Immer wieder wird gefragt, inwiefern es Merkmale von Reiselyrik gibt. Im engen Sinne müsste man sagen: Nein, die gibt es nicht. Es gibt in unterschiedlichen Epochen verschiedene Motive, die sich auf die Interpretation auswirken. Allgemeine Merkmale zu finden, ist problematisch. Allerdings gibt es einige hilfreiche Koordinaten. 

UPDATE (Februar 2020): Leitlinien zum Vorgehen beim Gedichtvergleich/ 

UPDATE (März 2020): Weiterer Gedichtvergleich Clemens Brentano „In der Fremde“ und Günter Kunert „Reiseresümee“

UNTERRICHT: Beispiel für einen Gedichtvergleich (Reiselyrik)

Was sind Merkmale?

Zunächst einmal zu der Frage, warum es so schwierig ist, von allgemeinen Merkmalen von Reiselyrik zu sprechen. Merkmale einer Textform sollen ja gleich oder zumindest ähnlich sein. Aber selbst bei Textformen wie Gedichten trifft das nicht immer zu. Reim? Manche Gedichte sind ungereimt. Metrum? Manche Gedichte haben kein Metrum. Strophen? Manche Gedichte haben nur eine Strophe.

Allgemeine Aussagen über ein Merkmal zu machen, bringt also nur bedingt weiter, vor allem bei einem thematischen Rahmen wie dem Reisen. Und ein Allgemeinplatz wie die Aussage, dass Reiselyrik sich mit dem Reisen befasst, ist allenfalls trivial.

Thematische Blöcke

Ein Ausweg sind thematische Blöcke, wie es beispielsweise Vanessa Greiff in dem   Reclam-Buch „Reisen. Gedichte“ (Stuttgart 2018) macht.

Sie gliedert das Büchlein in vier verschiedene Abschnitte: 

  1. Aufbruch 
  2. Unterwegssein 
  3. Kompass 
  4. Grenzen und Horizonte 

Hier kann man erkennen, dass es sich zwar nicht um Merkmale im engeren Sinne handelt, aber um thematische Blöcke bzw. Schwerpunkte (Kompass steht hierbei für Orientierung, alles andere ist mehr oder minder selbsterklärend).

Koordinaten

In dem unten angegebenen Schülerband habe ich unterschiedliche Koordinaten herausgearbeitet, die ich hier kurz beschreiben möchte (ohne sie in ihrer ganzen Länge auszuführen). Dazu aber zunächst die Überlegung zu den Koordinaten.

Dadurch, dass Merkmale, wie gesagt, problematisch sind, stellt sich die Frage, wie man – gerade bei einem Gedichtvergleich – die Gedichte fassen soll. Formal ist das immer möglich, aber der Formvergleich gibt nicht besonders viel her.

Ein Koordinatensystem leistet dies, indem es Gedichte an bestimmten Punkten “festmachen” kann und so die Möglichkeit gibt, diese allgemeinen Koordinaten als Vergleichsaspekte fruchtbar zu machen. An dieser Stelle also nur eine Kurzbeschreibung dieser Koordinaten.

Ich und die anderen 

In der Reiselyrik geht es oftmals um den Unterschied des Reisenden oder Weggehenden und denen, die zurückbleiben.

Innen oder außen 

Reisen verändern die Wahrnehmung desjenigen, der von einem Punkt zum anderen geht. In der Veränderung der Wahrnehmung zeigt sich die Relevanz für das Individuum.

Verortung in der Zeit 

Reisen kann aus einer vergangenen Perspektive betrachtet werden, man kann Sehnsucht danach haben oder sich gerade (also gegenwärtig) auf dem Weg befinden.

Weitere Aspekte 

Sehnsucht/ Wunsch und Erinnerung/ Nostalgie 

Gerade in romantischen Gedichten spielen die starken Wunschvorstellungen des lyrischen Ich in Bezug auf das Reisen immer wieder eine besondere Rolle.

Wege 

Die Art und Weise, wie eine Reise angegangen wird, verändert sich durch die Zeit. Kein Wunder: Reisen werden stark davon beeinflusst, wie jemand reist. Mit der Veränderung des Reisemittels verändert sich die Wahrnehmung der Reise.

