UNTERRICHT:  Das „Continuum of Engagement“ als Werkzeug für mehr Engagement im Klassenzimmer 

Bob Blume
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10. Juni 2025
6 Kommentare
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In Zeiten von Krise und KI beschäftigt mich momentan die Frage am meisten, wie Bildung berühren kann. Solche Momente der Resonanz beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa als Augenblicke, in denen Stoff „zu sprechen“ beginnt. In meiner Keynote auf der re:publica beschreibe ich solche Momente des Berührtseins. Nun bin ich über weitere Impulse gestoßen, die ich mit den Lesenden teilen möchte. Dies ist zunächst nur ein kleiner Teil, mit dem ich weiterdenken möchte. Dennoch glaube ich, dass hier ein wichtiger Baustein für sinnstiftendes Lernen liegt. 

Das Continuum of Engagement

Das Continuum of Engagement wurde von der australischen Bildungsforscherin Dr Amy Berry erdacht: eine alltagstaugliche Skala, die sichtbar macht, wo Lernende gerade stehen und wie sie sich Schritt für Schritt in Richtung tieferen Engagements bewegen können. Für mich schließt diese Skala eine Lücke im deutschsprachigen Diskurs, denn sie verbindet Rosas Resonanzidee mit einem konkreten Werkzeug, das sich am nächsten Montagmorgen einsetzen lässt.

Engagement – der Motor nachhaltigen Lernens

Auf das Kontinuum stieß ich in dem neuen Buch von Rebecca Winthrop. Die Bildungsforscherin Rebecca Winthrop zeigt in The Disengaged Teen (2025), dass Lernleistung nur dann langfristig trägt, wenn sie drei Ebenen verbindet:

1. Verhaltens­mäßiges Engagement – mitmachen, sichtbar aktiv sein.
2. Emotionales Engagement – Interesse und Sinn spüren.
3. Agentisches / selbstbestimmtes Handeln – den Lernprozess mitgestalten.

Fehlt einer dieser Pfeiler, rutschen Jugendliche leicht in passive Pflichterfüllung oder – schlimmer – offenen Widerstand. Winthrop greift hier auf die „erlernte Hilflosigkeit“ zurück: Das Gefühl, dass Anstrengung nichts bewirkt. Studien zeigen, dass sich 50% der amerikanischen Jugendlichen in einem solchen "Autopilot-Modus" befinden. Für Deutschland habe ich bisher noch keine Zahlen, aber es dürfte auch hierzulande nicht viel anders aussehen.

Berrys Continuum setzt hier an. Es bietet eine gemeinsame Sprache, um Engagement überhaupt erst einmal *besprechbar* zu machen.

Das Continuum of Engagement – kurz vorgestellt

Berry interviewte über 300 Lehrkräfte und destillierte aus deren Praxisbeispielen sechs typische Verhaltensmuster, die sie als durchgängige Skala anordnete. Die Idee: Jede Stufe ist mit konkreten, im Klassenzimmer beobachtbaren Handlungen verknüpft – so wird der ansonsten schwammige Begriff Engagement greifbar.

Disrupting (Stören) – laut provozieren, sabotieren.
Avoiding (Ausweichen) – Aufgaben meiden, plötzlich „vergessen“.
Withdrawing (Sich zurückziehen) – äußerlich ruhig, innerlich abgekoppelt.
Participating (Mitmachen) – Vorgaben erfüllen, ohne eigenen Drive.
Investing (Sich engagieren) – Zeit und Ideen einbringen, vertiefen.
Driving (Vorantreiben) – Lernen selbst steuern, andere mitziehen.

Wichtig: Die Übergänge sind fließend. Ein und dieselbe Schülerin kann morgens in Mathe „Withdrawing“ sein und nachmittags im Theaterprojekt „Driving“.

 

Vom Raster zum Reflexionsritual

Wer die Skala lediglich als neues Bewertungsschema benutzt, verschenkt (bzw. missbraucht) ihr Potenzial. Ihre Stärke liegt darin, Metakognition anzuregen: Schülerinnen und Schüler reflektieren, wo sie stehen und *warum* – und entwickeln Strategien, um die nächste Stufe zu erreichen.

Man kann dafür kurze, ritualisierte Gesprächsfenster nutzen. Montags bitten wir: „Setzt einen Punkt auf die Stufe, auf der ihr letzte Woche meist wart, und schreibt in einem Satz: Was hat euch dorthin gebracht?“ Freitags folgt das Exit-Ticket: „Welche Situation hat euch diese Woche einen Schritt nach rechts bzw. links geschoben?“

So entsteht ein Lernjournal der kleinen Bewegungen – ohne Notenstress. Als Lehrkraft agiere ich nicht als Richter, sondern als Resonanz-Moderator: Ich frage nach, gebe Impulse und helfe, konkrete Mini-Experimente für die kommende Woche zu formulieren.

Reflexionsfragen, die den Dialog öffnen

Damit solche Gespräche nicht in Floskeln enden, habe ich Leitfragen formuliert, die man – je nach Altersstufe – anpassen können:

Zu Wochenbeginn

Was bedeutet „engagiert sein“ für mich im Fach XY konkret?
Woran merke ich selbst, dass ich etwas für mein Lernen investiere?

