KURZGESCHICHTE: Lavendel im Juni (2025)

Bob Blume
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24. März 2025
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Lavendel im Juni

Mira wog sich. Sie war zufrieden. Sie öffnete die App und schaute auf eine gleichmäßige Linie: Bewegung, Gewicht, Training. Sie schaute aus dem Fenster. Die Welt lag still unter einer dicken Schneeschicht, drinnen war es warm und gemütlich, während sie ihre Übungen machte. Als sie 16 geworden war, hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt, den sie in ihrem Tagebuch überprüfte. Es war ein schönes Notizbuch mit dicken Seiten. Sie gab jedem Tag einen Titel, den sie mit schwarzer, schnörkeliger Schrift überschrieb, darüber ein heller Marker. Tagesziel, Spruch für die Woche und eine ToDo-Liste. Ihr persönliches kleines Kunstwerk.

Es war 6:30. Sie schaute sich im Spiegel an, ihre grünen Augen, die langen Haare, die sie sorgsam pflegte. Sie war beliebt. Ihr Lachen, hell wie Eiskristalle, hallte oft durch die Gänge der Schule. Sie ging ins Erdgeschoss, hüpfte auf der Holztreppe herunter. Der Tag begann, aber sie hatte schon viel für sich selbst geschafft. Ihr Vater machte Pfannkuchen für ihren kleinen Bruder, dazu eine Schale geschnittenes Obst für sie. Ihre Mutter lächelte noch im Halbschlaf und küsste sie auf die Stirn, bevor sie zur Arbeit ging.

Mira trank ihren grünen Tee, checkte den Kalorienzähler, stellte den Schrittzähler ein und scrollte durch Instagram, während die Sonne langsam über dem Garten aufging.
No excuses,“ stand unter einem Bild einer Influencerin mit stählernen Bauchmuskeln und einer makellosen Wachshaut. Sie speicherte es in ihrer Sammlung. Dann warf sie einen flüchtigen Blick auf ihren Körper im Spiegel vor der Eingangstür. Sie hatte noch das Sportshirt an. Ihr Blick glitt dabei kurz über die violette Narbe, die sich zwischen Oberschenkel und Bauchansatz aufwölbte. Eine unförmige Linie, eine Warnung.

Es war nur ein winziger Moment, den sie kaum registrierte. Dann ging sie in ihr Zimmer, zog das Oversized-Sweatshirt über und verließ das Haus, Nummer 42, Sternstraße.

Sie kam eine Viertelstunde vor dem Unterricht in die Schule. Nickte den anderen zu. Stand in einer Traube ihrer Mitschülerinnen und sprach über die neuesten Gerüchte. Ein neuer Schüler sollte in ihre Klasse kommen, das hatte ihre Klassenlehrerin, Frau Vidoni, ihnen über den Messenger geschrieben. Sie sollten nett sein. Sie bemerkte die Blicke ihrer Freundinnen, die ihr aufmerksam zuhörten. Die Jungs flüsterten, wenn sie vorbeiging. Selbst die Lehrer behandelten sie mit einer Mischung aus Respekt und unausgesprochener Zuneigung. Sie fühlte sich wohl und sicher, wenngleich sie das Gefühl hatte, das sie es noch besser machen könnte. Sie mehr um sich kümmern, sich mehr bewegen, mehr auf die Haare achten. Sich um all das kümmern, was sie kontrollieren konnte.

Im Frühjahr blühten die Krokusse auf dem Weg, einige Primeln waren in den Gärten zu sehen. Die Pullis wurden kürzer, wechselten mit T-Shirts, die Röcke leichter. Mira achtete strenger denn je auf ihren Körper. Die App zeigte eine leichte Tendenz nach unten, die Linie machte ihr Mut. Die Kalorien wurden addiert, überschlagen, ausgeglichen. Sie notierte jedes Gramm. Vielleicht auch wegen Luca, der in die Klasse gekommen und alles auf den Kopf gestellt hatte. Er hatte diesen spöttischen Zug um die Lippen, das selbstsichere Grinsen, das angriffslustige Funkeln in den Augen. Die Jungs verehrten ihn, standen in den Pausen um ihn herum und überboten sich mit Berichten von krassen Videos: Dronenangriff, einer kriegt nach der Kneipe einen auf die Fresse, Meme-Tänze. Sie sprachen von Tabellen, in die sie die Mädchen sortierten, 3 von 10, 7 von 10, „aber Potenzial für eine 8“. Luca zitierte Aussagen „echter Männer“ in Nebensätzen, sprach von „Energie“ und davon, dass Mädchen „ihre Rolle“ kennen müssten. Immer mit einem Lächeln, immer leicht und locker.

