Zunächst einmal muss ich mich bei allen entschuldigen, die diesen Blog per Mail abonniert haben und sich fragen, warum ich hier dauernd über die Komplexität von Netzdiskussionen schreibe. Es ist schwierig. Nach stundenlangen Reden und Befindlichkeiten habe ich aber, so glaube ich, mehr verstanden, worum es geht und was das Problem ist. Hier eine kleine Analyse.
Zunächst zum Grundkonflikt. Mein hoch geschätzter Kollege Philippe Wampfler hielt mir vor, dass ich Artikel schreibe, die auf Menschen zielen, ohne die Menschen zu nennen (das war nicht das erste Mal, insbesondere geschah es bei einem ähnlichen Artikel, der hier zu finden ist). Aus Wampflers Perspektive ist das verständlich, denn: Er möchte, wenn er gemeint ist, darauf reagieren können. Meine Perspektive ist: Ich ziele auf keinen. Mir geht es nicht darum, jemanden anzugreifen oder bloßzustellen, sondern darum, Prinzipien oder Muster zu beobachten oder schreibend zu erfassen. Alleine diesen Widerspruch können Philippe und ich nicht auflösen. Es ist unmöglich. Denn alleine auf die Person bezogen möchte Philippe, dass ich jeden, den ich meine, wenn ich einen Artikel schreibe, angebe.
Namen in Artikeln
Genau das möchte ich aber aus zwei Gründen nicht:
- Selbst wenn mich Philippe aufregen würde und ich deshalb einen Artikel schreiben würde, würde ich mir komisch vorkommen, einen Artikel zu schreiben, der den Titel trägt "Warum ich mit Philippe Wampfler nicht diskutieren kann" (alles theoretisch, wohlgemerkt).
- Es geht mir nicht um Einzelpersonen, sondern um das, was ich im Gespräch innerhalb und außerhalb des Netzdiskurses erlebe.
Was ich jedoch gerne verstehen würde, ist, was genau das Problem ist, wenn ich einen Artikel über Kommunikationsverhalten schreibe und sich Menschen angegriffen und vor den Kopf gestoßen fühlen. Der Kern ist also scheinbar der Umgang mit Kritik. Diesbezüglich lieferte Philippe sehr genaue Angaben in einem Thread, der zumindest an einem wichtigen Punkt zeigt, warum wir nicht konform gehen.
Eine Definition von Kritik auf Twitter
Bis hier bin ich absolut bei Philippe. Ich glaube auch, dass Kritik Wertschätzung ist (je nachdem, wie sie geäußert wird). Dazu ein Beispiel, wie Martin Lindner einen von mir geposteten Link beurteilt.
Das ist für mich freche Polemik. Ich brauche nicht aufzählen, wie viele andere Möglichkeiten der Kritik es hier gegeben hätte.
Und genau hier bin ich anderer Meinung. Zunächst einmal muss ich hier drei Fragen stellen.
- Wer sagt, dass man Kritik auf Blogs und über Twitter an den Standards des wissenschaftlichen Diskurses orientiert?
- Wer bestimmt, welcher wissenschaftlicher Diskurs gewählt wird?
- Was bedeutet in dem Falle wissenschaftlich?
Wenn die Antwort auf 1. Philippe Wampfler heißt, würde das bedeuten, dass ich zunächst nach einem Kriterienkatalog fragen muss? Das ist nicht polemisch, sondern ernst gemeint. Zu Nr. 2 ist die Ausgangslage genau so schwierig. Wir sind in unterschiedlichen wissenschaftlichen Welten sozialisiert und selbst im Germanistik-Fachbereich an der Universität Freiburg gab es unterschiedliche Maßstäbe. Und zu Nr. 3: Wenn Wissenschaftlichkeit bedeutet, dass ich jede meiner Aussagen auf den Blog mit einer Fußnote markieren muss, dann bin ich raus. Also nicht generell raus, aber raus auf dem Gespräch, denn das kann ich nicht leisten. Ich habe eine Familie und freue mich, wenn ich ab und zu einen kritischen Impuls liefern kann, aber das kann ich nicht. Diese Definition von Kritik ist also innerhalb eines universitären Umfeldes nachvollziehbar, aber höchst exklusiv, um nicht zu sagen: elitär. Wenn das das ist, was gewollt ist, kann ich nur sagen, dass ich nicht mitreden kann (wobei die meisten meiner Artikel sowieso nicht rezipiert werden, was völlig in Ordnung ist).
Da Philippe mich oben in den Thread getan hat, bin ich mir unsicher, ob er mich damit meint. Jedenfalls ist das nachvollziehbar. Und ich kann mir vieles vorwerfen lassen, nicht aber, dass ich Kritik nicht schätzen würde.
Da bin ich auch bei Philippe, obwohl ich hier hart als "hart an der Sache" verstehe, nicht an der Person.
Nachdem Philippe das geschrieben hat, nahm ich nochmals Bezug darauf, ob das immer gilt.
