UNTERRICHT: Sibylle Berg "Hauptsache weit"

Bob Blume
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5. Dezember 2018
10 Kommentare
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Nachdem auf diesem Blog schon die Interpretation von "Nacht" veröffentlicht worden ist, bin ich endlich dazu gekommen, ein weiteres Interpretationsvideo zu veröffentlichen. Mit freundlicher Erlaubnis von Sibylle Berg kann ich den Text, auf den sich dieses Video bezieht, hier veröffentlichen. 

Sibylle Berg

Hauptsache weit

Und weg, hatte er gedacht. Die Schule war zu Ende, das Leben noch nicht, hatte noch nicht begonnen, das Leben. Er hatte nicht viel Angst davor, weil er noch keine Enttäuschungen kannte. Er war ein schöner Junge mit langen dunklen Haaren, er spielte Gitarre, komponierte am Computer und dachte, irgendwie werde ich wohl später nach London gehen, was Kreatives machen. Aber das war später.

Und nun?

Warum kommt der Spaß nicht? Der Junge hockt in einem Zimmer, das Zimmer ist grün, wegen der Neonleuchte, es hat kein Fenster und der Ventilator ist sehr laut. Schatten huschen über den Betonboden, das Glück ist das nicht, eine Wolldecke auf dem Bett, auf der schon einige Kriege ausgetragen wurden. Magen gegen Tom Yan, Darm gegen Curry. Immer verloren, die Eingeweide. Der Junge ist 18, und jetzt aber Asien hatte er sich gedacht. Mit 1000 Dollar durch Thailand, Indien, Kambodscha, drei Monate unterwegs und dann wieder heim, nach Deutschland. Das ist so eng, so langweilig, jetzt was erleben und vielleicht nie zurück. Hast du keine Angst, hatten die blassen Freunde zu Hause gefragt, so ganz alleine? Nein, hatte er geantwortet, man lernt ja so viele Leute kennen unterwegs. Bis jetzt hatte er hauptsächlich Mädchen kennen gelernt, nett waren die schon, wenn man Leute mag, die einen bei jedem Satz anfassen. Mädchen, die aussahen wie dreißig und doch so alt waren wie er, seit Monaten unterwegs, die Mädchen, da werden sie komisch. Übermorgen würde er in Laos sein, da mag er jetzt gar nicht daran denken, in seinem hässlichen Pensionszimmer, muss Obacht geben, dass er sich nicht aufs Bett wirft und weint, auf die Decke, wo schon die anderen Dinge drauf sind. In dem kleinen Fernseher kommen nur Leute vor, die ihm völlig fremd sind, das ist das Zeichen, dass man einsam ist, wenn man die Fernsehstars eines Landes nicht kennt und die eigenen keine Bedeutung haben. Der Junge sehnt sich nach Stefan Raab, nach Harald Schmidt und Echt[1]. Er merkt weiter, dass er gar nicht existiert, wenn es nichts hat, was er kennt.Wenn er keine Zeitung in seiner Sprache kaufen kann, keine Klatschgeschichten über einheimische Prominente lesen, wenn keiner anruft und fragt, wie es ihm geht. Dann gibt es ihn nicht. Denkt er. Und ist unterdessen aus seinem heißen Zimmer in die heiße Nacht gegangen, hat fremdes Essen vor sich, von einer fremdsprachigen Serviererin gebracht, die sich nicht für ihn interessiert, wie niemand hier. Das ist wie tot sein, denkt der Junge. Weit weg von zu Hause, um anderen beim Leben zusehen, könnte man umfallen und sterben in der tropischen Nacht und niemand würde weinen darum. Jetzt weint er doch, denkt an die lange Zeit, die er noch rumbekommen muss, alleine in heißen Ländern mit seinem Rucksack, und das stimmt so gar nicht mit den Bildern überein, die er zu Hause von sich hatte. Wie er entspannt mit Wasserbüffeln spielen wollte, in Straßencafés sitzen und cool sein. Was ist, ist einer mit Sonnenbrand und Heimweh nach den Stars zu Hause, die sind wie ein Geländer zum Festhalten.

