Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit hier auf diesem Blog der letzte Beitrag zu Goethes Jahrhundertwerk veröffentlicht worden ist. Dies hatte und hat vor allem zeitliche Gründe. Da mich das Werk aber weiterhin begleitet und aufgrund vieler Rückmeldungen, möchte ich hier und später auf YouTube die Arbeit weiterführen, die ich mit den Artikeln und Interpretationen zum Faust gestartet habe. 

Wie bei den anderen Artikeln in dieser Reihe sei angemerkt, dass viele der wichtigsten Erkenntnisse aus dem Werk des Germanisten Jochen Schmidt und dem Faust-Kommentar Albrecht Schönes stammen, die mit ihren Werken Goethes Klassiker in vielerlei Hinsicht beleuchten. 

Weitere Artikel zum Faust

Auf diesem Blog gibt es weitere Artikel zum Faust, die hier aufgerufen werden können:

Zusammenfassung des gesamten Dramas “Faust. Der Tragödie erster Teil”.
Faust I: Vorspiel auf dem Theater (V.33-242)
Faust I: Prolog im Himmel (V.243-353)
Faust I: Nacht (V. 354-417)
Beispiel einer Interpretation zum Faust
Anmerkungen zu Goethes Faust 
Fragen und Antworten zum Faust

Anmerkung zum vorliegenden Artikel

Der vorliegende Artikel ist das Ergebnis einer zeitlich versetzten Kooperation. Er ist die Bearbeitung eines Artikels meiner ehemaligen Schülerin Nina Zimmermann (deren Ausführungen zum Thema “gendergerechte Sprache” auch hier auf dem Blog zu finden sind). Dieser Ausgangsartikel wiederum ist die schriftliche Verarbeitung des obigen Videos meiner ehemaligen Studienkollegen Sebastian Treyz und mir. Mit anderen Worten: Der vorliegende Artikel zur Szene “Vor dem Tor” ist das Ergebnis einer dreifachen Bearbeitung verschiedener Menschen, bei denen ich mich herzlich bedanke.

Vor dem Tor (V. 808-1177)

Die Szene „Vor dem Tor“ stellt nicht nur einen Kontrast zu den ihr vorangegangenen drei Prologen und der Szene „Nacht“, in der erstmals die extremen Ausmaße von Fausts Erkenntnisverlangen klar werden, dar; sie bildet auch die Grundlage für den gesamten Verlauf der Gelehrtentragödie, da sie die innere Zerrissenheit Fausts und damit den Grund für den Teufelspakt aufzeigt.

Schon in der Regieanweisung zeigt sich der deutliche Kontrast zwischen der „Nacht“ und „Vor dem Tor“: In „Nacht“ befindet sich Faust in einem altertümlichen, gotischen Zimmer, welches seine innere Verzweiflung und sein begrenztes Dasein als „Stubenhocker“ und Gelehrter widerspiegelt, während die Szene „vor dem Tor“ in der Natur spielt, welche gerade dabei ist, sich allmählich von Eis und Kälte zu befreien. Es wird Frühling!

Der Kontrast zeigt sich hier jedoch nicht nur in der Szene selbst, sondern auch darin, dass „Massenszenen“, bei denen viele Menschen auf einmal auf der Bühne stehen und sprechen, zur Zeit Goethes alles andere als üblich waren.

Über den Beginn des Frühlings freut sich vor allem das Volk, welches sich in der Szene „Vor dem Tor“ in seiner ganzen Vielfalt zeigt; nicht nur Studenten, sondern auch Mägde und Bettler haben hier ihren Auftritt.

In den Gesprächen des Volkes werden mehrere Aspekte angedeutet, die später noch eine große Rolle in der Tragödie spielen werden; nicht nur die Derbheit des Volkes – welches sich beispielsweise darin zeigt, dass Mägde als „Wildpret“ bezeichnet und Frauen generell in eine patriarchale Rollenverteilung hineingedrängt werden – wird später nochmals in der Szene „Auerbachs Keller“ angesprochen; auch jene Einfachheit, mit der sich as Volk zufriedengibt, wird später noch eine Rolle spielen.

Vierter:

Nach Burgdorf kommt herauf, gewiß dort findet ihr
Die schönsten Mädchen und das beste Bier,
Und Händel von der ersten Sorte.

Denn genau diese „einfache Zufriedenheit“, die dem Volk zu eigen ist, wird für den ewig unzufriedenen Faust später zu einer Art Idealbild werden, denn ihn quält es, niemals zufrieden oder gar glücklich mit dem sein zu können,  was er hat.

