander stehen, für unerträglich hält. Der rosa Himmel verdeutlicht den Abend und somit auch die Tageszeit, an der die Menschen von der Arbeit nach Hause gehen, um sich ihrer allabendlichen Routine zuzuwenden. Diese wird vom Erzähler bewusst durch die Möglichkeitsform – den Konjunktiv – beschrieben. Denn diejenigen, um die es hier geht, scheinen keine andere Möglichkeit zu haben als die, von der der Erzähler ausgeht. Sie „säßen auf der Couch“ (Z.4), nachdem sie nach Hause gegangen sind und beschäftigen sich mit banalen Dingen wie „Gurken essen“ (Z.4). Allerdings wird hier deutlich, dass sie – die Daheimgebliebenen – durchaus wissen, dass es einmal ein anderes Leben gab. Denn sie schauen „mit einem kleinen Schmerz“ (Z.5) den Himmel an. Und in der Tat: Der Erzähler konstatiert, es sei „eine Nacht wie geschaffen, alles hinter sich zu lassen“ fragt aber, gleichsam für die im Zimmer befindlichen Menschen: „aber wofür?“ (Z.7). Resignation schwingt hier mit, die diejenigen umtreibt, die nichts mehr Neues vom Leben erwarten. Sie haben die Sehnsucht zwar nicht vergessen. Warum sie trotzdem nichts unternehmen, wird aber deutlich, wenn der Erzähler ihnen zuspricht, dass sie gleich einer Maschine „funktionieren“ (Z.7), in dem „was Halt schien“ (Z.7). Der Halt, der hier für soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen stehen kann, „kennt keine Pausen, Regeln, keine stille Zeit“. Also: Die Menschen sind gefangen in ihrem eigenen goldenen Käfig. Sie können sich nicht „verunsichern, mit dummen Fragen“ (Z.9).

Auch hier tritt der auktoriale Erzähler in eine ironische Distanz zum Erzählten. Denn Fragen an sich selbst und den Lebenssinn könnten, wenn sie zu neuem Handeln anregen würden, alles andere als dumm sein. Aber sie könnten eben auch dazu führen, dass das Leben, wie es nun geführt wird, im wahrsten Sinne des Wortes hinterfragt wird. Das dies ab einer bestimmten Lebenszeit schwierig ist, verdeutlicht ein später artikulierter Satz: „Sie waren jung, da hat man manchmal noch Mut“ (Z.10). Die Jugend selbst wird also als mutig genug bewertet, den Austritt aus der Routine zu wagen, was die beiden auch tun (Vgl. Z.10). „Unabhängig voneinander“ (Z.12) gehen die beiden aus dem Haus – was den Erzähler dazu ermutigt, ironisch zu kommentieren, dies sei „kein Wunder bei so vielen Menschen“, dass „sich Gedanken gleichen“ (Z.13). Diese Kommentare bringen Dynamik in die Geschichte, denn hier widerspricht sich das vorherige Geschehen mit dem, was die beiden „Ausnahmen“ tun. Ihr Handeln ist bedeutend, da es ein Ausbruch darstellt, und wird gleichzeitig relativiert. Der Kommentar scheint die Banalität eines Ausbruchs festhalten zu wollen. Als wenn er sagen wollte, dass es genug Menschen geben würde, die den Schritt aus der endlosen Wiederholung wagen würden, wenn sie nur wüssten, dass sie existieren. Sie müssten sich „nur“ finden.

Ausgebrochen aus der geschützten (Vgl. 14) Stadt und auf einem (symbolisch aufgeladenen) Berg über ihr, finden sich die beiden tatsächlich als wenige von vielen. Doch zuvor genießen sie noch alleine. Dass die Alpen hören, wenn man sie ruft und dass sie ihnen Namen geben können, verweist weniger auf die Natur der Umgebung als auf die des Menschen. In der Freiheit der Natur können die beiden das tun, was Menschen tun, wenn sie aus dem „Halt“ entfliehen: Den Dingen Namen geben. Man könnte auch sagen: Die Dinge beim Namen nennen – gleichsam als Antithese zu der „dummen Frage“, die sich keiner zu stellen traut.

