Das klingt wie die Grundlage für eine Endzeit-Story und gleichzeitig erschreckend realistisch. Ich hoffe so sehr, dass es nicht so weit kommen wird,
Ohio, 23.2.2030
Vielleicht ist das meine letzte Chance. Das ist mein Beweis. Ich weiß selbst, wie lachhaft es anmutet, dass ich hier mit Papier und Stift sitze wie ein Neandertaler. Auch bin ich mir nicht sicher, ob der Visual Echo im hinteren Rand meiner Wohnung die Geräusche meines Kullis aufzeichnet und einordnet. Wir werden sehen, ob es gleich klopft.
Ich mache das nicht aus einer Hoffnung heraus. Wir, das heißt, der demokratische Untergrund, haben die Hoffnung spätestens seit dem Ereignis begraben, das unter „Vorfall X“ die Trends beherrscht hat.
Keiner weiß, ob der damalige Scheinpräsident Trump tatsächlich vergiftet wurde. Wie spekulierten auf Ketamin. Die öffentlichen Auftritte, von denen nicht mit absoluter Sicherheit gesagt werden konnte, ob sie KI generiert waren, ließen jedoch den Schluss zu, dass da jemand nicht mehr Herr seiner Sinne war. Und zwar nicht wegen einer simplen Sprache, die schon in den frühen 2020ern vielen Kopfschütteln bereitete. Er war, wie wir sagen würden, Salat, die Spucke lief das Kinn runter und wusch an diesem Teil die orangene Schminke vom Gesicht, so dass ein weißer Fleck zu sehen war.
Elon Musk stellte sich in der Sendung des damals noch bestehenden Nachrichtenkanal FoxNews hinter Trumps Stuhl und grinste in die Kamera, während er erzählte, dass nun der endgültige Notstand eingetroffen ist.
Um die Bevölkerung vor weiteren Vergiftungen zu schützen, hinter denen demokratische und sozialistische Kräfte vermutet wurden, wurde die Armee im Landesinneren eingesetzt. Es folgten die Ausgangssperren.
Es sind erst sechs Jahre vergangen.
Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit. Ich schaue aus meinem zerbrochenen Fensterrahmen hinunter auf die zugemüllte Gasse. Früher, bevor die Gelder für öffentliche Plätze gestrichen wurden, war hier ein kleiner Park. Ein Ort, an dem Kinder spielten und ältere Leute auf Bänken saßen. Jetzt ragen Stacheldrahtzäune und abgerissene Banner von Musk-Industries in den grauen Himmel. Ein gepanzerter Jeep biegt zu jeder Stunde um die Ecke, schwarze Flaggen wehen an seinen Seiten. Darauf ein weißes X. Er fährt langsam, damit seine Kameras jeden, der sich rührt, erfassen können.
In der Ferne höre ich immer wieder die Lautsprecherdurchsagen: „Bürger, bleiben Sie in Ihren Unterkünften! Jegliche Versammlung ohne offizielle Genehmigung ist untersagt!“ Das „Versammlung“ bedeutet mehr als zwei Personen. Selbst wenn Oma von nebenan ihre Tochter begrüßt, kann das als „nicht genehmigte Versammlung“ gelten – wenn man es drauf anlegt.
Doch es ist nicht nur die Überwachung, die das Land zerfressen hat. Mit dem Embargo für europäische Produkte hat man uns wortwörtlich die Vielfalt geraubt. Und das meine ich nicht nur kulinarisch. Alles, was angeblich durch „unamerikanische“ Technologien oder Konzernstrukturen importiert wurde, ist nun offiziell „bedrohlich“. Smartphones, medizinische Geräte, Ersatzteile für Autos – alles Mangelware. Musk rühmt sich damit, „Amerika unabhängig von fremden Kräften“ zu machen, während viele Geschäfte schließen und die Preise für selbst einfache Güter in absurde Höhen klettern. Der Protest verschwand spätestens, als die damals führenden Netzwerke X, Instagram und Tik-Tok sich zusammenschlossen. Die offizielle Begründung war es, der Bevölkerung ein so angenehmes Online-Erlebnis wie möglich zu erschaffen. Es war die Rede von freier, offener Rede. Erst als einige Menschen verschwanden, die die Maßnahmen öffentlich kritisiert hatten, wurde nach und nach allen klar, was damit gemeint war.
