Es gibt bestimmte Begriffe, die – so scheint es – jeder anders verstehen kann. Das Ergebnis ist dann oftmals Verwirrung. Und eine solche Verwirrung ist nicht gerade hilfreich, wenn es darum geht, gute Interpretationen zu schreiben. In letzter Zeit häufen sich Fragen zu sogenannten “aspektorientierten Interpretationen”, die zeigen, dass nicht allen Beteiligten klar ist, worum es eigentlich geht. Das ist kein Wunder. Denn aus meiner Sicht gibt es vier Arten dieser “aspektorientierten Interpretation”. Ein Versuch einer Entwirrung. 

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Das hier Beschriebene bespreche ich auch in einem dazugehörigen Video, in dem ich auch kurz auf zwei Beispiele eingehe.

Was bedeutet aspektorientiert?

Eigentlich müsste schon zu Beginn der Frage geklärt werden, welche Formen der Interpretation “aspektorientiert” genannt werden können. Denn aus meiner Sicht gibt es vier Arten der Aspektorientierung. Ganz allgemein kann man aber sagen: Eine aspektorientierte Interpretation orientiert sich an den Aspekten, die in einem Text relevant sind. Es liegt nahe, danach zu fragen, was denn genau relevant ist. Und genau das ist die Schwierigkeit: Das müssen die Interpreten in den meisten Fällen herausarbeiten. Konkret:

Wenn ich die Kurzgeschichte “Nacht” von Sibylle Berg interpretiere, dann muss ich beispielsweise darauf kommen, dass es einen auktorialen Erzähler gibt, der sich auf die Seite der jungen Menschen schlägt, deren Mut er bewundert. Der auktoriale Erzähler ist also ein wichtiger Aspekt. Daraus lässt sich aber keine allgemeine Empfehlung ableiten, also etwa: “Achte immer auf den auktorialen Erzähler.” Denn ob der Erzähler relevant ist oder gar nicht anwesend – wie bei einer neutralen Erzählperspektive – hängt von der Bauart des Textes ab. Mit anderen Worten: In den meisten Fällen muss die Analyse des Textes (wenn man damit das wiederholte Lesen, Anstreichen, Erstellen von Randnotizen etc. meint) zunächst einmal die relevanten Aspekte ergeben. 

Unabhängig von dieser allgemeinen Darstellung, gibt es aus meiner Sicht vier Arten der Interpretation, die als aspektorientiert gelten.

1. Möglichkeit: Aspektorientierte Interpretation als allgemeine Interpretation

In den offiziellen Ausführungen des Landesbildungsservers Baden-Württemberg zeigt eine Darstellung, wie die Verantwortlichen die aspektorientierte Interpretation verstehen.

Lizenz CC BY 4.0 International
Herausgeber: Landesbildungsserver Baden-Württemberg
Quelle: https://www.schule-bw.de

Es wird klar: Hier geht es um eine gute und eine schlechte Interpretation. Während die schlechte, die man auf der rechten Seite sieht, quasi eine Nacherzählung ist, ist eine gute eine Interpretation, die sich auf zuvor herausgearbeitete Aspekte (hier beispielsweise die Aspekte einer Kurzgeschichte) bezieht.

Aus meiner Sicht kann eine solche aspektorientierte Interpretation dennoch grundsätzlich chronologisch sein. Will sagen: Man schreibt, was passiert, bis man an der Stelle ist, an der etwas Grundsätzliches erklärt werden muss, der Aspekt also analysiert wird.

Fazit: Eine solche Interpretation ist aspektorientiert, indem sie Rücksicht auf die wichtigsten Aspekte des Textes nimmt, ohne allerdings die Chronologie des Textes unbedingt aufbrechen zu müssen.

2. Möglichkeit: Aspektorientierte Interpretation als anachronistische Interpretation

Auch wenn es sich schwierig anhört: “anachronistisch” heißt einfach nur, dass man sich nicht nach der Chronologie richtet, die der Text vorgibt. Man schreibt also nicht nach und nach, was beispielsweise in einer Kurzgeschichte passiert, sondern man orientiert sich tatsächlich an einem Aspekt. Dieser kann, und das ist der Unterschied, auch am Ende der Kurzgeschichte (oder eben eines anderen Textes) liegen.

Das ist allerdings schwierig und bedeutet einen hohen Grad des Verständnisses. Um es konkret zu machen: Ich könnte mit der These beginnen, dass das Ende der vorliegenden Parabel zentral für ihr Verständnis ist und dies erläutern (welchen Aspekt auch immer dies betrifft, hier beispielsweise bei “Vor dem Gesetz” durchgeführt), und erst dann auf die anderen Teile der Parabel eingehen. Damit hätte ich mich also im wahrsten Sinne an einem oder an mehreren Aspekten orientiert. Damit verlasse ich die inhaltliche Struktur des Textes und richte mich nicht mehr nach der Handlung, sondern nach den von mir herausgearbeiteten Aspekten.

Fazit: Eine solche Interpretation ist aspektorientiert, indem die Chronologie verlassen wird und die Aspekte beispielsweise nach Wichtigkeit sortiert (aber dennoch nachvollziehbar und sinnvoll) besprochen werden.

3. Möglichkeit: Aspektorientierte Interpretation als Schwerpunktinterpretation

In Baden-Württemberg wird ab dem Abitur 2023 in einer Interpretation ein Aspekt vorgegeben (dies ist in anderen Ländern schon der Fall). Das bedeutet, dass man seine Interpretation an diesem Aspekt ausrichten muss.