Sie steigen „400 Stufen“ zum Aussichtsturm und man fragt sich, warum denn hier die Anzahl der Stufen eine Rolle spielt. Es ist die Anstrengung, nicht nur der Mut, der den Ausbruch ermöglicht. Die Jugend und der Mut gepaart mit Anstrengung und dem Willen, das Andere zu sehen und zu spüren ist es, die die beiden förmlich „über den Dingen“ stehen lässt.

Da sich die beiden nicht kennen, sitzen sie „an entgegen gesetzten Enden“ (Z.18) und sind sogar „mürrisch“ (Z.18), dass sie nicht alleine sind. „So sind die Menschen“ heißt es da lakonisch[4] (Z.19).

Doch beide tun das, was man nur tun kann, wenn man sich aus der Zielstrebigkeit des ewig gleichen löst. Sie „dachten in die Nacht“ (Z.20) vom „Fliegen“, „Weggehen“ und „Niemals-Zurückkommen“ (Z.21). Sie bemerken nicht, dass sie ihre Gedanken laut sagen und sich näher kommen. In der Kurzgeschichte ist dies ganz räumlich gemeint, aber der Schluss wird zeigen, dass die Natur des gemeinsamen Sich-Näherkommens auf einer gedanklichen Nähe fußt, die alles andere zurücklässt.

Und nochmals wird die Tatsache, dass sich die Gedanken der beiden Ausreißer ähneln, vielen Menschen entgegengehalten, als wenn sich der Erzähler dafür entschuldigen müsse, dass die beiden von ihm beobachteten Figuren eine Gemeinsamkeit haben, die sie einander näher kommen lässt.

Der Konjunktionalsatz „Und doch…“ (Z.24) lässt den Erzähler dann doch die Besonderheit der Situation betonen.

Die beiden sprechen miteinander mit „weichen“ Worten (Z.25) und die Beschreibung der Unterhaltung gipfelt in den dem „süßen Brei, den Verliebte aus ihren Mündern lassen, um sich darauf zum Schlafen zu legen“ (Z.27). Aus den in die Luft gesagten Gedanken, die die beiden hatten, bevor sie voneinander Notiz nahmen, werden so solche, die einander Halt geben. Die Personifikation macht aus den Worten gleichsam ein gemeinsames Ruhelager.

In ihrem gemeinsamen Erleben nehmen sie alles, was um sie herum geschieht, in einer bestechenden Natürlichkeit wahr. „Wind“, „Tiere“ und „der „Geruch des anderen“ werden so wichtig, dass sie nicht wissen „was schöner war“ (Z.28f.). Das erste Mal sprechen die beiden. Der Junge spricht davon, dass es „so einfach“ sei, dieses Erleben zu haben, während das Mädchen befürchtet, dass alles wieder vergessen werden wird. Ein kleiner und wichtiger Dialog zwischen den beiden, der die Frage danach aufwirft, ob man den kleinen Ausbruch wagen mag, selbst wenn er nicht für ewig anhält.

Der nun angeführte Satz lässt offen, ob es sich weiterhin um die Aussagen des Mädchens oder diejenigen des Erzählers handelt. „Alles vergisst man, das einem gut tut, und dann steigt man wieder in die Straßenbahn, morgens, geht ins Büro, nach Hause, fragt sich, wo das Leben bleibt.“ Der Satz sticht heraus, weil er offener als zuvor klar macht, zwischen welchen Welten die Menschen sich befinden. Zwischen der Welt des Tages, des Halts, an dem für das Ein- und Auskommen gesorgt wird und der Tag der titelgebenden Nacht, in der entschieden werden muss, ob man die „Gurken“ auf dem „Sofa“ sitzt oder hinaus geht, um sich „dumme Fragen“ zu stellen. Während die Stadt, personifiziert als Lebewesen, beginnt zu „atmen“ (Z.35) und so die Individuen, die in ihr leben, nicht als solche annimmt, sondern nur als Teil eines Ganzen, aus dem man nicht entfliehen kann, sitzen die beiden bis zum Morgen da. Und wieder beginnt der Kreislauf, betont durch die Wiederholung der „Tausenden“ (Z.1 und 34), die aus den Häusern gehen.

