Die Reiselyrik ersetzt ab dem Abitur 2020 die Naturlyrik. Obwohl man davon ausgehen kann, dass die Natur auch weiterhin eine Rolle spielen wird (man denke nur an die Wahrnehmung des lyrischen Ich bei einer Reise zu Fuß oder mit langsamen Fortbewegungsmitteln), unterscheiden sich die Themen, Motive, Merkmale und ganz allgemein die lyrische Auseinandersetzung logischer Weise von jenen des vorherigen Sternchenthemas. Für individuelles Arbeiten gibt es hier Arbeitsblätter für Schüler*innen.

Diesen Beitrag gibt es nun auch als vorbereitete, kostenlose PDF auf Lehrermarktplatz.

Arbeitsblatt zur Interpretation: Die Dreischrittmethode (Reiselyrik)

UPDATE (Februar 2020): Leitlinien zum Vorgehen beim Gedichtvergleich/Beispiel für einen Gedichtvergleich

UPDATE (März 2020): Weiterer Gedichtvergleich Clemens Brentano „In der Fremde“ und Günter Kunert „Reiseresümee“

UPDATE: Eine weitere Interpretation befindet sich nun auf dem Blog. Des Weiteren findet man am Ende dieses Artikels ein Youtube-Video zum Vergleich von zwei Reisegedichten, das auch direkt hier über den Link aufgerufen werden kann.

UPDATE: Eine weitere Interpretation “Ich saug an meiner Nabelschnur”/ “Auf dem See”

UPDATE: Ganz neu gibt es nun eine Schülerhilfe, mit vielen Deutungsansätzen, Interpretationshilfen, vollständigen Interpretationen und einem großem Methoden- und Fachglossar.

Allgemeine Anmerkung 

Nachdem an dieser Stelle einige wenige Einführungsworte geschrieben werden, kann im Folgenden eine Beispielinterpretation gelesen werden. Diese mag dem einen oder anderen bekannt vorkommen. Das liegt daran, dass der Ausgangspunkt die Interpretation von Theodor Storms „Die Stadt“ ist, die auf diesem Blog nachgelesen werden kann. Im Unterschied zur ersten Interpretation, wird an dieser Stelle nicht nur versucht, den Fokus auf das Thema „Reisen“ zu richten und so zu erklären, wie ein solcher Fokus funktionieren kann, sondern die Analyse und die sprachliche Formulierung wird auch einem gymnasialen Oberstufenniveau angepasst. Dies ist immer nur über den Daumen gepeilt möglich, da der Autor sich natürlich nicht in jede Person zu versetzen vermag. Der Unterschied zur anderen Interpretation sollte jedoch klar werden. Mehr noch: Die beiden Interpretationen miteinander zu vergleichen kann für einen Oberstufenschüler ein wichtiger Lernschritt sein. 

Anmerkungen zur Reiselyrik 

An dieser Stelle kann keine Abhandlung über das Reisen oder die Reiselyrik geschrieben werden (Um Epochen geht es an anderer Stelle). Aber es lohnt sich dennoch, sich über das Reisen einige grundlegende Gedanken zu machen. Wenn wir heute von Reisen sprechen, meinen wir oftmals ein Reisen, das mit Freizeit in Verbindung gebracht wird. Es wird durchgeführt, um so schnell es geht von einem Ort zum anderen zu kommen. Der Weg spielt oftmals keine Rolle mehr. Auch verändert sich der Reisende nicht, er bleibt derselbe. 

Es gibt aber ganz andere Formen der Reise. Der Grund kann ein externer sein: Jemand wird zur Reise gezwungen, weil er mit dem Tode bedroht ist. Das Reisen kann ein beschwerlicher Weg in die Fremde sein. Und die Fremde kann dazu führen, dass sich der Reisende selbst kennenlernt. In der Fremde lernt der Reisende so seine Heimat kennen. Und sich selbst. 

Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Reisen auch geschichtlich verortet werden kann. Ob es nun die Abenteuerreisen vor der Entdeckung Amerikas waren oder die Selbstfindungsreisen in der Aufklärung – von denen Goethes Italienreise wohl die bekannteste ist.

Das Reisen selbst kann reflektiert werden. Der Reisende nimmt die Reise wahr, das, was ihm oder ihr begegnet und setzt es in Beziehung zu sich selbst, den Erfahrungen und bisherigen Eindrücken. So wird die Reise auch zum Reifeprozess. Das Reisen ist ein Schritt in der Veränderung eines Menschen in ein anderes Stadium. Dies kann auch dann gelten, wenn die Reise keine reale ist, sondern eine im Traum, in dem eine neue Bewusstseinsdimension erreicht wird.

