Mit meiner 10. Klasse lese ich Sophokles‘ „Antigone“. Das Drama beinhaltet neben der Grundstruktur einer antiken Tragödie, die auch die Struktur heutiger Filme verständlicher macht, einen zentralen Konflikt zwischen gleichwertigen Prinzipien. Auch hier ist der Aktualitätsbezug zu politischen Debatten erkennbar. Unabhängig von der Relevanz müssen die Jugendlichen eine für die Schule typische Interpretation verfassen, die auf die Anforderungen der Kursstufe hinleitet. An dieser Stelle möchte ich eine Beispielinterpretation zur Verfügung stellen, die die einzelnen Teile konkret verstehbar macht. Die Interpretation richtet sich nach den Aspekten der Szenenanalyse und der Kontextuierung. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ergänzungen sind willkommen. Die Analyse bezieht sich auf die erste Szene. Die Versangaben beziehen sich auf die Reclam XL-Ausgabe des Dramas (Übersetzung von Kurt Steinmann. Reclam 2016).
Mögliche Hinleitung
In der heutigen Zeit sehen wir immer wieder Beispiele zivilen Ungehorsams, etwa wenn Aktivistinnen und Aktivisten wie jene der „Letzten Generation“ bewusst Gesetze verletzen, um ihrer moralischen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Die Diskussion um die Frage, ob es Situationen gibt, in denen das eigene Gewissen über dem staatlichen Gesetz stehen darf, führt zu hitzigen Debatten – und lässt sich bereits in der Antike beobachten.
Einleitung
In der von Sophokles um 442 v. Chr. verfassten Tragödie „Antigone“, einem klassischen Drama, das in Theben spielt, geht es um einen Konflikt zwischen göttlichem bzw. moralischem Gesetz und menschlichen, staatlichen Vorschriften. Im Zentrum steht die Titelfigur Antigone, die trotz eines königlichen Verbots ihren toten Bruder bestatten will, weil sie sich den göttlichen Prinzipien und familiärer Ehre verpflichtet fühlt. In der vorliegenden Szene des Prologos (V.1-99) werden die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Schwestern Antigone und Ismene auf das Beerdigungsverbot von König Kreon deutlich. Während Ismene das Verbot als absolut sieht, erklärt Antigone, es für die familiären Bande gegenüber ihrem Bruders übertreten zu wollen.
Kurze Zusammenfassung
Nach dem Tod von Ödipus und dem Bruderkrieg zwischen Eteokles und Polyneikes ist Kreon neuer Herrscher von Theben. Er erlässt ein Gesetz, wonach Eteokles ehrenvoll bestattet werden soll, während dem vermeintlich verräterischen Polyneikes das Begräbnis verweigert wird. Antigone widersetzt sich diesem Verbot und begräbt ihren Bruder, da sie glaubt, das göttliche Gesetz gehe jedem menschlichen Gesetz vor.
In der vorliegenden Szene warnt Ismene sie zwar, doch Antigone lässt sich nicht umstimmen. Sie pocht auf ihr von den Göttern gegebenes Recht, ihren Bruder zu beerdigen. Diese Entscheidung führt unweigerlich zur Konfrontation mit Kreon, wodurch die Tragödie ihren Lauf nimmt.
Hauptteil
Zunächst beschreibt Antigone die gemeinsame Geschichte „der von Ödipus entsprungenen Leiden“ (V.2) und verweist damit auf den Fluch der Labdakiden. Sie fragt Ismene nach dem Erlass Kreons und weist schon darauf hin, dass sie ihm kritisch gegenübersteht: „(...) wie auf die Freunde Unheil zukommt von den Feinden?“ (V.10). Das Unheil ist hier nicht nur der Tod der beiden Brüder Eteokles und Polyneikes bezogen, auf den Ismene im weiteren eingeht (V.13), sondern auch der Umgang mit diesem, den Kreon als König bestimmt. Antigones Hinweis, dass sie Ismene vor das Hoftor bittet (V.19), ist gleichzeitig die Anzeige, wo der Dialog stattfindet. Nachdem die Figuren benannt sind, artikuliert Antigone ihr zentrales Anliegen: „Hat Kreon nicht den einen unsrer beiden Brüder des Grabs gewürdigt und dem andern schmählich es versagt?“ (V.21-22). Hier zeigt sich das Unverständnis dieser, für Antigone, einseitigen Entscheidung. Für sie ist es, wie sie sagt, keine „Nichtigkeit“ (V.34). Mit anderen Worten ist dies für sie von besonderer Relevanz.
Ismene verdeutlicht ihre Machtlosigkeit. Sie weiß nicht, was sie „dazu tun“ solle (vgl. V.40). Daraufhin wird Antigone deutlich: „Ob du mit mir dich mühn und handeln willst, erwäg!“ Auch wenn Antigone noch nicht sagt, was sie vorhat, zeigt sich Ismenes Angst, da sie Antigones Hinweis schon als „riskante Tat“ (vgl. V.42) begreift. Nachdem Antigone deutlich macht, dass sie Polyneikes begraben und damit das Verbot ignorieren will, zeigt sich Ismenes Position: „So willst du ihn begraben, was der Stadt doch untersagt?“ (V.44). Dies ist nicht nur eine Nachfrage, sondern drückt ihre Fassungslosigkeit darüber aus, dass ihre Schwester ein klares Gebot des Königs von Theben ignorieren könnte. Ihr Ausruf „Verwegne!“ (V.47) macht dies nochmals deutlich.
