Während die halbe Fach- und Laienwelt noch mit Böhmermanns Persiflage „Ich hab’ Polizei“ beschäftigt ist, verpasst sie das wichtigste und beste Rap-Album des Jahres. Dabei ist das neue Album von Alligatoah „Musik“ ist keine Lösung nicht nur style- und reimtechnisch mal wieder eine wahre Fundgrube. Eigentlich müsste man von jedem Deutschlehrer fordern, das Album in den Lyrik-Kanon aufzunehmen. Und das aus mehreren Gründen.

Seit meinem Unterrichtsentwurf zu Caspers Album XOXO ist schon einige Zeit vergangen. Seitdem unternahm ich den halbherzigen Versuch, Kollegah für die Schule zu fordern, was natürlich unter normalen Umständen ob der chronischen Obszönität aller Lieder für einen Sturm der Entrüstung sorgen würde. Aber wirklich ergiebig ist das „Ich bin besser als du“-Thema auch nicht, auch wenn es rhetorisch brillant vorgetragen wird.

Anders ist es beim neuen Album von Alligatoah. Im Prinzip kann man sagen, dass die ironisch vorgetragene Platte eine postmoderne Rundumschau eines bürgerlich verstaubten Deutschlands ist, in dem jeder versucht, Verantwortung möglichst zu umgehen.

Schon im Intro Comeback des Jahres wird das Bild des Zusammenbruchs der Gesellschaft gezeichnet. Dieses Bild wird immer wieder aufgenommen. Dass der Sänger sich nicht besonders ernst nimmt, wird nicht nur im letzten Lied klar, sondern auch im zweiten Lied Denk an die Kinder, in dem die Quotengeilheit abgehalfterter Nicht-Mehr-Stars thematisiert und kritisiert wird. Freilich als Selbstanklage.

Alligatoah schlüpft dabei sowohl stimmlich als auch in den Musikvideos in seine alter egos und gibt so von Grönemeyer über Xavier Naidoo bis hin zu Udo Lindenberg und den Sportfreunden Stiller noch die volle Breitseite mit. Das ist Gesellschaftskritik verpasst in feinste Worthüllen.

Im wunderbar eingängigen Stück Lass liegen klagt der Rapper die zunehmende Umweltverschmutzung an. Ja, ihr habt richtig gehört. Rapper und Umweltverschmutzung. In einem – wie soll es anders sein – Anklang an das Lied von Blümchen aus den 90ern heißt es ein brüllendem Ton am Ende des Liedes: „Wie ein Boom, Boom, Boom, Boomerang werf ich in den Wald, aber vergess, dass der auch rufen kann.“

Noch schlimmer kriegt es der Vorgarten-Nazi in Bürgergewand ab. Im Lied Vor Gericht wird die deutsche Abmahnkultur aufs Korn und ins Gebet genommen. Der aus allen Rohren schießende Spießbürger muss am Ende aber eingestehen, dass er bei einem Zusammenbruch eines Systems ohne seinen Anwalt nichts wäre.

In den drei Versionen von Mama, kannst du mich abholen (6, 10, 14) wird die Helikopter-Kultur auf die Spitze getrieben. Da will der arme Attentäter von seiner Mutter abgeholt werden.

Das Lied Hab ich recht hätte den deutschen Oskar verdient. Wie das Lied schon sagt, geht es um den notorischen deutschen Wunsch, Recht zu haben. Nur eben nicht beim Recht auf Schweigen. Der Faschismus und der Nationalismus werden als hohle Ideologien verpackt; Mützenträger wettern gegen die Hutträger, verbrennen die Hüte. Apfelesser (klar, eine weitere Analogie) hassen die Birnen essenden Artgenossen. Eine subtilere Anklage gegen den Faschismus gibt es nicht. Aber sie bleibt cool, hip, unangreifbar ob der humorigen Ironie (auch wenn man bezweifeln darf, dass alle sie verstehen).

In Gute Bekannte wird die Oberflächlichkeit als chronische Krankheit der Stets-Vernetzten entlarvt. Bekommt die Worthülse einen faden Beigeschmack. Im Lied Das bedeutet Krieg wird es dann für Alligatoah-Verhältnisse geradezu sachlich. Die Konkretisierung, was Krieg wirklich für den westlichen Besserwisser bedeuten würde, geht dann auch unter die Haut.

In der Abrechnung Du bist schön wird dann noch im Vorbeigehen die Generation-Heidi mit ihrem über alles gehenden Schönheitsideal in die Tonne gekloppt. „Wer nicht leiden will, muss schön sein“, hämmert das Lied dem Instagram-Account-Addict die Wahrheit in die Ohren.

In Doktor spielen kriegt das Versicherungsgeschäft und der Selbst-Googler einen vor die Mütze, wie es schöner nicht sein könnte.

Das letzte Lied Musik ist keine Lösung ist dann der wortwörtliche Abgesang auf die eigene Wirkung als Liedermacher. Die eigenen Hoffnungen werden zerstört und hehre Interessen als Wichtigtuerei entblößt.

Das ist im Vorbeigehen geschrieben. Nach einmaligem hören. Ich bin mir sicher, dass es noch zahlreich weitere Elemente gibt, die zu fokussieren lohnen würde. Das Album ist ein Studium in subtiler Ironie, praktischer Rhetorik, Wortkunst und Musikalität. Wenn das die Deutschlehrer wüssten!

tl;dr

Alligatoah müsste in den Deutschunterricht. Nein, mehr: Er muss!

8 Kommentare

  1. Sehr schöner Artikel, kann ich dir nur zustimmen 🙂 bin zwar bei ein, zwei Punkten anderer Meinung in Hinblick auf die Interpretation aber darum geht es ja auch. Finde den Vorschlag mit dem Deutschunterricht gut. Man muss halt nur aufpassen, dass man durch die Behandlung den Schülern nicht das Interesse oder so versaut.
    LG

  2. Hallo,
    Ich bin gerade auf diesen Beitrag gestoßen und habe gesehen, das dieser schon ein paar Jährchen her ist..
    Zu Alligatoah möchte ich ebenfalls eine Unterrichtseinheit machen. Ich bin momentan in der 12. Klasse und bald soll jeder eine Einzel- oder Doppelstunde in Deutsch halten. Das Thema ist momentan die Romantik. Ich hatte eigentlich an „Musik ist keine Lösung“ gedacht, allerdings trifft das nicht wirklich auf die Romantik zu.
    Vielleicht möchte sich jemand mit mir in Verbindung setzten für alternative Vorschläge? 🙂

    LG!

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