Die Leute hier in der Nachbarschaft haben schon vor Monaten aufgegeben, ihren Müll wegzubringen. Wieso auch. Die Abschaffung nicht zwingend notwendiger sozialer Maßnahmen war Plan der Neuaufglage von „Projekt 2050“. Er stapelt sich in stinkenden Bergen an den Straßenrändern, während Ratten das Kommando übernommen haben. Die USE – die Vereinigten Staaten von Elon Musk – sind nur noch ein Flickenteppich aus Innenstädten, in denen die Bitcoin-Millionäre ihre privatfinanzierten Events planen und dem Rest.
Hoffnung gab es bei den ersten Aufständen, aber sowohl die letzten unorthodoxen Kirchen und Black Life Matters, als auch die noch bestehenden Gewerkschaften zerstritten sich um die Frage der Forderungen. Das ist drei Jahre her.
Seit die Abschiebungen zugenommen haben, ist es im Viertel noch trostloser geworden. Ich sehe kaum noch die Gesichter von damals, höre keine Fremdsprachen mehr. Vor ein paar Wochen haben sie Carmela geholt, eine Nachbarin aus Guatemala. Sie lebte hier seit über zehn Jahren, macht den besten Kaffee von Bellevue, hat Steuern gezahlt wie jeder andere. Eines Morgens standen sie vor ihrer Tür. Ich hab‘ sie nie wieder gesehen.
Auf Tesla-Vision – also das, was wir als Radio bezeichnen, eigentlich ist es nur noch ein überwachter Livestream – wird ständig verkündet, wie wichtig diese „Säuberungsmaßnahmen“ sind. Es ginge darum, die USA wieder reinzuhalten. Keiner weiß mehr, wovon. Dabei verbergen sie kaum, dass es nicht um Terrorabwehr oder sonstigen Quatsch geht, sondern um eine kranke Vision von „Reinheit“.
Ich bewege mich vorsichtig an den Wänden entlang meines Apartments. Jede meiner Bewegungen hallt in dieser stillen, verkommenen Bude wider. Der Visual Echo – eine Art schlanker, metallischer Kasten in der Ecke – blinkt grün. Ein Zeichen, dass er mich gerade abtastet? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass dieses Teil hier hängt, seit der Notstandsgesetzgebung alles durchgewunken hat. Musks Ingenieure haben das ganze Land vollgestopft mit diesen Dingern – angeblich, um uns Schutz und Service zu bieten.
In meinem Keller liegen ein paar europäische Konservendosen, die ich noch kurz vor dem Embargo auftreiben konnte. Das sind wahre Schätze, von denen ich nicht weiß, wie lange sie mich noch über Wasser halten. Sie zu behalten bedeutet Lebensgefahr. Alle paar Tage schleiche ich runter, um mir eine Dose zu holen – und schaue immer ängstlich auf die kleinen Lichter, die in den Gängen flackern. Dronen könnten mich jederzeit im Visier haben. „Für unsere Sicherheit“. Sicher.
Während ich an die verstaubte Kellerwand gelehnt esse, höre ich die Flüsternachrichten, die über unsere geheime Kurzwellenfrequenz laufen: Man spricht von verstärkten Deportationen nach Süden, von Enteignungen ganzer Stadtviertel, die an Elon Musks „Entwicklungsprojekte“ gehen. Hier sollen die Nachfahren seiner Kinder eine Kolonie aufbauen, die später auf den Mars umgesiedelt wird. Man spricht davon, dass in Neu-Detroit ein Aufstand ausgebrochen ist – angeblich hat dort eine Gruppe es gewagt, die lokalen Milizen anzugreifen. Wer weiß, ob es stimmt. Die meisten guten Nachrichten haben sich in Luft aufgelöst, seit der Staatsfunk jede Nachricht überprüft und auf Links dreht.
Auch wenn wir jedes Jahr denken, dass nun alles abgeschlossen ist, es geht immer weiter. Gerade wurde gemeldet, dass Musk ein neues Dekret für die Armee durchgesetzt hat: Jeder, der sich als „regierungsfeindlich“ äußert, verliert automatisch seine Staatsbürgerschaft – falls er nachweislich Vorfahren im Ausland hat. Das klingt vollkommen wahnsinnig, doch hier wundert es niemanden mehr. Ich selbst habe deutsche Urgroßeltern, daher weiß ich, dass sie nur einen Grund suchen, mich aus dem Land zu werfen.