All dies, was hier sehr kurz angemerkt wird, kann in der Lyrik eine Rolle spielen: Die Wahrnehmung, der Weg, die Veränderung das Gleichbleiben, die Angst, die Sehnsucht und die unterschiedlichen Gründe für den Aufbruch. Schauen wir nun, wie sich Storms „Die Stadt“ in diesen Hintergrund fügen lässt. 

Anmerkungen zur Interpretation in der Oberstufe

Interpretationen auf Abiturniveau zu schreiben, erfordert neben einer sicheren Rechtschreibung auch ein hohes Abstraktionsvermögen. Es reicht nicht zu beschreiben, sondern der Interpret ist aufgefordert, tief in die Struktur eines Textes zu blicken.

Beispielhaft lässt sich dies an der Deutungshypothese erläutern. Es wäre nicht nur zu wenig, sondern schlicht falsch (weil unterkomplex) davon zu schreiben, dass Storms Gedicht von einer Stadt handeln würde. Natürlich ist eine Stadt im Zentrum einer Betrachtung, jedoch ist dabei der Betrachter und die Art und Weise der Betrachtung maßgeblich.

Bevor der Einleitungssatz der Interpretation geschrieben wird, kann eine Hinführung den Leser auf das Kommende einstimmen. Dies wird auch hier versucht. Das Wichtige ist, dass dies weder in „Gelaber“ ausartet, noch zu wenig mit der eigentliche Analyse zu tun hat. Beispielhaft kann dies in der nach dem Gedicht folgenden Interpretation nachgelesen werden.

Es sei angemerkt, dass auch in einer Interpretation, in der versucht wird, alle möglichen Aspekte zu beinhalten, nicht alles berücksichtig werden kann. Dementsprechend Vollständigkeit nicht gewährleistet werden.

Theodor Storm: „Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer

Und seitab liegt die Stadt; 

Der Nebel drückt die Dächer schwer, 

Und durch die Stille braust das Meer 

Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai 

Kein Vogel ohn’ Unterlass; 

Die Wandergans mit hartem Schrei 

Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, 

Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir, 

Du graue Stadt am Meer; 

Der Jugend Zauber für und für 

Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, 

Du graue Stadt am Meer.

Der Offenburger Künstler Stefan Strumbel hinterfragt in seiner popkulturellen Aneignung von traditionellen Formen den Heimatbegriff mit der rhetorischen Frage: „What the fuck is heimat?“. Und in der Tat ist der Begriff der Heimat einer, der sich oftmals erst in der Ferne konstituiert. Dabei bleibt Heimat oftmals ein Ort, der eine Zeitspanne umschließt. Zeit und Ort verschmelzen so im späteren Leben gleichsam zu einem Fixpunkt der Erinnerung.

So auch in dem 1851 von Theodor Storm verfassten Gedicht „Die Stadt“, in dem ein lyrisches Ich wehmütig die Liebe an eine Stadt erinnert, obwohl diese zunächst als trist, trostlos und abgelegen beschrieben wird.

Das Gedicht hat drei Strophen mit jeweils fünf Versen. Das Reimschema ist eine Mischung aus Kreuzreim und umarmenden Reim (abaab cdccd eaeea). Das Metrum ist ein alternierender Jambus, der jedoch zwischen vier und drei Hebungen wechselt. Sowohl die Veränderung der Hebungen als auch die durchgehenden männlichen Kadenzen evozieren eine Härte, die erst in der letzten Strophe gebrochen wird.

Die inhaltliche Perspektive des Gedichtes ist eine besondere, da es zunächst scheint, als sei das lyrische Ich ein bloßer Berichterstatter – ohne emotionale Bindung oder Teilhabe am Geschehen. Erst die dritte Strophe perspektiviert das gesamte Gedicht. In dieser beschreibt das lyrische Ich nicht nur die Verbindung zur Stadt, sondern gibt auch Anhaltspunkte, dass es in einem hohen Alter ist und die Stadt seiner Jugend verlassen musste.

In der ersten Strophe (Vers 1-5) wird die Stadt von außen als karger und öder Ort beschrieben. In der zweiten Strophe (Vers 6-10) intensiviert sich die Ödnis der Beschreibung durch die Abwesenheit von typischen Lauten der Natur. Die dritte Strophe wechselt abrupt zur Sicht des lyrischen Ich, das trotz der beschriebenen Tristesse an der Stadt hängt (V.11-15).

