Hallo Bob, ich schulde dir noch eine Antwort.
Zuerst einmal: Nein, ich bestreite nicht, dass es aus der Sicht eines Pädagogen "problematisches Verhalten" bei Teeangern im Zusammenhang mit digitalen Netz-Geräten, -Medien und -Inhalten gibt. Ich sage das ausdrücklich, weil unser gemeinsamer Bekannter Christian Füller mit das immer neu unterstellt. Ja, es gibt Probleme. Und ja, es ist sinnvoll, sich damit zu befassen udn darüber nachzudenken.
Mein konkretes Problem ist der Begriff "Sucht" in diesem Zusammenhang. Und zwar das ständige suggestive Gleichsetzen des alltagssprachlichem Suchtbegriff ("Ich bin süchtig nach Schokoloade") und des klinischen Suchtbegriffs ("Hier liegt eine Heroinsucht vor.") Ich schließe nicht von vornherein aus, dass es irgendwann einmal einen wissenschatlichen Begriff einer solchen klinischen Sucht gibt, aber bis jetzt kann davon keine Rede sein. Stattdessen: Nebelwände und (nicht von dir!) auch ad personam- Provokationen unter der geistigen Gürtellinie. Den letzten Blogpost von Christian Füller mag ich nicht kommentieren, weil er zu absurd ist, um irgendwas Konstruktives dazu zu sagen.
Du beziehst dich auf die Stelle in meinem Buch, die ungefähr sagt: Die Rede von "Internetsucht" im klinischen Sinn sei schon deshalb falsch und unwissenschaftlich, weil sie sich, sobald man sie (sehr mühsam) zum Kern zurückverfolgt, am Ende auf Glücksspiel/Porno/Shopping bezieht. Die Rolle der digitalen Medien bei dem vermuteten Suchtverhalten ist damit völlig ungeklärt.
Ja, sie machen solche Inhalte leicht auch für Minderjährige zugänglich, und ja, ich sehe, dass sich daraus problematische Erfahrungen ergeben können. Aber wenn es sich überhaupt um eine "Sucht" handeln würde dann wäre es jedenfalls eine "durch Netzmedien erleichterte Glücksspiel-Sucht" usw. Es ist keine direkte Wirkung von "das Internet" oder "den digitalen Medien". Genau das wird aber immer neu in Überschriften, Schlagzeilen und "Studien" suggeriert. Und das führt dann zu falschen Folgerungen und Maßnahmen.
Man ist nicht süchtig "nach digitalen Medien" oder "nach einem digitalen Gerät". Das ist ein alltagssprachlicher Begriff ("Mein Sohn ist ja schon süchtig danach, der kann die Finger nie von seinem Smartphone lassen.") Und es wird von Studien befeuert, die Zahlen produzieren wie: "XX% aller Teenager fühlen sich unwohl, wenn sie einen tag lang nicht ihr Smartphone in der Hand halten können" undsoweiter.
Diese Boulevardpresse-Unschärfe findet sich auch noch in Stellungnahmen von Experten. Das ist mein eigentlicher Punkt, weil das immer neu das gesellschaftliche Nachdenken über Netzmedien und auch über Teenagerprobleme verwirrt und auf Abwege führt.
Das ist etwa bei der Erörterung von "Verhaltenssucht", wie sie im Enquete-Bericht des Bundestags dokumentiert ist, der Fall. Und noch nicht einmal das wird klar gesagt, man muss es aus vielen zum Teil widersprüchlichen Aussagen erst herauslesen. Ich verweise hier auf das Kapitel in meinem Buch und zwei Blogposts, die dort verlinkt sind.
Damit meine ich nicht: "Teenager haben gar kein Problem mit Gaming, oder mit Pornos, oder mit Shopping." Ich sage nur dreierlei:
Erstens: Wenn das eine klinische "Sucht" wäre wäre es dann keine Internetsucht, sondern allenfalls eben: Glücksspielsucht. Eine Shopping-Sucht oder Porno-Sucht oder Chat-Sucht usw. gibt es nicht als klinisch anerkanntes Syndrom. Es gibt also keine psychiatrisch anerkannte "Internetsucht", oder "Netzmedien-Sucht", oder "Smartphones-Sucht" usw. Das wird zwar in manchen Studien und Aufsätzen immer neu suggeriert oder nahegelegt, aber bei näherem Betrachten ist die Argumentation dahinter extrem löchrig und fragwürdig.
Hier geht es um eine sogenannte "Verhaltenssucht", die also nichts mit körperlich wirksamen Substanzen ("Drogen") zu tun hat. Nur eine einzige derartige Verhaltenssucht ist anerkannt: die "Glücksspielsucht". Bei den Versuchen, "irgendwas mit Internet" zur "Sucht" zu erklären, gibt es noch nicht mal Klarheit darüber, nach was genau die Leute hier süchtig sein sollen: den Inhalt? das Gerät? die User Experience der Software?
Und auch die "Glücksspielsucht" ist durchaus noch umstritten, weil man zu Recht fragt, was da eigentlich die suchtauslösende Kurzschlusswirkung ausmacht: Werde ich süchtig, wenn ich 100x an einem Glücksspielautomaten gespielt habe? Oder spiele ich 100x an einem Glücksspielautomaten, weil es mir psychisch schlecht geht? Das Argument hier scheint am Ende zu sein: Genau wissen wir es nicht, was hier der Auslöser ist, aber am Ende ist es nicht so wichtig. Das eigentliche quasi-körperliche Problem ist ja die Selbstschädigung, und das heißt hier konkret: dass die Leute dann pleite sind. Die Annahme dahinter: Wenn wir also die Gewohnheit irgendwie unterbrechen, geht es ihnen vielleicht immer noch schlecht, aber wenigstens verspielen sie nicht ihr Geld. (Vielleicht konsumieren sie stattdessen Intenetpornos, aber die sind ja gratis und körperlich folgenlos.)
