Seit mehreren Tagen schreibe ich an einem Artikel, der grundlegende Fragen zur digitalen Bildung stelle und den ich für Interessierte am Ende dieses Artikels stehen lasse. Mittlerweile sind es fast 3000 Wörter. Der Prozess der eigenen Reflexion hat mich jedoch mittlerweile zu drei grundlegenden Kritikpunkten kommen lasse, die ich verkürzt hier darstellen möchte.
1. Es fehlt an Inhalten
2. Es fehlt an Selbstkritik
3. Es fehlt an einem sachlichen Umgang
Inhalte
Ich stelle fest: In einer Welt, in der das Mobiltelefon, das Tablet und der Computer Wurmlöcher sind, um sich an jeden Ort der Welt zu beamen, ist es für mich unverständlich, wieder und wieder über die neuesten Apps zu sprechen, anstatt über grundlegende Fragen von Ethik, Bildung, Politik und Literatur. Meiner Wahrnehmung nach verharrt der Großteil der digitalen Enthusiasten (zu denen ich mich auch zähle und zählte) in einem Diskurs, der auf Kleinstfeldern ausgetragen wird und so immer wieder bei redundanten Fragen ins Stocken gerät.
Um ein Bild anzustrengen: Wenn die digitalen Geräte wie Autos sind, die uns überall hinfahren können, sollten wir mehr über die Plätz und Orte – die gefährlichen, die nützlichen, die schönen und die hässlichen – reden als über die Autos oder, schlimmer, über den Teil der Rückenleuchte, die so schön in der Nacht leuchtet.
Selbstkritik
Selbstkritik finden alle wichtig, nur nicht bei sich selbst. Ich denke, dass der digitale Diskurs keine Ausnahme darstellt. Selbstkritik ist schwierig, manchmal sogar schmerzlich, weil sie einen dazu bringt, seine Sichtweisen zu überdenken. Je immuner eine Community gegenüber kritischen Tönen ist, desto mehr verfehlt sie die breite Streuung, die sie bräuchte, um zielgerichtet voranzukommen. Die Gründe liegen auf der Hand: Es könnte in der Tat sein, dass man das eine oder andere verwerfen muss.
Mir wurde – mal im Guten mal im Bösen – vorgeworfen, die Gespräche über Twitter und über Facebook bewusst zu torpedieren. Und in der Tat nehme ich mich als kritisch war. Ich tue dies jedoch weder, um der Kritik Willen noch um Reichweite zu evozieren, wie es mir jüngst vorgeworfen wurde (Die Reichweite erreiche ich sowieso nicht über Twitter, sondern über Google). Ich tue dies, weil ich mir bei vielen Aussagen einfach nicht mehr sicher bin, ob es sich um valide Argumente handelt, zumal ich die Wahrnehmung habe, dass bestimmte standardisierte Aussagen immer und immer wieder kommen – dadurch aber nicht wahrer werden.
Dazu kommt: Wir nehmen uns zu ernst. Viele scheinen zu denken, dass eine bestimmte Zahl an Followern oder ein bestimmtes Verhalten in anderen Social Media eine Berechtigung dafür ist, sich selbst nicht mehr kritisch zu sehen.
Sachlicher Umgang
Als letzten Punkt nehme ich wahr, dass die Unfähigkeit zur Selbstkritik dazu führt, dass die Sachlichkeit in zentralen Punkten verloren geht. Sowohl was den Umgang mit Apps und Programmen angeht, die in den Himmel gelobt werden, obwohl sie sogar Beschränkungen darstellen, als auch was die Aburteilung derjenigen angeht, die den digitalen Medien und ihren Plattformen unaufgeschlossen gegenüber stehen. Schnell sind diejenigen, die Bedenken oder Kritik äußern die Bremser oder schlicht die Beispiele für Unverbesserliche. Ja, man hört sogar das eine oder andere Mal, dass manche denen, die sich den digitalen Medien verweigern, die Fähigkeit absprechen, gute Pädagogen zu sein.
Sachlichkeit würde hier zielführend sein. Eine Sachlichkeit, die der digitalen Entwicklung gut täte. Jüngst wurde ein Artikel darüber veröffentlicht, dass digitale Quellenkritik eigentlich allgemein auf Quellenkritik angewendet werden kann. Das ist ein gutes Beispiel für eine Normalisierung. So wie Medienkompetenz auch für Bücher gilt. Nur: Jeder 5. Klässler schafft es, ein lustiges kleines Video zu drehen, das vielleicht auf motiviert. Dies mit einem langen Text, einem Buch, ob digital oder analog zu schaffen, erfordert andere Fähigkeiten.