Der erste Vers der ersten Strophe erzeugt sogleich ein Bild der Ödnis. Die Wiederholung des Adjektivs „grau“ (V.1), das sowohl auf den Strand als auch auf das Meer bezogen wird, verdeutlicht, dass es sich nicht um eine lebendige, farbenfrohe Stadt, sondern um einen öden Ort handelt. Die Wiederholung des Farbadjektivs erscheint wie ein Bild des einseitigen Lebens, das die Menschen hier führen. Mehr noch: Die Stadt liegt „seitab“ (V.2), ist also abgelegen und nicht das Zentrum für die Menschen, die in ihr leben.

Der Strichpunkt (V.2) verdeutlicht die Weiterführung der Beschreibung. Neben Strand und Meer werden nun die Behausungen der Menschen beschrieben. Die Personifikation des Nebels, der „drückt“ (V.3) verdeutlicht, wie eingeengt sich die Menschen hier fühlen müssen. Wer diese Einsamkeit fühlt, wird allerdings nicht deutlich und kann erst mithilfe der letzten Strophe beantwortet werden. Jedoch bleibt das Bild eines Nebels, der schwer auf den Dächern lastet und die Menschen so in ihren Häusern hält. Das Einzige, was man durch die „Stille“ (V.4) hört, ist das Brausen des Meeres (V.4). Jedoch ist selbst dieses Brausen „eintönig“ (V.5). Die Eintönigkeit wird zusätzlich von dem auf der entgegengesetzten Betonung liegenden Metrum verstärkt. Dieses liegt auf der zweiten Silbe des Wortes. Es scheint, als laufe die Eintönigkeit des Ortes gegen die schwungvolle Erinnerung des lyrischen Ich, das jedoch zunächst noch nicht genannt ist. Mehr noch: Der umarmende Reim des wiederholten Nomens „Stadt“ umschließt die beschriebenen Dächer wie eine Klammer, aus der man sich nur schwer befreien kann. Die durchgehenden männlichen Kadenzen lassen die Beschreibung zusätzlich hart erscheinen. Die Verben betonen Passivität, die nur durch die Erwähnung des schon erwähnten Brausens durchbrochen wird.

In der nächsten Strophe wird klar, dass diese Stadt nicht nur zu einer bestimmten Zeit diese Charakteristik hat. Es ist kahl, was dadurch ersichtlich wird, dass „kein Wald“ (V.6) dort ist, der rauschen könnte. Selbst im Mai, dem Monat, in dem der Frühling beginnt, hört man keinen Vogel schreien. (Vgl. V.7). Dass sie dies normalerweise „ohn’ Unterlass“ – also andauernd – tun, macht die Stadt, in der dies nicht so ist, noch trostloser. Dass selbst die Tiere diese Stadt meiden, wird durch den folgenden Vers deutlich. Die „Wandergans“ – ein Tier, dass zur Brut in den Süden fliegt – fliegt nur in der Nacht vorbei. Dies ist wohl als eine Hyperbel zu sehen, die verdeutlichen soll, dass selbst Tiere sich nur in dieser Nacht nähern. Eine weitere Perspektive ist eine, die die epochale Rahmung des Gedichts im bürgerlichen Realismus einschließt. Dies würde darauf verweisen, dass das lyrische Ich hier eine (fiktive) Realität anspricht, dass die Stadt also so gelegen ist, dass Tiere eben sich hier eben nicht häufig niederlassen. Dies spricht für eine nordische Stadt, was auch das raue Meer erklären würd.e

Hier wird schon deutlich, wie hart das Leben für die Personen, die hier leben, sein muss. Das einzige Natürliche ist „das Gras“, welches „am Strande weht“ (V.10). Die Enge der Stadt wird auch hier von den umarmenden Reimen hervorgehoben. Es scheint, als würde der Ort alles erdrücken, wie der Nebel der ersten Strophe, der auf den Dächern liegt.

Die nächste Strophe ist folgerichtig eine große Überraschung. Die entgegensetzende Konjunktion „Doch“ leitet den nun folgenden Satz ein und widerspricht so allem Negativen, das zuvor durch das nicht in Erscheinung tretende lyrische Ich hervorgerufen wurde.

Genau dieses lyrische Ich wird plötzlich Teilnehmer, zeigt also auch rückwirkend, dass seine Beschreibung durch einen (distanzierten) Standpunkt geprägt war. Hatte es aber zuvor nur alles beschrieben, spricht es nun die Stadt selbst mit dem persönlichen „Dir“ (V.11) an.