Die Übertragbarkeit dieses bisher einmaligen "Verhaltenssucht"-Begriffs auf andere Phänomene ist, vorsichtig gesagt, äußerst umstritten. Es gibt zweifellos viele schwere neurotische Phänomene, und es gibt auch viele, die durch das Internet und Internet-Geräte leichter ermöglicht werden. Es bildet sich hier sozusagen ein neurotischer Rückzugsraum, in dem man tagelang gamen, chatten, Pornos schauen usw. kann. Es ist deshalb halt trotzdem keine "klinische Sucht".
Wenn ein Erwachsener das macht, das ist das seine Sache (solange er niemand schädigt). Unser Problem tritt hier nur bei Jugendlichen auf, weil sie eben nicht mündig sind. Das heißt, hier gibt es ein Elternteil, das sagt: Um Gottes Willen, mein Sohn/meine Tochter spielt/chattet nächtelang am Computer, sie sind gar nicht mehr wiederzuerkennen, und in der Schule sind sie auch schlecht. Da muss man doch was tun!
Das ist nicht ganz untypisch für schwere Pubertätsprobleme, die es weiß Gott gibt. Ich fände das auch nicht gut bei meinem Sohn/Tochter. Das kann sich sehr dramatisch anfühlen. Es ergeben sich pädagogische Probleme, die allerdings sehr schwer mit konkreten Gegenmaßnahmen zu verbinden sind. Kontakt mit Pornos oder Gewaltvideos lässt sich z.B. schlicht nicht verhindern, wenn Kinder solche Geräte in die Hand bekommen. Manche suchen so etwas, viele nicht, aber man kann jedenfalls nichts unmittelbar dagegen tun. Ich finde das nicht gut.
Aber es hat erst einmal NICHTS mit "Suchtkliniken" und "Suchtberichten" und "Drogenbeauftragten" zu tun. Es ist keine "Volksseuche". Es ist gut, wenn man Hilfe für sehr unglückliche Menschen anbietet. (Wenn die Leute sich selbst nicht unglücklich fühlen, kann man ohnehin wenig machen.) Es ist aber die Frage, ob es nicht schädlich ist, wenn man dieses Unglück auf eine angebliche "Internetsucht" reduziert, die wissenschaftlich nicht existiert, statt die wirklichen Ursachen aufzuklären.
Ein klinischer Fall liegt also genau dann vor, wenn eine Person an die Tür einer Klinik klopft und sagt: "Ich habe ein schweres Problem, mit dem ich nicht fertig werde. Bitte helft mir!" Das geschieht tatsächlich, aber es steht nirgends die Zahl derjenigen, die das tun. Viele können es nicht sein (es gibt nicht viele Plätze dafür). Jedenfalls nichts, was Bundestagskommissionen rechtfertigt.
Wir wissen auch nicht, was diejenigen sagen, wenn sie ans Kliniktor klopfen. (Oder die Eltern, die einen widerstrebenden Teen im Schlepptau haben?) "Es ist ein Problem mit Internetpoker?" Mit "Internetporno"? Mit "sozialen Medien"? Mit Instagram? Und wenn wir das einmal dokumentiert hätten, was die Leute selbst (oder ihre Eltern) sagen: Was ist WIRKLICH das Problem?
Zu einem simplen, falsch gebrauchten Suchtbegriff gehört immer der "Entzug" als Lösung. Im Alltagsgebrauch: "Detox". Das ist noch nicht einmal bei Heroinsucht so einfach. Therapeutisch sind die Ergebnisse von Therapien, die um den "Entzug" kreisen, nicht überzeugend, sagen viele Experten. Überhaupt scheint man bisher keine wirksame Therapie zu haben für das, was Therapeuten und Psychiater als eine "Verhaltenssucht" behandeln, ohne dass es diese wissenschaftlich gäbe. (Links im Buchkapitel.)
Wahr ist allerdings, dass es Gruppen gibt, die ein massives Interesse daran haben, dass ein solche neue "Volksseuche" anerkannt und vermeintliche Gegenmaßnahmen öffentlich gefördert werden. Das ist der pädo-therapeutische Komplex. Und genau zu diesem Problem nehme ich immer neu Stellung, wenn schon wieder die immer gleiche reflexhafte Diskussion aufflackert.
Wenn man die Gutachten und Expertisen der klinischen PraktikerInnen liest, die um das Phänomen "suchtartiges Verhalten im Zusammenhang mit Netzgeräten und Netzmedien" kreisen, dann fällt eine extreme Unschärfe auf. Es wird immer suggeriert, es handele sich um "Sucht", und immer dann, wenn etwas Genaues kommen müsste spricht man von "problematischem Verhalten". Natürlich, es gibt problematisches Verhalten. Es gibt massive Probleme und sehr viel Unglück da draußen, bei vielen Menschen.
Inwiefern das durch "das Internet" oder "digitale Netz-Medien"oder durch besondere Netzinhalte verschärft wird (durch "Online Gaming", Social Media im wilden weltweiten Netz für Teenager, oder was auch immer) ... ist zumindest offen, Es gibt keine belastbaren Erkenntnisse. Ich fände solche detaillierten Erkenntnisse interessant, aber bis jetzt hat sie noch niemand geliefert. Was es gibt, ist ein aufgeregtes Kreisen um die Begriffe "Internet", "Sucht", "Probleme" und de facto "Teenager".
Das hilft uns nicht nur nicht weiter, das verhindert konstruktive Lösungen für reale Probleme. Sowohl für Probleme, die irgendwie mit "das Internet" zu tun haben, als auch für psychische und persönliche Probleme von Teenagern.