Ein guter Freund von mir, mit dem ich mich sowohl persönlich als auch professionell über alle Themen unterhalte, zeigt mir immer wieder auf, dass manche meiner im euphorischen Strudel geäußerten Aussagen einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Andere tun es. Ich habe viele nette Menschen und auch Freunde in der digitalen Sphäre kennengelernt und möchte keinem zu nahe treten. Aber ich finde, eine sachlichere Debatte, ein wenig mehr Selbstkritik und ein gelegentlicher Blick auf die Inhalte sind grundlegende Voraussetzung dafür, die Digitalisierung im Bildungsbereich zu verankern.
tl;dr
Ich würde mir mehr Selbstkritik und einen sachlicheren Umgang mit Themen und Personen beim digitalen Diskurs wünschen.
P.S. Wen es nun interessiert, mir beim lauten Denken über mehrere Seiten zuzuhören, kann den Ausgangstext lesen, der die Themen umfangreicher und vielleicht teilweise zugespitzter versucht zu umschreiben (auf den Punkt gebracht ist es wohl nicht).
Dichtung und Wahrheit: Meine Kehrtwende in der Digitalisierung
Dieser Artikel über die sogenannte Digitalisierung ist eine Reflexion über die eigene enttäuschte Erwartungshaltung und darüber, dass zu viele vermeintliche Antworten zu noch viel mehr Fragen führen. Die für mich drei wichtigsten Fragen sind für diejenigen, die meinen Blog und eventuell meinen Twitteraccount verfolgen, vielleicht überraschend.
Meine erste Frage lautet: Brauchen wir die Digitalisierung wirklich?
Meine zweite Frage lautet: In welchem Umfang brauchen wir sie überhaupt?
Meine dritte Frage lautet: Beschäftigen wir uns mit den falschen Themen?
Kurze Vorbemerkung
Warum ich Fragen stelle, die ich selbst seit drei Jahren nicht nur dachte, beantwortet zu haben, sondern deren Antworten ich versuchte, mit zu bestimmen, möchte ich hier klären. Was dieser Artikel nicht sein soll, ist eine „Abrechnung“ mit den Menschen, die sich für die Digitalisierung in Bildung und Hochschulbildung einsetzen und ihr Herzblut opfern. Mir geht es nicht darum, das Engagement von irgendjemandem in Frage oder bloßzustellen. Im Gegenteil: Ich bin froh, so viele Leute kennengelernt zu haben und zu kennen, die mit einem Feuereifer, Innovationslust und Mut in vorderster Reihe kämpfen. Es nützt mir nur gerade für meine eigenen Fragen nichts.
Eine kleine Vorgeschichte
Damit diese Fragen überhaupt einen Sinn ergeben und ich nicht von der digitalen Zunft (als deren Teil ich mich fühle) in die Manfred-Spitzer-Gedächtnis-Ecke geschoben unter dem „tag“ „unverbesserlicher Analogiker“ gespeichert werde, möchte ich für diejenigen, die es interessiert, ein wenig ausholen.
Sowohl in meinem Studium als auch in meinem Referendariat hatten digitale Medien keine oder allenfalls eine dienende Funktion. Natürlich ist es sinnvoll bei Doktorandenprojekten Online-Datenbanken zu nutzen, die Ergebnisse in Listen zu sammeln und zu systematisieren. Aber das war es dann auch schon. Im Referendariat spielten sowohl digitale Medien als auch soziale Netzwerke keine Rolle. Allenfalls als Randgebiet wurden sie als Erweiterung der Methodik gesehen. Eine DVD hier, eine CD da – was man so kennt. Bis dahin hatte mich das alles auch nicht gestört, bis eine riesige Tür aufgestoßen wurde – und die hieß Twitter.
In der kleinen Realschule im Nordschwarzwald war mir der Austausch zu sehr auf die alltäglichen Fragen zentriert. So fiel mir wieder mein Blog ein, in dem ich ein wenig vor mich hin schrieb. Ehrlich gesagt interessierte das damals keinen.