Nach Gruppenarbeiten

Welche Aktion unseres Teams hat uns Richtung Engagement gezogen?
Wann sind wir ins „Ausweichen“ gerutscht und was war der Auslöser?

Peer-Feedback

Ich habe dich „Driving“ erlebt, als du … – stimmt das mit deinem Gefühl überein?
Welche Unterstützung bräuchtest du, um aus „Withdrawing“ herauszukommen?

Monats-Rückblick

Welche Stufe erreiche ich inzwischen ohne nachzudenken?
Welches Muster zieht mich noch in Bereiche, in die ich eigentlich nicht kommen möchte?

Warum sich der Einsatz lohnt

Aus meiner Sicht ist eine solche ritualisierte Form des Reflektierens sehr viel mehr als Spielerei oder Selbstzweck: Studien* haben ergeben, dass metakognitive Strategien dazu führen, dass Kinder und Jugendliche einen sehr viel besseren und konkreteren Blick auf ihr eigenes Lernen bekommen und damit besser lernen können. Die investierte Zeit lohnt sich also in jedem Fall. Zudem kommen weitere Aspekte hinzu:

Transparenz: Lernen bekommt eine sichtbare Topografie – das „Bergsteigen“ wird planbar.
Selbstwirksamkeit: Schülerinnen und Schüler erleben, dass kleine Strategien (z. B. Fragen stellen, sich für ein Teilprojekt melden) ihr Engagement tatsächlich verschieben.
Resonanz: Lehrkräfte erkennen schneller, wann der Stoff nicht „antwortet“, und können gezielt Umgebungen schaffen, in denen er wieder zu sprechen beginnt.

Kurz gesagt: Berrys Continuum verbindet die elegant formulierte Vision Rosas mit konkreten Handlungsoptionen. Wer wöchentlich fünf Minuten investiert, gewinnt ein kraftvolles Instrument, um das Gespräch über Lernen vom Notenzählen hin zu echter Beteiligung zu lenken – und lässt den Funken häufiger überspringen.

*Dieser Beitrag ist nunmehr eine schnelle Notiz. Die entsprechenden Studien werde ich beizeiten anfügen, so dass interessierte Leser:innen dies nachlesen können.

6 comments on “UNTERRICHT:  Das „Continuum of Engagement“ als Werkzeug für mehr Engagement im Klassenzimmer ”

  1. Lieber Herr Blume,
    es geht um eine Skala!!! (kein klick-buntes Puzzel und darin Missachtung grundlegender Farbkontrastregeln für gute+schnelle Lesbarkeit und obendrein falscher Farbkodierung für Konotation positiv-negativ sowie falscher oben-unten Kodierung)
    Also bitte besser eine einfache, allgemeinverständliche Skala von links "stören" :-(( nach --> rechts "vorantreibend" ;-))
    Oder alternativ eine nach rechts oben aufsteigende Treppe, diese evtl. in einer Quadrantengrafik (links unten negativ --> rechts oben positiv und Plazierung der Skalenbeschriftungen in den 2 sonst ungenutzten Quadranten.
    Oder ein Balken mit Farbgradient von z.B. negativ (z.B. lila) nach positiv (z.B. fröhlich leuchtend orange-gelb, Skalenteilung+Beschriftung aber gut lesbar einfarbig)
    Hoffentlich gelingt Ihnen beim Illustrieren von Unterrichtsthemen eine bessere "Übersetzung" in Grafik bzw. Bildform (visuell+verbal).

    1. Ich finde konstruktive Kommentare immer total wichtig, weil sie mich weiterlernen lassen. Also danke. Was die Art und Weise angeht, sehe ich Potenzial nach oben. Liebe Grüße

    2. Auch dieser letzte Satz: "Hoffentlich gelingt Ihnen beim Illustrieren von Unterrichtsthemen eine bessere "Übersetzung" in Grafik bzw. Bildform (visuell+verbal)." Ich frage mich immer, ob jemand wie Sie dann denkt: "Ne, das ist gut, das schicke ich so ab." Irre, echt! Einen wundervollen Tag!

  2. Das Engagement von Lernenden stellt in der Tat eine Problemanzeige dar. Das gegenwärtige bzw. weit verbreitete Protokoll des Es-melde-sich-wer-will leistet dem „Matthäus-Effekt“ (Keith Stanovich) Vorschub: Wer sich (freiwillig) beteiligt, lernt hinzu, und wer sich nicht (freiwillig) beteiligt, hat eben Pech gehabt. Deshalb plädiert Dylan Wiliam mit seiner Theorie des formativen Assessments/der formativen Evaluation dafür, alle Lernenden randomisiert in das Unterrichtsgespräch einzubeziehen. Hierdurch ist es ebenso möglich, eine positive Fehler- und Lernkultur anzubahnen: "Perhaps more simply, smart ist not something your are, it´s something you get (...)" (Howard, 1991 nach Wiliam & Leahy, 2015, S. 113). Das in Deutschland kaum rezipierte formative Assessment nach Dylan Wiliam & Siobhán Leahy beschreibe ich auf meiner Homepage. Die Techniken lassen sich zum Teil ohne Weiteres in den Unterricht einbeziehen.

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