Weiterführende Aspekte

Auf dem Blog Pangloss.de, den ich an dieser Stelle sehr dringend empfehle, gibt es weitere Aspekte, die ich hier zitieren möchte. Für eine genauere Einbettung dieser Aspekte kann man direkt auf der Seite nachlesen. Es lohnt sich sehr!

  • Fiktionalität: Ist die geschilderte Reise eine zielgerichtete Reise mit festem Ausgangspunkt? Oder handelt es sich um eine imaginäre Reise, eine Traum-, Gedanken- oder Seelenreise?
  • Reisezweck: Welchem Zweck dient die Reise? Der Erholung? Der Befreiung? Der Erkundung? Der Selbsterkundung? Der Flucht? Wird der Zweck erreicht?
  • Sprechsituation: An wen wendet sich der Sprecher? An sich selbst? An einen Reisegefährten? An ein unbestimmtes Du? An ein konkretes Gegenüber? Welches Ziel verfolgt der Sprecher?
  • Form: Inwiefern färbt der Reiseverlauf auf die formale Gestaltung des Texts ab? Welche sprachlichen Mittel wurden gewählt?
  • Haltung zum Reisen: Wie stellt sich der Sprecher zum Reisen: Begrüßt er das Reisen oder verurteilt er es? Aus welchen Gründen? Verändert sich die Haltung im Verlauf des Texts?
  • Zeit: Welchen Standpunkt wählt der Sprecher: Schaut er voraus auf die erst beginnende Reise, spricht er während des Reisens oder blickt er auf eine Reise zurück?
  • Geschichte, Geschlecht, Kultur: Auf welche historischen Gegebenheiten bezieht sich der Text? Inwiefern ist der Text aus seiner Zeit heraus (anders) zu verstehen? Sind Geschlechtsrollen von Bedeutung? Wird die kulturelle Prägung des Texts deutlich?
  • Fortbewegung: Welche Fortbewegungsart wählt der Sprecher? Wandert er? Fährt er? Fliegt er? Inwiefern hat die Fortbewegungsart Einfluss auf die Form des Texts?
  • Perspektive: Welchen Blickwinkel nimmt der Sprecher ein? Was lässt sich über seine Blicklenkung sagen? Inwiefern ist der Blick vom Reisemittel beeinflusst?
  • Raum: In welchen Gegenden ist der Sprecher unterwegs? Was sagt die Wahrnehmung der Umgebung über den Sprecher aus?

An dieser Stelle nur eine kurze Relativierung: Die Punkte “Raum”, “Perspektive” und “Zeit” finde ich sehr einleuchtend. Bei der Art und Weise der Fortbewegung würde ich einschränkend einwenden, dass man aufpassen muss, nicht bei diesem Vergleichsaspekt stehenzubleiben. Dies gilt auch für den Reisezweck. Beide Aspekte sind relativ einfach herauszuarbeiten, taugen aber für den Vergleich nur als Aufhänger, nicht für eine tiergehende Analyse.

Schlussfolgerung

Von Merkmalen der Reiselyrik kann man nicht unbedingt sprechen. Jedoch kann man ein Koordinatensystem zu Hilfe nehmen oder Motive betrachten, die für diese Themensetzung häufig ist.

Weitere Ausführungen zum Thema Reiselyrik gibt es in dem Band “Reiselyrik verstehen”. Dabei handelt es sich um eine Schülerhilfe, mit vielen Deutungsansätzen, Interpretationshilfen, vollständigen Interpretationen und einem großem Methoden- und Fachglossar.

Dieser Beitrag erschien das erste Mal auf dem Blog https://bobblume.de

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7 Kommentare

  1. […] Gedichtinterpretationen sind schwierig, da sich Gedichte aufgrund ihrer Kürze und ihrer strikten, kunstvoll erdachten Form einem schnellen und oberflächlichen Verständnis verweigern. Aus diesem Grund ist es für manche wichtig, zunächst nach einer nach und nach aufgebauten Struktur vorzugehen. Das gilt umso mehr bei einer Gedichtvergleich, bei dem der Vergleichsaspekt zusätzlich dazu kommt.  […]

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