Dies war nur so lange so, bis ich in einem eigentlich unbedeutenden Artikel Christian Füller, den mir bis dahin unbekannten Berliner Journalisten, kritisierte. Herr Füller, dem ich mittlerweile auf einer Handvoll Konferenzen begegnet bin und mich nett ausgetauscht habe, stieß auf meinen kleinen Blog und schoss mit Kanonen auf mich kleinen Spatzen. Was ich damals für ziemlich unverschämt hielt, ist heute ein Umstand, für den ich mich bedanken muss. Denn nach diesem Intermezzo stießen immer mehr Kommentatoren hinzu, die diskutierten. Der „Traffic“, also die Anzahl der Leute auf meinem Blog, schoss in die Höhe. Im ersten Monat nach Füllers Kritik auf dieselbe Anzahl an Besuchern wie im Jahr davor. Davon kann man sich nichts kaufen. Aber ob 300 oder 300.000 Leute den Blog besuchen macht in der Diskussion schon einen Unterschied. Und man denkt (ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt), man könne kleine Impulse geben.
Dazu kam Twitter. Ich lernte den #edchatde kennen, jenen Twitter-Chat des Frankfurter Lehrers Torsten Larbig und des Kölner Lehrers André Spang, in dem über die verschiedensten Themen der (digitalen) Bildung diskutiert wird. Die beiden sind gute Beispiele dafür, wie man sich auch in der realen Welt verstehen kann. Es war fantastisch!
#Neuland
Damals hätte ich mich wahrscheinlich nicht für naiv gehalten, was die digitale Umgebung angeht. Aber ich war es. Plötzlich wurde ich von einer Welle neuer Begriffe überrollt, von neuen Zusammenhängen und vor allem von vielen neuen Menschen, die, wie ich später feststellte, im „wahren Leben“ genau so nett sind, wie ich sie in Wort und Bild in Blogs und bei Twitter kennengelernt hatte. Ich war enthusiastisch. Was ich hier erlebte, der konstruktive Austausch, die tollen neuen Ideen, die vielen Impulse – all das müsste man doch in die Schule transportieren können. Ich las die einschlägigen Werke (auch analog), folgte den Leuten auf Twitter und Facebook und schrieb selber weiter.
Ein wenig war es wie das Gefühl, das man erlebt, wenn man sein Studium anfängt, und so viele neue Leute trifft, die auch lieben, was man selbst liebt. Man hätte es nie gedacht, aber plötzlich stehen sie neben dir, haben ähnliche Träume und wünsche und verfluchen dieselben Feindbilder.
Ich persönlich musste immer wieder bemerken, dass vieles von dem, was ich gerade entdeckte, schon längst entdeckt worden war. Und verworfen. Aber das machte mir nichts. Ich schaute nach Apps, bildete mich fort, gab selbst Fortbildungen zum Thema. Ich hatte, so dachte ich, erfolgreich Neuland betreten.
Rückschläge
Das war vor etwa dreieinhalb Jahren. Schon früh musste ich bemerken, dass nicht alle Lehrpersonen so enthusiastisch auf „meine“ Entdeckungen reagierten. Nein, eigentlich tat sich gar nichts. Im #edchatde redete jemand über die „Maulfwurf-Methode“. Ein Begriff, den ich stetig weiter verwendete: Wenn man die Kollegen schon nicht überzeugen kann, dann eben ein „Role Model“ sein. Das Handy – die Kulturzugangsmaschine – verwenden, das iPad als Organisationstool nutzen und zeigen und irgendwann würden die anderen schon folgen. Aber sie folgten zum Großteil nicht. Und das ließ mich und viele andere verzweifeln. Warum wollten „die anderen“ denn nicht die großartigen Vorteile sehen, die die Digitalisierung bietet? Vor allem: Wird Deutschland nicht immer weiter zurückgeworfen? Sind wir nicht längst ein digitales Entwicklungsland, gerade was die Digitalisierung betrifft? Egal welche Baustelle man sich anschaut, wenn man über die Flure der digitalen Konferenzen, Podiumsdiskussionen und digitalen Hangouts huscht, es steht immer fest, dass Deutschland zurück ist: Keine Infrastruktur, kein politischer Wille, keine Fortbildungen, keine richtigen Lehrer, kein Pflichtfachinformatik, kein Wille seitens der Lehrer. Es war zum Verrücktwerden.
