"Nur gelegentlich freiwillige Mitarbeit im Unterricht. Äußerungen beschränken sich auf die Wiedergabe einfacher Fakten und Zusammenhänge aus dem unmittelbar behandelten Stoffgebiet und sind im Wesentlichen richtig."
Wir halten fest: Bei einer ausreichenden Note, die in der Oberstufe 5 Punkten entspricht, handelt es sich um eine Leistung. Zwar ist es eine "Wiedergabe", aber diese ist eben vorhanden und richtig. Und zwar "gelegentlich". Mit anderen Worten: Wenn jemand aktiv am Unterrichtsgeschehen beteiligt ist und sich wie es hier dargestellt wird bemüht, erbringt er eine Leistung, die mit 5 Punkte bewertet wird. Bloße physische Anwesenheit und gelegentliches Atmen sind dabei nicht eingeschlossen.
Das Problem an Kompetenzorientierung und Agilität
Sowohl Kompetenzorientierung als auch agiles Arbeiten sind, wenn sie erst genommen werden, sehr gute Ansätze für eine prozessorientierte Arbeit. Aber man kann sich nicht nur hinter beidem verstecken, sondern beides kann auch problematische Konsequenzen haben.
Zunächst eine problematische Konsequenz der rhetorisch geschulten Lehrkraft: Jeder, der online und offline mit Schule, Unterricht und Bildung beschäftigt ist, so mutmaße ich, ist in der Lage, schlechten Unterricht rhetorisch so aufzuplustern, dass es sich nach einer gewinnbringenden Sache anhört. Das ist fatal und erfordert von Lehrkräften sich zu hinterfragen: Ist das, was ich tue, tatsächlich gewinnbringend? Oder hört es sich nur so an? Ist meine Konzeption nur als Idee gut? Oder erbringt sie tatsächlich erfolge? Eine solche Selbstreflexion ist nötig und kann schmerzhaft sein.
Diesem möglichen Schmerz muss man sich aber stellen, gerade dann, wenn man als Experte für eine bestimmte Unterrichtsform gilt, die gerade in Mode ist.
Nehmen wir das Beispiel Agilität: Agiles Arbeiten kann, wenn man es richtig umsetzt - man muss sagen: umsetzen lässt - ungemein produktiv und sinnvoll sein. Selbstständiges Arbeiten wird gefördert, Verantwortung übernommen, Zusammenarbeit gestärkt. Gleichzeitig könnte man schlechten Unterricht aber auch einfach agil nennen. Schwups, mit der neuen Marke lässt es sich besser verkaufen, dass ich nichts mehr vorbereite.
Neben diesen rhetorischen Finessen hat die Kompetenzorientierung aber noch eine ganz andere Problematik. Sie führt teilweise in so starke Partikularisierung, dass nichts Ganzes mehr entsteht. Beispiel: Sprachen. Die in den Schulbüchern abgebildete Kompetenzorientierung führt dazu, dass jeder noch so kleine Text "nutzbar" gemacht werden muss. Das "unnütze" Wissen, jenes also, das ganz zufällig zum Gedanken anregt, fehlt. Das "Wissen", das vielleicht Jahre brach liegt, aber dann aufgenommen werden kann, wenn man es gar nicht mehr vermutet.
Es fehlt die schöne Redundanz, die sich ergibt, wenn man beispielsweise ein ganzes Werk liest. Und damit sind wir bei der nächsten Kontroverse, erscheinen doch kanonische Werke vielen als Überkommen. Entweder will man den "Faust" ganz abschaffen, oder man schreibt über den Werther, indem man in "ganz modern" lächerlich macht:
Werther versinkt langsam im eigenen Gesülze über die Frage, ob er eines Ehrenmannes Frau ausspannen soll oder nicht.
"So geht Deutschunterricht!" heißt es dann in dem Titel Der NZZ. Wer diesen Blog kennt, der weiß, dass es bei der kritischen Bewertung von solchen Zugängen per se ist. Aber der Punkt ist: Schüler*innen haben das Recht darauf ge- und überfordert zu werden. Sie haben das Recht darauf, Dramen, Romane und lyrische Texte in ihrer Historizität kennenzulernen. Sie haben das Recht darauf, das Gefühl kennenzulernen, das sich nur ergibt, wenn man sich in etwas hereingebissen, es unter Anstrengung umgewälzt und es dann verstanden hat.
Die übernommene Verantwortungslosigkeit
Ganzheitlichkeit, Zusammenhänge, Struktur - all das gerät in Verruf, ist nicht mehr modern. Oder anders gesagt: Alles wird in Kompetenzschnipsel zerstückelt, die auf dem Silbertablett serviert werden: Herr Schüler mag keinen ganzen Text lesen? Hier ein Snack, da ein Video und bitte nicht überfordern, denn beides ist sowieso schon so alt, das es schon gar nicht mehr lohnt.
Überhaupt: In vielen Ansätzen über die "digitale Bildung" scheinen die Ausführungen seltsam entkernt. Die wichtigste Frage: Warum überhaupt? versinkt in Geschwafel über 21. Century Skills, deren Konkretisierung ein weiteres Mal entkernt sind. "Kritisches Denken" kann man nur lernen, wenn Substanz vorhanden ist. Und Substanz bedeutet der Umgang mit Neuem, Schwierigen, Widersprüchlichem. Das Lesen eines zusammenhängenden Textes, der schwierige oder "altbackene" Wörter beinhaltet, von vorne bis hinten, schult nicht nur die Lesekompetenz. Er erweitert den Geist, macht Neues fassbar. Dabei ist es übrigens herzlich egal, in welcher Form ein solcher Text vorliegt.