Er geht durch die Nacht, selbst die Tiere reden ausländisch, und dann sieht er etwas, sein Herz schlägt schneller. Ein Computer, ein Internet-Café. Und er setzt sich, schaltet den Computer an, liest seine E-Mails. Kleine Sätze von seinen Freunden, und denen antwortet er, dass es ihm gut gehe und alles großartig ist, und er schreibt und schreibt und es ist auf einmal völlig egal, dass zu seinen Füßen ausländische Insekten so groß wie Meerkatzen herumlaufen, dass das fremde Essen im Magen drückt. Er schreibt seinen Freunden über die kleinen Katastrophen und die fremde Welt um ihn verschwimmt, er ist nicht mehr allein, taucht in den Bildschirm ein, der ist wie ein weiches Bett, er denkt an Bill Gates und Fred Apple[2], er schickt ein Mail an Sat 1, und für ein paar Stunden ist er wieder am Leben, in der heißen Nacht weit weg von zu Hause.

Aus: Erfahrene Erfindungen. Deutschsprachige Kurzgeschichten seit 1989. Leipzig 2004

[1]deutsche Popgruppe, die sich 2002 auflöste

[2]Anspielung auf Fred C. Anderson, von 1996-2004 Chief Financial Officer von Apple Computer Inc.

10 comments on “UNTERRICHT: Sibylle Berg "Hauptsache weit"”

    1. Ich hab so meine Schwierigkeiten mit dem Text. Für mich betont er zu sehr das Negative an Andersartigkeit. Ausländisch, ausländisch, ausländisch... Natürlich gibt der Text einen schönen Anlass, eben diese Andersartigkeit zu thematisieren und als etwas Wertvolles zu erkennen, aber da wir in den Gesellschaften der Welt sowieso ein Problem mit Rassismus haben, frage ich mich, ob nicht ein Text, der diese Fremdartigkeit besser, positiver, gewinnender darstellt, sinnvoller wäre. Man muss ja nicht immer wieder das gleiche negative Gedankengut reproduzieren.

      1. Ja, du hast schon Recht. Ich denke, dass die fremdartige Umgebung eher einen individuellen Sachverhalt verdeutlichen soll, aber dennoch stimme ich dir bei der Problematisierung zu.

      2. Das Thema des Textes "Einsamkeit in der Fremde" macht indirekt auch darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, einen Platz zu haben, wo man sich ungefragt und selbstverständlich geborgen fühlt. Dieser Platz ist für viele die Heimat, der Ort, wo einem die Menschen und ihre Gewohnheiten, die Umgebung und nicht zuletzt die Sprache vertraut sind. Ich glaube, dass dieses Bedürfnis eine menschliche Konstante ist, die es verdient, erzählerisch entfaltet zu werden. Dass man sich aus politischen Gründen gerne eine andere Ausrichtung der Geschichte wünscht, ist zwar verständlich, sollte aber nicht dazu führen, die Geschichte zu ignorieren, denn viele Menschen können sich sehr gut in die Gefühlslage des Protagonisten hineinversetzen, eben weil es ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, einen Ort zu haben, den man kennt und in dem man erkannt wird.

  1. Ganz großes Lob! Alles was ich bisher auf dieser Seite oder YouTube von Ihnen gefunden habe, ist perfekt.
    Unser Sohn ist in der 10ten Klasse Realschule. Mit TGA‘s tut er sich schwer und unser Lehrer... naja.
    Ich würde es toll finden, wenn Sie vielleicht noch mehr solcher Videos über die Textanalyse, rhetorische Mittel etc erstellen könnten.

    1. Herzlichen Dank! Momentan habe ich alle Hände voll zu tun, aber ich schreibe es mir hinter die Ohren. Können Sie noch genauer sagen, was Sie brauchen? Denn auch zur Textanalyse und zu rhetorischen Mitteln habe ich schon ziemlich viel auf YouTube. Ich freue mich über Ihre Rückmeldung! Herzliche Grüße

  2. Hallo... eigentlich alles 😂, von diesem Text... sprich, die Textzusammenfassung. Wie Sie die rhetorischen Mittel beschreiben würden etc. Im Grunde genommen, eine strukturierte Inhaltsangabe, vom Anfang bis Ende. Gegebenenfalls, mit kreativer Aufgabe

    Vielen lieben Dank

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