Das Volk wird hier aber nicht idealisiert, eher im Gegenteil; die Gesellschaft, welche zwar über politische Akteure „lästert“, sich aber nicht politisch engagiert, sondern politische Ereignisse lediglich amüsiert beobachtet, wird hier klar kritisiert.

Zum fröhlichen Treiben des Volkes kommen schließlich auch Faust und Wagner hinzu. Faust versucht, durch eine „Ansprache der Natur“ das Trieberwachen des Volkes zu erklären.

Diese Ansprache (und vor allem der Vers „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“) wirken allerdings – besonders, wenn man Fausts depressive Gedanken und seine Todessehnsucht aus der Szene „Nacht“ noch im Hinterkopf hat – völlig übertrieben und schon fast ironisch.

Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

Der Vers kann als intellektuellen Nachvollzug des Gesehenen gedeutet werden; denn Faust gehört nicht zur Gesellschaft, er fühlt sich nicht wie einer von ihnen, er hat diese Gefühle folglich auch nicht selbst, sondern legt sie dem Volk sozusagen in den Mund.

Zwischen Faust und dem Volk herrscht eine große Distanz, was nicht nur dadurch deutlich wird, dass die Bürger ihn mit seinem Titel „Doktor“ ansprechen, sondern auch dadurch, dass sie offensichtlich überrascht sind, dass der „Stubenhocker“ Faust sein Studierzimmer an diesem Tag verlassen hat.

Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass auch das Volk Faust ein wenig sonderbar empfindet und seinen Lebensstil nicht unbedingt nachvollziehen kann, bewundern sie ihn für die vermeintliche Hilfe, die er (an der Seite seines Vaters) bei der Bekämpfung der Pest geleistet haben soll.

Er selbst weist diese Bewunderung jedoch ab, da er genau weiß, dass er und sein Vater mit ihrer „Medizin“ mehr Schaden angerichtet als Menschen geheilt haben; er schämt sich nicht nur für seine Taten selbst, sondern auch (und besonders) dafür, für diese sogar noch gelobt zu werden.

Als er sich mit Wagner auf einem Hügel niederlässt und die Sonne betrachtet, erwachen seine Melanchonie und seine Sehnsucht erneut; er sehnt sich nach fremden Orten, danach, frei und völlig losgelöst von seinem irdischen Leben zu sein.

Seinem Gehilfen Wagner (der Fausts Sehnsucht kaum nachvollziehen kann) erzählt Faust von seinem wohl größten Problem; seiner innerseelischen Dualität.

Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;

Die „Zwei – Seelen – Problematik“  von Faust, kann als existenzielle Zerrissenheit, die mit dem Akt der Reflexionsfähigkeit in den Menschen hineinkommt gedeutet werden – dadurch, dass Faust reflexionsfähig ist und sich daher der Unerfüllbarkeit seines Lebenstraums bewusst ist, werden sein Schmerz und seine Zerrissenheit immer stärker.

Faust ist hin – und hergerissen zwischen Irdischem und Himmlischem, Sinnlichem und Übersinnlichem, zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Festhalten und Loslassen. Genau diese Zerrissenheit führt bei ihm zu einer Verachtung seines gesamten Daseins; er nimmt die gesamte Erde und sein irdisches Leben als pure Enttäuschung wahr und „hasst“ all die irdischen Freuden (wie Besitz, Familie oder Geld) , mit denen sich einfach nicht zufriedengeben kann.

Die ewige Unzufriedenheit macht Fausts Charakter maßgeblich aus; gerade weil er weiß, dass er sich seine Träume nicht erfüllen kann, werden der Schmerz und das Verlangen danach immer größer und größer – doch alle Versuche, die er unternimmt, um seine Grenzen zu überschreiten, misslingen ihm.

Die aus dem missglückten Entgrenzungsversuchen resultierende Verzweiflung ist es schließlich, die Faust sozusagen in die Arme des Teufels treibt – denn er ist fest davon überzeugt, ohnehin niemals glücklich werden und die Wette so nur gewinnen zu können.

Die Szene „Vor dem Tor“ zeigt also nicht nur das grundlegende Problem Fausts (nämlich seine innere Zerrissenheit) auf, sondern bildet auch die Grundlage für den Teufelspakt, den Mephisto und Faust schließen werden und durch den die Gelehrtentragödie ihren Lauf nehmen wird.

 

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