Mira wich ihm aus. Doch sie wusste, er sah sie. Er sah sie an. Er verschleierte es nicht. Er glotzte.

Es war beim Sportunterricht, als er ihr zuflüsterte: „Du achtest sehr auf dich. Das finde ich gut! Aber diese Sache da ...“ Er deutete auf ihre Hüfte. „Schon eklig irgendwie, oder?“

Sie lachte, als würde sie es nicht kümmern. Es klang wie eine Glasscherbe. Am Abend starrte sie lange auf ihr Spiegelbild. Auf die Linie, die sie nicht beeinflussen konnte. Sie schämte sich. Am Abend schrieb sie nichts in ihr Tagebuch, konnte nicht schlafen, wälzte sich.

Am nächsten Tag tuschelten zwei Jungs. Einige Tage später drei. Dann fünf. Es war kein Flüstern, wie sie es kannte. Es war, als hätten die Klassenkameraden Lucas Grinsen übernommen. Wie eine Armee von Klonen. Sie hörte Worte wie „seltsam“ und „komisch“, aber nie war sie sich sicher, ob es wirklich stimmte. Es war, als hätten die Mädchen aus der Parallelklasse nur darauf gewartet, mitzumachen. Sie warfen ihr Blicke zu, jene Blicke, die direkt unter die Haut gehen, ihre Haut mit dem violetten Makel. Und sie sich dort festsetzen und in den Kopf steigen.

„Schon irgendwie manipulativ, dass du deine Narbe so lange versteckt hast, oder?“, hauchte ein Mädchen aus der Parallelklasse im Vorbeigehen. Dann lachte sie und verschwand in ihrem Klassenzimmer. Mira hatte Angst vor den Aussagen, Angst vor den Fragen, Angst vor den Blicken, Angst vor dem Tuscheln. Es war keine Angst wie vor einer Prüfung, es war wie ein Gewicht, das sie nach unten zog.

Ihre Freundinnen standen immer noch jeden Morgen bei ihr. Aber etwas war anders. Einige warfen ihr mitleidige Blicke zu. Andere schwiegen. Mira fühlte sich immer mehr, als habe sie eine ansteckende Krankheit. Dabei hatte sich nichts geändert. Ihre Freundinnen dachten vielleicht, sie würde das locker nehmen. Sie war doch Mira. Was hätte sie sagen sollen? Sie kam sich lächerlich vor. Es war doch nur eine Narbe. Es war doch nur ein kleiner Teil. Das war doch nicht sie. Aber in den Pausen schwieg sie immer häufiger. Ihr Lachen wurde seltener. Ihre Augen dunkler.

Sie hatte ihre Mom immer dafür respektiert, dass sie sich nicht zu sehr einmischte. Aber auch sie machte sich Sorgen. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, aber nach dem Ja, das aus einem traurigen Lächeln entwich, beließ sie es dabei. Und Vater machte Frühstück. Mira führte kein Tagebuch mehr, weil sie Angst hatte, zu lesen, was sie dachte. Sie hatte Angst vor dem eigenen Denken.

Sie kam immer öfter direkt zum Unterricht, zog sich in den Pausen zurück, versteckte sich geradezu. Suchte nach einem Ausweg. Sie wollte niemanden mehr sehen. Niemanden mehr hören. Sich selbst am wenigsten. Dann schrieb sie doch noch einen Eintrag in ihr Tagebuch. Nicht lang, feste Schrift.

Es war ein Freitag im Juni. Die Sonne lag schwer auf der Schule, es war viel zu warm. Mira strahlte. Sie hatte ein Haarband mit Sonnenblumen, einen fliederfarbenen Rock, trug zarte Ohrringe, die sie sonst nie anzog. Sie merkte, wie die Menschen um sie herum aufatmeten. Als wäre sie wieder da aus einem langen Urlaub. Sie lächelte die Lehrer an. Sie hatte ihren Freundinnen kleine Geschenke mitgebracht an diesem besonderen Tag: einen getrockneten Lavendelstrauß, einen Kerzenhalter aus Glas. Ein ganz besonderes Notizbuch schenkte sie ihrer besten Freundin. „Es steht alles drin“, sagte sie. "Aber noch nicht gucken, versprochen?" Und als ihre Freundin Einspruch erheben wollte, wiederholte sie: "Versprochen?" "Versprochen." Sie wollte jedem etwas mitgeben. „Aber warum?“, wurde sie gefragt. „Nur so“, sagte sie, und lachte ihr Kristalllachen, das der Flur so lange vermisst hatte.