Ein Missverständnis
Aber selbst wenn man die anderen nicht überzeugen kann, ist man selbst und diejenigen, die den digitalen Diskurs mitbestimmen, ja noch dafür da, dass man zusammen die digitale Bildung in die Schule bringt, weiter führt und darauf aufmerksam macht, welche Vorteile alles hätte. Dabei kann jeder dabei sein, jeder etwas sagen. Es hat fast den Anschein, dass man mit seinen Einwürfen, seinen klugen Tweets und seinen Blogbeiträgen auf Augenhöhe mit denjenigen ist, die beispielsweise in der Universität zu genau jenen Themen dozieren, Bücher schreiben und auf Konferenzen gehen.
Das ist aber ein Missverständnis. Eines, das ich erst nach und nach bemerkt habe. Dabei hat der digitale Diskurs eine einfache „Waffe“: Die Ignoranz. Wie es nämlich auf der einen Seite jeder selbst zu verantworten hat, welche Artikel oder Nachrichten durch seine persönliche Timeline laufen, kann man natürlich diejenigen Artikel, die sich kritisch mit der Materie befassen, links liegen lassen. Dies ist zum einen sehr vorhersehbar. Schrieb ich hier einen Artikel über die großartigen Verwendungsmöglichkeiten und Erfahrungen mit iPads im Klassenzimmer, wären mit sehr viele mehr Erwähnungen sicher, als mit dieser kritischen Reflexion. Das ist nicht tragisch, sorgt aber dafür, dass mit kritischen Tönen eben das passiert, was man bei den „Analogen“ so sehr kritisiert. Es verpufft im Äther.
Ein großer Jubelreigen
Dieser Umstand zeigt die Seite des digitalen Diskurses, die ich nicht besonders schätze. So habe ich des Öfteren das Gefühl, dass sich die großartigen Menschen, die es sich mit viel Motivation zur Aufgabe gemacht haben, das Digitale in die Bildung zu bringen, gegenseitig so lange auf die Schulter klopfen, dass sie für jede Form von Kritik immun werden. Sobald aber Kritik geäußert wird, folgt Ablehnung.
Nun ist es nicht verwunderlich, dass man das, was einem nicht passt, ablehnt. Auf der anderen Seite sind es aber doch die sogenannten 4Cs, die „neuen“ Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts, die im Netz so gehypt werden: Collaboration, Communication, Creativity und Critical Thinking.
Das Problem ist nur, dass, so sehr ich dies unterschreibe, es oftmals an der für mich wichtigsten Fähigkeit fehlt: Dem kritischen Denken. Und damit meine ich nicht allgemein das kritische Denken. Viele Menschen im digitalen Diskurs denken kritisch. Aber an bestimmten Punkte hören die Zweifel oftmals auf.
Ohne nun die Definition eines Begriffes zu versuchen, der für jeden etwas anderes heißen kann und gerade momentan auch oft genug in politischem Kontext dazu missbraucht wird, um Stimmung zu machen, würde ich die These aufstellen, dass sie kritisches Denken vor allem an der Fähigkeit zeigt, das eigene Handeln oder Denken kritisch zu hinterfragen. Denn: Um jemanden anders zu kritisieren, muss ich nicht kritisch denken können. Das geht immer und überall und auch ohne differenzierte Überlegungen anstellen zu können.
Mir geht es um das kritische Denken, das einen selbst betrifft. Es gibt bestimmte zur Norm gewordene Thesen im „digitalen Diskurs“, die nicht mehr hinterfragt werden. Witziger Weise eben auch jene, dass diejenigen Lehrkräfte, die sich dem digitalen Wandel sperren, dies tun, weil sie eben konservativ oder faul oder wenig innovativ sind. Das hört man immer wieder. Nur: Erstens macht man es sich zu einfach und zweitens immunisiert man sich damit gegen einen Austausch, den die Diskussion bitter nötig hätte.
Ich nehme wahr, dass diejenigen, die sich dem digitalen Diskurs und der Weiterverbreitung der Technologie, ob es nun im Unterricht oder der Hochschulbildung ist, meinen, auf einer „höheren“ Stufe zu sein. Kritik ist entweder nicht erwünscht oder wird beiseite gewischt, eben mit jenen Argumenten, die den anderen zu einem Auslaufmodell machen, zu jemandem, der die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat, zu Angsthasen und vieles mehr. Das Problem ist: Selbst wenn der eine oder andere Vorwurf stimmen würde, ist das nicht zielführend, sondern bewirkt meiner Erfahrung nach das Gegenteil.