Die beiden jungen Menschen jedoch haben eine Erkenntnis; nämlich, dass es ihr Ende sein würde, wieder in diese Stadt, also in diesen Kreislauf des sich Wiederholenden Nichts zurückzukehren.

Der Junge folgert, dass es für ihn nur noch das Mädchen und ihn selbst – „nur noch uns“ – geben sollte, dass sie sich also zurückziehen könnten, in ihre eigenen Welt der Wahrnehmungen, wie sie sie in der Nacht erlebt hatten. Und das Mädchen gibt ihm in Gedanken Recht (Z.37) „und im gleichen Moment verschwand die Welt“. Und weiter: „Nur noch ein Aussichtsturm, ein Wald, ein paar Berge blieben auf einem kleinen Stern“ (Z.39).

Es wäre nun zu einfach, die Kurzgeschichte als eine Anklage gegenüber jenen zu sehen, die ihren routinemäßigen Tagesablauf haben und sich keine Frage mehr über das stellen, was ihr Leben ausmacht. Die Kurzgeschichte bietet mehr. Der Konflikt zwischen der Mutlosigkeit gegenüber einem selbst und der Welt und gegenüber den anderen, der Konflikt zwischen Ausbruch und Halt und zwischen Passivität und Aktivität wird aufgelöst in der intimen Nähe zu einem Menschen, der versteht, welche Fragen offen bleiben.

Insofern muss das letzte Wort der Kurzgeschichte auch keinen Stern im Himmel, sondern die Welt selbst sein. Das, was bleibt, ist die Welt als ferner Planet. Die Welt selbst, mit all ihren Unzulänglichkeiten, verschwindet durch ein liebevolles Einvernehmen zwischen zwei Menschen, die Eintönigkeit nicht hinnehmen wollen. Und hier liegt der tiefe Optimismus der Kurzgeschichte. Der Traum vom „Fliegen“ und „Niemals-Zurückkommen“, wie ihn die beiden jungen Menschen „in die Nacht“ träumen, wäre zu einfach und zu schwer. Zu einfach, weil auch dorthin, wo man weggeht, Menschen und Strukturen sind, denen man sich unterwerfen muss. Zu schwer, weil es eben nicht nur 400 Schritte sind, die man machen kann, um weg zu sein.

Was aber möglich ist „bei so vielen Menschen auf der Welt“ ist das Gemeinsame Aufbrechen, die liebevolle Zweisamkeit, die auch Mut und Anstrengung braucht, die aber auch – auf der Welt – die Welt verschwinden lassen kann. Und so kann man weiterleben in einer Parallelwelt des Aufbruchs.

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[1] aus: Sibylle Berg. Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2001.

[2] Und viele weitere Ansätze

[3] Überschriften werden so gut wie nie gefordert. Die hier verwendete Überschrift ergibt sich aus dem Willen des Autors, einen Schwerpunkt zu setzen.

[4] treffende, schmucklose Bemerkung

36 Kommentare

  1. Wow, ich bin begeistert. Ich plane diese Kurzgeschichte im Unterricht einzusetzen, haben Sie dazu schon Erfahrungen sammeln können? Über eine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen 🙂

    • Ja, auf jeden Fall. Aber diese aufzuschreiben, würde ein paar Seiten füllen. Machen Sie sich zunächst Gedanken darüber, was der Kern ihrer Stunde ist, was die Schüler erarbeiten sollen und wie sie dort hingelangen. Dann ist schon viel gewonnen. Liebe Grüße

  2. […] die im Unterricht der verschiedenen Schularten eine gewichtige Rolle spielen. Darunter waren die  Interpretation einer Kurzgeschichte, Möglichkeiten der Interpretation von Gedichten, einer Parabel und einer gesamten Deutung von […]

  3. Worum es in dieser Geschichte eigentlich ging, verstand ich erst, als ich las, wie es um einen Mann und ein Mädchen geht. Dass der Mann ständig nichts durchmachte. Eine Art Nichts. Ich habe für eine Minute vergessen, was ich gelesen habe. Ich scrollte und las zwei Seiten und vergaß es im zweiten Viertel der Seite rechts unten. Ich habe den Kommentar de Rudy dazu gelesen, dass es sich um einen Aufsatz handelte, aber diesen Teil habe ich übersehen.
    Er sagte, es hat sehr geholfen, gut.

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