Daraus folgt nicht, dass man die anderen Aspekte des Textes nicht beachtet. Der Schwerpunktaspekt ist vielmehr der Fluchtpunkt, auf die die Interpretation hinausläuft oder aber die wichtigste These, die schon in der Deutungshypothese übernommen werden und dann belegt werden muss.

Diese 3. Möglichkeit der aspektorientierten Interpretation ließe sich also mit den beiden ersten Arten verbinden. Verbunden mit der ersten Möglichkeit würde es bedeuten, dass der genannte Schwerpunkt dann, wenn er auch chronologisch “dran kommt”, besonders intensiv besprochen wird. Das ist allerdings dann schwer, wenn es sich um einen abstrakten Aspekte wie das Thema oder einen Konflikt handelt, der viele Teile des Textes betrifft.

Verbunden mit der zweiten Möglichkeit würde das heißen, dass der genannte Schwerpunkt an geeigneter Stelle (vorne oder hinten in der Interpretation) ausführlich behandelt wird. Meist ergibt sich eine doppelte Thematisierung: Man teasert den Schwerpunkt mit der Deutungshypothese an, führt eine Interpretation durch und kommt dann zu einem Schluss, in dem der vorgegebene Schwerpunkt ausführlich begründet am Text erläutert wird.

Auch möglich wäre eine durchgehend auf den Aspekt hinweisende Deutung.

Fazit: Eine solche Interpretation ist aspektorientiert, indem sie sich an einem vorgegebenen Aspekt orientiert und diesen auch hinsichtlich des Umfangs in die Tiefe gehend bespricht. Der Schwerpunkt schließt aber andere Aspekte nicht aus, sondern basiert auf der Herausarbeitung dieser anderen Aspekte.

4. Möglichkeit: Aspektorientierte Interpretation als Aufzählung von Aspekten

Von der letzten Möglichkeit der aspektorientierten Interpretation möchte ich abraten. Bisher habe ich keine solche Interpretation gelesen, die gut gewesen wäre. Mir kommt es oftmals eher so vor, als würde die zweite Möglichkeit probiert, aber eben ohne erfolgreich zu sein.

In einer solchen Interpretation wird gar nicht mehr auf die Handlung eingegangen, sondern die Aspekte werden nach und nach “abgefrühstückt”, meist ohne dabei darauf zu achten, ob sie relevant sind oder nicht. Solche Interpretationen sind zwar irgendwie auch orientiert an Aspekten, aber sie lesen sich meist schlecht und haben keinen inneren Zusammenhang.

Fazit: Eine solche Interpretation ist aspektorientiert, indem sie einfach alle Aspekte nach und nach benennt und auf den Text bezieht – meist auch dann, wenn der Aspekt gar nicht enthalten ist. Von einer solchen Interpretation rate ich ab.

Fazit

Wenn man eine aspektorientierte Interpretation schreiben soll, sollte die erste Frage lauten, welche Art von Aspektorientierung gemeint ist. Ist die erste Möglichkeit gemeint, muss man darauf achten, dass man auch wirklich bei den Aspekten verharrt, Dreischritte vornimmt und nicht einfach nur nacherzählt.

Die zweite Möglichkeit ist, wie erwähnt, für Profis und Experten. Die dritte Möglichkeit ist jene, die bald im Abitur eine Rolle spielen wird, und die grundsätzlich geübt werden muss. Allerdings sind die Aufgaben, die man in Schulbüchern findet, oft schon eine Art Hinweis auf Schwerpunkte. Man muss sich dessen nur im Klaren sein.

Und zum Schluss: Verzichtet lieber auf die letzte Möglichkeit (außer die Lehrperson besteht darauf).

4 Kommentare

  1. Ich bin davon beeindruckt, wie viele Fachausdrücke inzwischen in den Deutschunterricht eingezogen sind, die meiner Meinung nach wenig geeignet sind, das Textverständnis zu verbessern.
    Aber ich habe diese Fachausdrücke zur Zeit meines Unterrichtens noch nicht gekannt und deshalb nicht die Chance gehabt, ihre Fruchtbarkeit beim Lernvorgang zu erproben.
    Insgesamt scheint es mir, dass damit eine größere Eindeutigkeit von Aufgabenstellungen erreicht werden soll, damit beim Zentralabitur eine größere Vereinheitlichung ermöglicht wird und geringere Verständnisprobleme auftreten.
    Ich wünsche dem Unternehmen viel Erfolg, auch wenn ich daran zweifle.

    • In der Tat. Ich könnte manchmal verzweifeln. Aber das hindert mich natürlich nicht daran, das für die Schüler*innen aufzudröseln, damit klar ist, was überhaupt gefordert wird. Ob das die Texte besser macht, wage ich mal zu bezweifeln. Aber schlechter macht es sie auch nicht. Oder anders: Es ist ein größeres Problem, wenn Schüler gar nicht wissen, was sie überhaupt leisten sollen.

  2. Da hast du ganz eindeutig Recht. – Ich befürchte nur, dass viele Lehrer die Terminologie – für sich selbst – nicht so sauber klären wie du und dass so zusätzliche Probleme bei der Korrektur entstehen. Aber das sollte nicht dein Problem sein.

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