Wissenschaftliches Arbeiten
Und auch da bin ich gänzlich anderer Meinung oder sage anders: Das scheint aber nicht für alle zu gelten.
Normalerweise würde ich jetzt keine Namen nennen, tue es aber hier, um meinen Punkt zu machen und ohne mich nochmals lange darüber auszulassen, dass ich den Kollegen sehr schätze (dass ich Dejan und nicht irgendjemanden anderes nehme, hat den Grund, das er mir gerade einfällt. Man könnte sicher jemanden anders nennen). Nachdem Dejan Mihajlović den Begriff der "zeitgemäßen Bildung" eingeführt hatte und dieser - zu Recht - weiten Widerhall fand, habe ich sowohl bei Martin als auch bei Philippe keine kritischen Stimmen wahrgenommen.
Einen Begriff erfinden, dass macht man in der Wissenschaft oft. An der Universität Freiburg wollte ich beispielsweise einmal einen Begriff erfinden, der das Modell zu Post-Kolonial-Studies erweitert hätte. Ich fragte meine Professorin und die sagte mir, ich könne das machen, wenn ich zunächst global danach forschen würde, ob es den Begriff schon gäbe, diejenigen, die ihn genutzt hätten rezipieren, beurteilen, eingliedern und systematisieren würde und dann meinen Begriff als einen Teilbereich des Modell einfügen würde. Diese Arbeit hätte mich, über den Daumen gepeilt, ein halbes Jahr gekostet.
Hat Dejan das gemacht? Natürlich hat er das nicht. Wie könnte er auch. Er hat Familie, schreibt Blogeinträge, haut ein Event nach dem anderen raus (unter anderem das mittlerweile riesig gewordene Barcamp). Kann er dann, bevor er den Begriff nutzt, ein halbes Buch darüber schreiben, inwiefern er den Begriff benutzen kann, von dem er denkt, dass er anderen hilft? Nein, das kann er nicht. Deshalb schreibt er es als Idee in den Blog, wird rezipiert, erlangt Kritik, nutzt ihn weiter. Das ist aller Ehren wert, genau wie mein Weltaneignungsmodell - aber wissenschaftliches Arbeiten ist das nicht. Entweder ist mir also die stundenlange Kritik daran entgangen, dass Dejan unwissenschaftlich gearbeitet hat, oder hier werden verschiedene Maßstäbe angelegt. Verwunderlich fände ich das nicht, da es eben auch um Beziehungen geht. Das bedeutet: Wenn eine Riege von Menschen, die sowohl universitär als auch schulisch arbeiten, mehr oder wenig willkürlich definieren können, wie ein Diskurs zu laufen hat, dann bedeutet das, das sie genau das tun, was sie eigentlich nicht wollen: Exklusivität fördern.
Noch ein Wort zu Namen in der Diskussion
Und nun noch etwas zu Namen in der Diskussion und Befindlichkeiten. Ich nehme sehr an, dass Philippe diesen Artikel besser findet als jene ohne Namen, da er, wie oben erwähnt, sich "wehren" kann. Dies ist für mich ein typischer Artikel, bei dem ich keinen Namen verwendet hätte, und zwar aus folgenden Gründen:
- Um den Punkt zu unsachgemäßen Aussagen zu machen, habe ich einen Tweet von Martin Lindner aus dem Kontext gerissen. Er steht nun so da, als würde er das dauernd machen, was nicht der Wahrheit entspricht.
- Weil dem so ist, ist die Chance hoch, dass er sich auf den Schlips getreten fühlt.
- Ich muss fürchten, dass Dejan sich auch angegriffen fühlt, weil ich ihm im Prinzip Unwissenschaftlichkeit vorwerfe.
- Ich erscheine womöglich als neidvoll, weil ich Dejan "angreife", obwohl ich den Begriff nicht nur sehr passend finde, sondern ihn auch oft und gerne nutze.
Was ist durch die Namen also gewonnen? Ich finde: nicht viel.
Abschließend
Obwohl ich nicht mehr so enthusiastisch bin wie vor ein paar Jahren, gibt es keinen Workshop, den ich gebe, auf dem ich nicht von Twitter berichte und schwärme. Der Grund dafür ist, dass ich sage, dass man dort auf Augenhöhe miteinander reden kann. Wenn die Maßstäbe für einige oder alle aber so hoch angesetzt werden, dann weiß ich nicht, ob ich das weiterhin sagen kann. Ich würde mir wünschen, dass auch jene, die schon ein paar mehr Bücher gelesen, geschrieben und rezensiert haben, nachfragen und nüchterne, sachliche Kritik üben, wenn sie mit etwas nicht einverstanden sind. Und ich freue mich darauf, auch weiterhin den Gesprächen und der Kritik zuzuhören - sei sie in Blogs formuliert oder auf Twitter -, die nicht wissenschaftlichen Standards genügen, einfach deshalb, weil mich die Meinung interessiert. Wenn jemand einen Link zu einer Statistik, einem Forschungsbeitrag, einem Buch oder eine Rede hat, ist das toll. Wenn nicht, werde ich damit leben können.