[…] Die Zeit mit ihm (2025) […]
In Benedikt Wells' Roman "Vom Ende der Einsamkeit" beschreibt der Erzähler eine Geschichte, die er schreiben wolle. „(Es) handelte von einem Mann, mit dem die Zeit schneller verging. Wenn man ein paar Minuten mit ihm redete, war in Wirklichkeit bereits eine halbe Stunde vergangen. Wenn eine Frau mit ihm ausging und es für sie genau drei Stunden dauerte, waren bereits sieben vorbei, manchmal auch zwölf. Der Mann blieb sein Leben lang einsam. Die Leute mieden ihn, sobald sie sein Geheimnis herausbekamen, und er war auch der Suche nach einem Menschen, der es dennoch in Kauf nahm, an seiner Seite alt zu werden, da einige Jahre und die Erinnerungen mit ihm kostbarer waren als ein ganzes Leben ohne ihn.“ Dies ist der Versuch, diese Geschichte zu erzählen.
Die Zeit mit ihm
Er hatte keinen Namen, den andere sich schnell genug merken konnten. Er war der Fremde, der Gast, der Mann, dem man nicht zu nahekam. Dabei war er weder unfreundlich noch verschlossen. Es ging nur eine seltsame Aura von ihm aus: Wer sich in seiner Gegenwart befand, erlebte die Minuten wie in atemloser Eile. Zwanzig Minuten wurden zu einer Stunde, drei Stunden zu sieben, zu zwölf. Die Zeit dehnte sich nicht – sie entglitt. Er stand mittendrin, zeitlos inmitten beschleunigter Augenblicke, ohne etwas daran ändern zu können.
Es begann in seiner Kindheit, als sein Vater ihn nach einem gemeinsamen Spiel beiseitenahm und ihm zuflüsterte: „Pass auf, wem du dich anvertraust. Die Zeit fliegt mit dir und es gibt nicht viele, die dies begreifen werden.“ Anfangs verstand er selbst nicht, was das bedeutete. Doch bald zeigten sich die Folgen. Nach einer Pause lief ein Schulfreund rot an, als ein Lehrer sie zur Rechenschaft gezogen hatte, weil sie viel zu spät im Unterricht erschienen waren. Er beschwerte sich, sie hätten doch erst fünf Minuten zusammengespielt, so wie Kinder sich beschweren, wenn sie die Zeit vergessen. Der Lehrer schüttelte den Kopf, und schon klingelte es. Und er stand neben dem Jungen und war einsam.
Über die Jahre lernte er, sich zurückzuziehen. Wo er auftauchte, verging den Menschen die Zeit wie im Flug – zu ihrem Nachteil. Sie wurden älter, während er unverändert erschien. Sie verloren ganze Abende, wenn sie sich freundlich mit ihm an einen Tisch setzten, und vernachlässigten ihre Freunde, während es ihnen vorkam, als hätten sie nur kurz mit ihm gesprochen. Man mied ihn, sobald sich seine Besonderheit herumsprach. Er konnte keinen Beruf lange behalten und keine Freunde für sich gewinnen. Zu groß war die Furcht, wichtige Stunden oder Lebensjahre zu verlieren.
So wurde die bewegte Einsamkeit zu seiner einzigen Zuflucht. Stets war er unterwegs, wechselte Städte und Herbergen, unterschrieb Mietverträge mit falschen Namen, zog weiter, bevor sein Mieter Verdacht schöpfen konnte. Immerhin genügte oft schon ein verweilender Blick, dass die Zeit beim Gegenüber schwand. Auf den ersten Blick mochte das wirken wie ein Geschenk – doch wer mochte schon ein Opfer dieses Diebstahls werden?
Er verbrachte Nachmittage allein in Parks, wo niemand ihn ansprach und wo er Vögel beim Auf- und Abfliegen beobachtete. Er saß auf Bänken am Fluss, an dem sich Paare trafen und trennten, doch nie war er Teil davon. Für ein Gespräch hätte es die Neugier eines anderen gebraucht – und die Bereitschaft, die Folgen zu tragen.