Nun müssen wir auch nicht überall kritisieren, wenn es gar nichts zu kritisieren gäbe, denn: Hat die „Digitalisierung“ nicht sowieso nur Vorteile? Sind die ganzen Panikmacher nicht populistische Selbstdarsteller, die Bücher verkaufen wollen, um Angst zu machen vor bösen Hacks und Angriffen und Verbrechern und „digitaler Demenz“? Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Denn wenn wir den bösesten aller Teufel nehmen, den es bei uns digitalen Enthusiasten gibt, Manfred Spitzer, fällt auf, dass die meisten ihn gar nicht gelesen haben. Meine ganz persönliche Erfahrung ist, dass bei bestimmten Reizwörtern ein Thema im Keim erstickt wird.
Nehmen wir ein weiteres, wichtigeres Beispiel, das mich noch viel mehr in den Wahnsinn treibt. Es heißt:
Das Wissen ist doch überall verfügbar
Das ist eine Tatsache bei uns digitalen Enthusiasten. Damit können wir alles rechtfertigen. Wider das tote Wissen. Wider das Bulimielernen. Tablets in das Klassenzimmer und schon ist alles da. Endlich können wir differenzieren! Endlich können wir die 4Cs anwenden! Endlich können wir uns mit den wichtigen Dingen befassen!
Aus den wenigen Jahren Erfahrung, die ich habe, muss ich widersprechen.
Das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist einfach da. Zu denken, jeder könne doch alles googlen ist, wie sein 4-jähriges Kind zum Einkaufen zu schicken. Ist doch alles da.
Nein! Wissensbeschaffung erfordert Wissen. Informationsentnahme erfordert Informationen. Auch und vor allen das mit dem unsäglichen Begriff belastete „tote Wissen“.
Sie glauben das nicht? Dann googlen Sie mal, ob Napoleon ein guter Europäer war. Am besten ist, wenn Sie mit Geschichte nichts am Hut haben, denn dann können Sie verstehen, wie es einem Schüler geht.
Was machen Sie?
Den Wikipedia-Artikel aufrufen? Da sind in den ersten 50 Zeilen 20 Links. Lesen Sie die alle? Was ist ein „guter“ Europäer? Was ist zu Napoleons Zeit ein „Europäer“? Kann man von „Europa“ sprechen? Wikipedia hat allgemeine Informationen. Welche Seite nehmen Sie? Den 15. Vorschlag? Den 2200ten?
Aber, wird man sagen, aber: Das spricht doch für den Umgang mit digitalen Medien, damit der Umgang gelernt werden kann. Und das stimmt. Kein Widerspruch. Aber ich kann trotzdem nicht lernen, wie ich suche, wenn ich nicht weiß, in welchem Rahmen ich das mache.
Und dieser Rahmen kann auch „Wissen“ sein. Böses, totes, starres Wissen. Jahreszahlen. Die bösen Zahlen, die immer wieder herangezogen werden, um zu sagen, dass Geschichte doch mehr ist als Zahlen. Klar. Schon. Und was wollen Sie ohne die Zahlen machen?
Googlen Sie mal, was wichtiger war für die deutsche Geschichte: 1815 oder 1848. Es braucht Referenzpunkte. Anknüpfungspunkte. Grundlagen. Vielleicht – jetzt traue ich mich – sogar aus bösen Büchern.
Das Problem vieler Menschen, die in den 30er bis 50er Jahren sind, dass sie aus einer Zeit kommen, in der sie beides kennengelernt haben. Sie haben Bücher gelesen und Homepages und können beides beurteilen und konzentriert bearbeiten und denken, dass wird bei den Schülern auch so sein. Ein naiver Gedanke!