Das Personalpronomen verdeutlicht eine tiefe Verbundenheit. Schon hier wird also klar, dass das lyrische Ich die Stadt gut kennen muss. Mehr noch: Das „Herz“ des lyrischen Ich, der Ort, an dem die Emotionen und Gefühle des Menschen verankert sind, hängt an dieser Stadt. Wie zum Trotz wird das Farbadjektiv „grau“ noch ein drittes Mal wiederholt (V.12), als wenn das lyrische Ich sagen möchte, dass selbst das graueste Grau nichts an der Tatsache der Erinnerung ändern könne.

Und tatsächlich: Im drittletzten Vers wird klar, warum das lyrische Ich so an der Stadt hängt. Das, was einen Menschen ausmacht, ihn prägt – die Erfahrungen der Jugend – wurde alles in dieser Stadt gemacht. Der „Zauber“ (V.13) der Jugend, wird sogar personifiziert, indem er „lächelnd“ (V.14) auf der Stadt ruht. Die Personifikation hebt so deutlich hervor, dass die Freude der Jugend an dem nun öden Ort weilt. Nun wird auch klar, warum die persönliche Ansprache nicht nur direkt aufeinander folgend wiederholt wird („auf dir, auf dir“, V.14), sondern gleich drei Mal hintereinander wiederholt wird. Das lyrische Ich ist auf Ewig mit den Erfahrungen verbunden, die es gemacht hat, als es seine Jugend hier verbracht hat. Und genau aus diesem Grund ist es für das lyrische Ich auch nicht wichtig, ob die Stadt eine „graue Stadt“ (V.15) ist. Der Titel des Gedichts zeigt nun, dass es zwar zunächst um eine „Stadt“ geht, dass aber die Beziehung zwischen der Person und der Stadt eine deutlich größere Rolle spielt, als eine bloße Beschreibung. Es scheint, als hatte das lyrische Ich die Stadt verlassen müssen. Nicht aber, weil die Stadt so grau ist, denn in der dritten Strophe zeigt sich die tiefe Verbundenheit. Womöglich kann man von einer Sehnsucht sprechen, wie sie nur nach dem Verlassen eines geliebten Ortes gefühlt werden kann.

Schaut man sich die Entwicklung des Gedichts an, wird klar, warum das Reimschema so besonders ist. Denn das lyrische Ich ist nun nicht mehr Teil der Stadt, es ist also nicht mehr eingeengt wie die Natur, die Bewohner und Tiere, deren Eingesperrtsein sich durch den umarmenden Reim äußert. Das lyrische Ich ist mehr wie der erste Vers jeder Strophe, scheinbar unabhängig vom Rest, jedoch auf eine ganz bestimmte Weise mit dem Rest verbunden – wie der allein stehende Reim mit dem Rest des Gedichts.

Aus diesem Grund ist das Gedicht auch so beeindruckend. Aus einer ständigen Wiederholung heraus folgt ein Umschwung, der zeigt, dass auch die Dinge, die einem von außen schlimm oder öde erscheinen, eine ganz besondere Beziehung zu einem Menschen haben können.

Die Frage danach, was Heimat ist, wird in diesem Gedicht vor dem Hintergrund des Kontrasts von Gegenstand und erinnerndem Subjekt deutlich gemacht. Heimat erscheint als ein Ort, dessen Zauber nicht gebrochen werden kann, selbst wenn er durch und durch als lebensfeindlich dargestellt ist.

Darin liegt die Aktualität des Gedichts. In einer Zeit, in der die Reise und der Wechsel des Ortes als Axiom für ein gelingendes Leben dargestellt wird, verweist das Gedicht auf die emotionale Bindung zu Räumen, die erst im Rückblick als wertvoll erfahren werden. Solche Räume finden sich oftmals in der Heimat, also dort, wo man die ersten Erfahrungen des Lebens macht.

Das, was wirklich wichtig ist, bleibt für andere vielleicht verschlossen. Für den Menschen, der es kennt, ist es immer etwas Besonderes. Vielleicht könnte man auch so Strumbels Frage beantworten: „What the fuck is heimat?“ Es ist der Ort, auf dem der Jugend Zauber ruht.

 

Dieser Beitrag erschien das erste Mal auf dem Blog https://bobblume.de

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11 Kommentare

  1. Hallo! 🙂
    Beim Einfügen des Textes ist die Formatierung im Gedicht verloren gegangen, wodurch die Strophen nicht mehr sichtbar sind.
    Abgesehen davon: DANKE mal wieder für einen tollen Beitrag – wir haben am Montag eine wunderbare Unterrichtsstunde mit dem Gedicht verbracht.

    Liebe Grüße!

    • Ja, hab’s gerade gesehen. Das hört sich gut an. Du kannst gerne mal was machen, das auch Kommentare hinausläuft. So kommt man vielleicht ins Gespräch. Liebe Grüße

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