Daraufhin äußert Antigone ihre zentrale Perspektive: „Er hat kein Recht, mich von den Meinen fernzuhalten.“ (V.48). Für sie steht die familiäre Beziehung zu ihrem Bruder über dem Verbot. Dies ist aber keine bloße individuelle Haltung. Nachdem Ismene ängstlich auf die Konsequenzen hinweist, leitet Antigone ihre Position vom Göttlichen ab: „(...) aber du, hälst du’s für richtig, entehre das, was bei den Göttern hoch in Ehren steht!“ Hiermit etabliert sie den zentralen Konflikt, denn auch Kreon wird später seine Herrschaftsansprüche an göttliche Gebote knüpfen. Sie ist sich ihrer Sache sicher: „Doch ihn begrab ich. Schön ist mir nach solcher Tat der Tod.“ (V.72). Sie versteht also die Konsequenzen ihres Handelns, neigt sich schon früh dem Tod zu, ist aber fest entschlossen, dennoch nach den göttlichen Prinzipien zu handeln, die für sie die Familie an erster Stelle sehen. Obwohl Ismene ihre Angst um Antigone äußert (vgl. V.82), fühlt sie sich „außerstand“ (V.80) Antigone beizustehen. Am Ende der Szene zeigt Ismene jedoch, dass sie trotz ihrer Angst vor dem Verbot und den tödlichen Konsequenzen zu Antigone als Schwester steht: „Verrückt zwar gehst du, doch die Lieben liebend auf die rechte Art.“ (V.100). Die Liebe zu Antigone wird später dazu führen, dass sie sich mit ihr solidarisch erklärt. Freilich zu spät, um Antigone zu retten oder selbst angeklagt zu werden.
Bereits in der ersten Szene macht Sophokles den zentralen Konflikt deutlich. Antigone tritt selbstbewusst auf und beruft sich auf eine höhere, göttliche Ordnung. Sie sieht es als ihre Pflicht an, den Bruder zu ehren und seinen Leichnam vor Schändung zu bewahren. Ismene hingegen reagiert zaghaft und fürchtet sich vor den Konsequenzen, die ein solches Handeln nach sich ziehen könnte. Dieser Dialog etabliert somit das Hauptthema des Stücks: den Widerstreit zwischen den Prinzipien familiärer Verbundenheit, die vom Göttlichen abgeleitet werden und den verbindlichen Gesetzen des Königs.
Das Gespräch zwischen den Schwestern entwickelt sich zu einer Gegenüberstellung zweier Haltungen: Antigone symbolisiert kompromisslose Loyalität gegenüber göttlichem Recht, Ismene plädiert für Vorsicht und die Anerkennung staatlicher Normen. Die Sprache der beiden spiegelt ihren Charakter und ihre jeweilige Position wider. Während Antigone in einem energischen, fast feierlichen Ton spricht, wirkt Ismenes Ausdruck zurückhaltender und ängstlicher. Gleich zu Beginn legt Antigone die Handlungslinie fest, indem sie sich vorbehaltlos für die Bestattung Polyneikes’ entscheidet. Damit nimmt sie ihren kommenden Konflikt mit Kreon vorweg.
Der Ort der Szene – vor dem Palast in Theben – verdeutlicht die Nähe zu Kreons Herrschaftsbereich, doch Antigones Worte schaffen hier einen eigenen Raum. Sie sieht sich weniger an Kreons Gesetze gebunden als an ein höheres, göttliches Gebot. Für Ismene hingegen bedeutet diese Kulisse unmittelbare Gefahr: Sie steht im Schatten der Macht und will sich nicht bewusst ins Verderben stürzen.
Im Verlauf des Dialogs wird rasch klar, wie unterschiedlich die Schwestern ihre Rollen sehen: Antigone möchte trotz der offensichtlichen Gefahr die Initiative ergreifen, Ismene hingegen akzeptiert – zumindest vorerst – die bestehenden Machtverhältnisse und Gesetze. Diese Spannung gipfelt in Antigones abschließender Entschlossenheit, ihren Bruder auch ohne Ismenes Hilfe zu bestatten. Man erkennt hier, wie Sophokles die Dramatik direkt im ersten Auftritt entfaltet: Der Keim des kommenden Unglücks ist gelegt, und die Grenzen zwischen privater Liebe, religiöser Pflicht und staatlicher Ordnung sind scharf gezogen.
Schluss/ Fazit
Die erste Szene der Antigone eröffnet nicht nur die Handlung und dient damit als Exposition, sondern begründet den und Konflikt, der das gesamte Drama prägt. Antigones Konfrontation mit Kreons Gesetz steht paradigmatisch für die Frage, wann ein Individuum sich über gesellschaftliche oder staatliche Gebote hinwegsetzen darf. Genau diese Spannungen zwischen dem, was rechtens und dem, was gerecht ist, machen Antigone auch heute noch hochaktuell und zum Vorbild für viele Diskussionen über Recht, Moral und den Mut zum Widerstand. Sophokles formuliert im Prolog die Figurenkonstellation als auch das ideelle Spannungsfeld, so dass das Publikum unmittelbar in die Tragik und die Größe dieses Konflikts hineingezogen wird.