Eine Entscheidung
Das Internet geht nicht wieder weg. Standardsatz. Hundert Mal gehört. Kann man wiederholen. Und: Die böse alte Schule bildet mit den Mitteln der Vergangenheit für die Zukunft aus. Viele Berufe, die unsere Schüler haben, kennen wir heute noch nicht. Und so weiter und so fort. Ja, das stimmt. Die Folgerungen sind mal das eine („Pflichtfach Informatik, jetzt sofort!“) mal das andere („Tablet-Klassen! Weg mit den Büchern!“). Und das Heil ist dann: Schicke Apps im Unterricht einsetzen, dies und das und alles wird gut.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, keine Tweets und sonstige lustige Gimmicks einzubauen, aber hier geht es nicht anders, da es gerade veröffentlicht wurde, während ich den Artikel schreibe und der Tweet wie die Faust aufs Auge passt. Der Punkt ist: Natürlich kann man Apps im Unterricht einsetzen. Man könnte sogar die Kartoffel-App einsetzen. Vielleicht bei einer Koch-Unterrichtstunde? Und, ich wage es gar nicht zu sagen, vielleicht gibt es ja einen „Mehrwert“.
Der Punkt ist: Was genau haben wir dann? Außer Kinder und Jugendliche, die Kartoffeln fotografieren? Was haben wir davon? Ich lese, dass man diese und jene App einsetzen kann und dieses und jene Tool und frage mich dann das, was ich ganz oben angestellt habe:
Brauchen wir die Digitalisierung wirklich?
In welchem Umfang brauchen wir sie überhaupt?
Beschäftigen wir uns mit den falschen Themen?
Oder lassen Sie mich die Frage umformulieren: Brauchen wir digital kompetente Schülerinnen und Schüler? Und in welchem Umfang? „Natürlich!“, sagen sie. Und ich werde mich auch nicht querstellen. Im Gegenteil: Wenn jemand sein Handy benutzen kann, um damit konstruktiv zu arbeiten, warum nicht?
Aber ehrlich gesagt bräuchten wir darüber nicht jahrelang reden. Denn: Wenn ich mit meiner Kursstufe GoogleDrive nutze (was ich tue), dann brauche ich dafür eine Stunde. Für jeden andere App auch. In den unteren Klassen etwas länger. Aber wissen Sie, was dauert?
Es dauert, problemorientierte Fragen stellen zu lassen (sie glauben gar nicht, wie lange).
Es dauert, sich einem Gegenstand zu nähern.
Es dauert, ein Thema so lange zu bearbeiten, bis man ein Experte ist, bis man es durchdrungen hat, bis man die Grundlage hat, die es einem vielleicht ermöglicht, die verschiedenen Perspektiven kritisch zu beleuchten.
Es dauert, ein ganzes Buch zu lesen.
Es dauert noch länger, noch ein Buch zu lesen und es mit dem anderen zu vergleichen.
Es dauert, sich ein Buch oder ein Thema so anzueignen, dass man auch ohne eine tolle PowerPoint darüber reden kann, so dass die Leute einem zuhören, weil man Ahnung vom Thema hat und nicht weil man glitzernde Übergänge per Drag and Drop eingefügt hat.
Und wenn man all dies getan hat, wenn man sich angestrengt hat und Informationen aufgenommen hat, die vielleicht zunächst redundant waren, wenn man seine Kompetenzen geschult hat, indem man große Informationsmengen systematisiert und organisiert, abstrahiert und zugänglich gemacht hat, dann verspürt man vielleicht ein wenig Glück; ganz ohne Gamification.
Aber im Ernst. Was bleibt dann?
Und diese Frage treibt mich um. Wenn es nur um die Schüler geht (was wir doch sagen), was bleibt dann? Glauben Sie mir eine Sache: Dass ich (wieder) an diesem Punkt bin, nervt mich. Gewaltig. Denn ich dachte eine Zeit lang, ich hätte etwas gefunden, für das es sich lohnt einzutreten. Aber ich komme mir selbst lächerlich vor, wenn ich in einer Zeit, wo Menschen sterben und andere Menschen durch die Medien Hass streuen und wir lustig über Apps reden, die man in einer lustigen Stunde lustig verwenden kann.
Die politische Seite der Medienbildung finde ich extrem wichtig. Bloggen, um seine Schreibfähigkeiten zu schulen und kommentieren, um die Kommunikation zu schulen? Prima. Muss man nicht, kann man. Mediennutzung reflektieren? Auf jeden Fall.
Aber, und das ist der Punkt: Was bleibt dann?
Oder, um es pointierter und zum dritten Mal zu sagen:
Meine erste Frage lautet: Brauchen wir die Digitalisierung wirklich?
Meine zweite Frage lautet: In welchem Umfang brauchen wir sie überhaupt?
Meine dritte Frage lautet: Beschäftigen wir uns mit den falschen Themen?
Im Augenblick bin ich ratlos.