Dann kam der Montag. Die Schülerinnen und Schüler strömten in die Schule, aber es war wie in einem Film, bei dem der Ton abgestellt worden ist. Stille im Flur. Im Lehrerzimmer. Dann in den Klassen. Zuletzt auf dem Pausenhof.

Niemand sagte es direkt. Aber alle wussten es nun. Eine Lehrerin weinte in der Pause.
Ein Junge warf seinen Rucksack gegen die Wand. Ihre beste Freundin saß auf einer Bank und starrte auf den das Notizbuch, das Kunstwerk. Konnte sie nicht auf den Beinen halten, musste gehalten werden, fiel immer wieder auf den Boden, als wenn die Schwerkraft sich verdreifacht hatte. Dann ein Treffen in der Aula. Es wurde über „Anlaufstellen“ gesprochen. Über „Hinsehen“ und „Zuhören“. Aber niemand sagte ihren Namen.

Die Sonne schien. Es war zu warm. Luca sprach mit gedämpfter Stimme über Schwäche und Stärke. Dann klingelte es und man atmete, denn es muss immer weitergehen.

Und für wenige Tage roch es in einer Klasse nach Lavendel.

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10 comments on “KURZGESCHICHTE: Lavendel im Juni (2025)”

  1. ...und unbarmherzig bricht der neue Tag an. Der Tag danach. Eigentlich sollte die Welt stillstehen, aber sie tut so, als wäre nichts geschehen und zeigt dir damit in aller Grausamkeit auf, welche Schuld du in dir trägst...

    Ihre Kurzgeschichte ist leider sehr gut verfasst und trifft exakt den Punkt, an dem sich mir der Magen umdreht

  2. …genau so kann es aussehen und im schlimmsten Falle auch ausgehen…
    Sehr nah an unserer Realität als Kinder-und Jugendlichentherapeut:innen 🙏🏻
    Deshalb Hinsehen und Zuhören…Angebote machen, bessere Vernetzung von Psychologie/Psychotherapie und Schule!
    LG
    Doro

  3. Diese Kurzgeschichte ist so realistisch, daß es weh tut.
    Ob sie geeignet ist, Schüler:innen diese Thematik näher zu bringen? Eindeutig ja.

  4. Wunderbar geschrieben. Sehr anschaulich, leicht und gleichzeitig berührend.

    Dennoch ging es mir etwas zu schnell.
    Woher ist die Narbe? Was hat sie damit verbunden? Wie ist der Rückhalt zu Hause? Was hat sie früher erlebt, dass ihr Leben so strikt verläuft?
    Zu so einer Tat braucht es oft mehr als nur einen Kommentar.

    1. Danke! Ich habe mich bewusst gegen die Erklärung für die Narbe entschieden, weil der Grund nicht ausschlaggebend für ihren Umgang ist. Den Rückhalt habe ich an drei Stellen angedeutet. Du hast aber Recht: Als Novelle müsste man das ausführen, die Gründe angeben, die Mechanismen. Für die Kurzgeschichte wollte ich es bei subtilen Hinweisen belassen, die ich eingestreut habe.

      1. Genau das wäre ein wunderbarer Ansatzpunkt für Diskussionen in der Klasse, hat sich irgendjemand überhaupt dafür interessiert, woher sie die Narbe zb hat?!
        Trotz des Rückhalts kommt es dazu…wie schnell es wirklich gehen kann…

        Sehr gut geschrieben!!!

    2. Genau diese Offenheit macht die Narbe so symbolträchtig. An Mira ist ja vieles perfekt, der behütete Umgang zuhause, ihre Beliebtheit bei Lehrern und Mitschülern... Wären da nicht die sozialen Einflüsse der Medien und Mitschüler, ihre Narbe bliebe eine Narbe. Aber so kann man mit Schüler/innen wunderbar herausarbeiten, dass jeder Mensch diese Narbe - also einen Makel, eine Schwäche - an oder in sich trägt. Es bleibt der Fantasie der Schüler/innen überlassen, was diese Narbe alles symbolisieren kann.

  5. Danke für die Geschichte. Da schnürt sich mir alles zusammen. Und es muss keine Narbe sein. Es reicht der falsche Rucksack, die falsche Jacke, Sommersprossen, rote Haare, Brille... Und für "Überlebende" bleiben dann tiefe Narben - ein Leben lang. Sie verlassen dich nie. Mal tauchen sie für eine Weile im Unterbewusstsein unter und plötzlich sind sie wieder da. Da reicht nur das kleinste "falsche" Erlebnis, ein falscher Blick, ein blöder Chef, eine neidende Kollegin. Schwupps. Stehst Du auf dem Schulhof und bist das kleine Mädchen.

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