Eines Tages, in einer verregneten Gasse, in einer Stadt, in die er gerade erst gezogen war, ergab sich doch ein Moment: Er half einer jungen Frau, die ihre Einkaufstüten fallen gelassen hatte. Sie war durchnässt, konnte ihr Auto nicht finden und wirkte so verlassen wie er selbst. Sie redeten nur fünf Minuten. Doch als sie auf die Uhr blickte, waren bereits dreißig vergangen. Verwundert sah sie ihn an, mit großen, fragenden Augen, die aber keinen Vorwurf spiegelten. Sie dankte ihm bloß. Und dann – völlig unerwartet – blieb sie. Sie fragte ihn sogar nach seinem Namen, doch er entzog sich ihrer Bitte und machte Ausflüchte. Zu oft hatte sein Name Verlust bedeutet.
Statt zu insistieren, lächelte sie ihn an und sagte: „Seltsam, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich wohlfühlt.“ Sie ahnte wohl nicht, dass es nicht bloß dieses angenehme Gefühl war, sondern tatsächlich die Zeit, die sprang, wenn sie mit ihm zusammen war. Aber irgendetwas in ihrer Stimme sagte ihm, dass sie bleiben würde, selbst wenn sie die Wahrheit wüsste. Doch er traute sich nicht zu, sie zu bitten, bei ihm zu bleiben. So trennten sich die Wege für einige Jahre.
Doch es kam so, dass sie ihn wiederfand. Sie erschien an der Bank an einem Fluss, der zwischen der Stadt und dem Übergang zu Weideland mäanderte. „Ich habe etwas zu Ende bringen müssen“, sagte sie, „aber jetzt bin ich da.“ Er wagte zu fragen, ob sie wisse, was es bedeutete, Zeit mit ihm zu verbringen – und sprach von seinem Vater und den Augenblicken, die sich ausdehnten und alles um ihn herum mitnahmen.
Sie dachte eine Weile nach. „Mir ist jede Minute wertvoll“, sagte sie, „und wenn sie vergeht im Wissen um ihre Gegenwart, wird jeder Moment, den ich behalte.“
Er staunte über diese Worte. Seine Einsamkeit tropfte aus den Gedanken wie Sirup und in diesem Augenblick schien sich ein Riss in seiner Welt zu öffnen, durch den ein Gefühl der Unendlichkeit strömte.
Die nächsten Monate verbrachten sie an entlegenen Orten, wo niemand Fragen stellte. Für sie fühlte es sich so an, als würde sie morgens in seine Augen blicken und schon war es Nacht. Manchmal schlief sie nur wenige Stunden, wachte auf und merkte, dass Tage vergangen waren. Er sah mit an, wie sich Linien auf ihrem Gesicht zeigten, wie ihre Haare sich veränderten und er dabei fast unverändert zu bleiben schien.
Sie ging diesen Weg dennoch mit ihm. Denn sie fand in jenen geraubten Stunden auch eine nie dagewesene Berührung. Die Schnelligkeit der Zeit füllte sich mit Tiefe einer innerlichen Gegenseitigkeit. Für sie wog jede gemeinsame Sekunde schwerer, trug mehr Bedeutung in sich als unzählige belanglose Momente ohne ihn.
Und so suchte er nicht weiter, sondern verblieb in stiller Dankbarkeit für jeden gemeinsamen Moment, der in jenem unberechenbaren Tempo durchs Leben verging.
Vielleicht ließen sie mehr Zeit zurück als andere, vielleicht verrannen ihnen Jahreszeiten zwischen den Blicken. Doch jene Zeit strahlte in lebendigen Farben, die sie umgriffen wie in einem See aus Regenbögen, und sie gehörten sich beide – in allen Momenten, die zu rasch kamen und zu rasch gingen. Denn manchmal, so glaubte er, braucht es weniger Zeit, um ein erfülltes Leben zu haben, als man gemeinhin denkt. Manche Augenblicke enthalten mehr Wirklichkeit, mehr Liebe und Wahrhaftigkeit als ganze Jahrzehnte es je könnten. Zuletzt verriet er seinen Namen und sie lächelte, als habe sie ihn schon zuvor gekannt.
Dann starb sie. Er erinnerte sich voller Glück an den Tag, an dem er sie kennengelernt hatte, vor vielen Jahren und wenigen Tagen. Er erinnerte sich an einen Moment mit ihr wie an ein ganzes Leben und er wusste, dass er nie wieder einsam sein musste. Und zog in eine andere Stadt, an einen anderen Fluss und er saß manchmal da und zählte Sekunden, die an ihm vorbeistrichen wie der Frühling. Er hatte verstanden, dass erst die Erinnerung die Gegenwart zur Zukunft machen konnte.
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