Modern ist aber das Schnipseln. Die visualisierte Täuschung mithilfe von digitalen Vorlagen. Konkret: Einer Schülerin, die über 12 Jahre Texte gelesen habe, kann ich in 5 Minuten zeigen, wie ich einen kurzen Text mithilfe von Adobe Spark visualisiere. Aber andersrum geht das nicht.
Hätte ich freie Hand würde ich das Experiment wagen, zwischen allen Schulwochen, die ein Schuljahr hat, ein Buch zu lesen. Natürlich altersangemessen, natürlich geschlechtergerecht, natürlich global relevant. Aber eben: Keine herausgearbeiten Kompetenzen, nichts weiter. Auch hier: Ich würde sicherlich Filme machen lassen, Hörspiele, Memes - all das! Geschenkt! Aber ab und an würden wir in Englisch, auf Deutsch in Geschichte über Passagen sprechen und schreiben. Und nach einem Jahr würden wir schauen, wie gewinnbringend das war. Diese Zeit haben wir nicht.
Stattdessen wird alles kleiner und kürzer. Schnipsel bis zu dem Punkt, an dem es für Schülerinnen im Deutschkurs geradezu eine Anmaßung wird, wenn sie als Hausaufgabe eine ganze Interpretation schreiben müssen.
Wenn ihr über Jahre in der Schule lerne, dass es nur um das Abarbeiten von Schnipseln geht, die dann bewertet werden, dann ist jede Form der ernsthaften Beschäftigung redundant. Und dann kommt die Frage nach dem Nutzen: Wofür brauche ich das? Ein so offensichtlicher Frame, dass er nicht mehr hinterfragt wird. Wenn die Kompetenz wichtiger ist als der Inhalt, dann geht es nur noch ums Können. Holocaust, egal, ich KANN eine Quelle interpretieren. Also eine andere, aus einer anderen Zeit, egal.
Der Bildungsbegriff wird zur Geisel der Nutzbarmachung. Der Gedanke, dass Bildung auch dafür da ist, etwas zu tun, NACHDEM man nach Hause kommt, scheint abwegig. Dass Bildung bedeutet, Möglichkeiten zu haben, gegen die man sich entscheiden kann. Das Kennenlernen der Vielfalt, der Setzung des eigenen Ichs in einen größeren Zusammenhang. Stattdessen glauben wir die Mär der "Beschreibung dessen, was ist." Wir setzen und mit dem Auseinander, was die Jugend uns vorgibt, um sie ja nicht mit Komplexität oder Menge zu überfordern.
Dazu passt digitale Bildung ganz gut. Als letzten Schritt müssen wir nur noch die Inhalte komplett von den Formen ablösen: Gestalte ein Slow-Motion-Video über irgendwas. Was ist egal.
Die Entfernung schreitet voran mit Sätzen, die angeben, dass man ja heutzutage alles googeln könne. So naiv dieser Irrtum ist, so richtig ist er in seiner Falschheit. Wenn ich nicht weiß, was ich nicht kenne, kann ich es zwar nicht googeln. Aber wenn ich nicht weißt, dass ich es nicht kenne, weiß ich auch nicht, dass ich es nicht googeln kann. Praktisch.
Referenzierung ist out, genau wie das Lernen des sogenannten "toten Wissens". Das Propagieren sogar jene, die sich dann später darüber echauffieren, dass Studenten nicht zitieren können. Verzeihung, nicht mal sinnentnehmend lesen. Keine Daten wissen. Kann man googlen. Mit solchen Behauptungen stärkt man eine Verantwortungslosigkeit, die dann übernommen wird und Lehrerinnen und Lehrern auf die Füße fällt.
Die Noten sind zu schlecht, die Texte waren zu schwer, zu alt, zu komplex und überhaupt, wieso gab es kein leckeres Dessert für alle, die die Hausaufgaben gemacht haben?
Anstelle eines Fazits
Zwei Fragen bleiben unbeantwortet: Was zum Teufel ist eigentlich der Punkt dieses ausschweifenden Essays? Und: Kann man nicht beides miteinander versöhnen, das Komplexe und das Neue?
Zunächst: Essays haben per definitionem keinen einzelnen Punkt. Deshalb steht man als Leser immer vor der Frage, ob man selbst, wenn man nicht alles verstanden hat, zu blöd ist oder der Autor es nicht geschafft hat, sein Anliegen klar zu machen. Ein kleiner Tipp: Damit, dass die anderen Schuld sind, kann man heutzutage immer ganz gut fahren. Insofern verspreche ich, mich beim nächsten Mal zu bessern. Vielleicht schreibe ich eine Liste oder mache ein schönes Schaubild.
Zum anderen: Puh, schwierig. Wir brauchen auf sehr vielen Gebieten Mut. Wir brauchen Mut, den Kontrollverlust, der durch die digitale Transformation zwangsläufig entsteht, anzunehmen. Wir brauchen Mut, uns auf neue Formen von Unterricht und Bildung einzulassen.
Aber, das große Aber, wir brauchen auch Mut uns daran zu erinnern, das die Erkenntnis in den meisten Fällen nicht von den Bäumen fällt. Und dass man als Lehrperson neben der Förderung eben auch fordert. Und das fordern beinhaltet, dass man scheitert. Und das Scheitern Möglichkeiten des Lernens beinhaltet.
Fröhliches Scheitern miteinander.