Darum schreibe ich dies hier. Damit irgendjemand, irgendwann, erfahren kann, was hier geschehen ist. Die meisten von uns im demokratischen Untergrund haben sich bereit erklärt, unsere Berichte irgendwo zu verstecken oder über kleine Kanäle hinauszuschmuggeln. Ob es funktioniert, weiß kein Mensch. Ich werde dies zwischen hinter mein Bild von Manhatten hängen. Vor der Zeit. Sie werden es wohl entdecken, aber ein Versuch ist es wert.
Ich höre Schritte im Treppenhaus. Mein Herz hämmert. Der Visual Echo blinkt plötzlich rot. Vielleicht haben sie es registriert, das feine Kratzen meines Stiftes auf dem Papier. Ich klappe mein Notizbuch zu, stelle mich an die Tür und halte den Atem an. Ich weiß nicht, ob das Klopfen jetzt kommt oder erst in fünf Minuten – oder gar nicht.
Auf der Straße heult eine Sirene auf. Ich sehe durch den schmalen Spalt an meiner Gardine nur noch flackernde Blaulichter. Ein weiterer „Good-Bye-Bus“, vielleicht. Oder ein Zugriff auf einen Verdächtigen. Ich verkrampfe.
Lege den Stift beiseite. Manchmal frage ich mich, ob wir überhaupt noch Menschen sind oder nur Reste einer Idee, die vor Jahren zu Staub zerfallen ist. Aber ich muss weitermachen. Zumindest schreiben. Zumindest atmen. Solange ich noch hier bin, solange es sich noch lohnt, eine Spur zu hinterlassen.
Wer immer das hier lesen mag: Vergiss nicht, dass es eine Zeit gab, in der wir frei waren. Behalte das als Funken im Kopf, falls es irgendwann wieder einen Morgen gibt, an dem wir die Straßen ohne Angst betreten können.
Ich höre sie. Sie kommen.
Das klingt wie die Grundlage für eine Endzeit-Story und gleichzeitig erschreckend realistisch. Ich hoffe so sehr, dass es nicht so weit kommen wird,
Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass das Realität wird…! Aber absolut vorstellbar ist es schon! Hoffentlich wählt Deutschland schlau!
"brave new World"-2.0
Huxley lässt grüßen.
Fahrenheit & 1984 - wir steuern stramm drauf zu. Bradbury und Orwell hatten es vorausgesehen.
Das Verrückte ist,dass dieses Szenario angesichts dessen, was aus den USA berichtet wird,gar nicht so weit weg scheint und wenn man dann sieht, was in anderen Ländern Europas geschieht und was die Parteien hierzulande im Wahlkampf fordern, haben auch wir nur noch diese eine Wahl, um das Ruder herumzureißen.Also geht wählen und zwar demokratisch ( und die CDU zählen ich nicht mehr dazu).
Danke für deinen Text.
Ich habe vor einigen Monaten so eine ähnliche dystopische Geschichte geschrieben und überlegte, ob ich vielleicht übertrieben habe. Es tut mit gut, dass du ähnliche Assoziationen hast. Danke. Sonja
Es für ein wunderbarer Teufelskerl sind Sie, lieber Bob Blume. Ein grandioses Horror-Szenario, das Sie für uns schreiben, um uns wachzurütteln, und - ich darf es nicht lassen - ich habe Hoffnung, dass genügend Menschen genügend Verstand haben und alles dafür tun und tun werden, dass diese Fiktion nicht Wirklichkeit wird. Danke und alles Gute! Edith
Ist ziemlich nah an Orwells 1984 und leider erschreckend nah an einer möglichen Realität. Ich hoffe es kommt nicht so weit...
Fortsetzung von Huxley Brave New World und Netflix (Soma).
Sehr gut fuer jeden GK und LK Deutsch in der GYM Oberstufe.
Unrealistisch?
Kaum
Schueler sollten auch Texte schreiben:
Alice Weidel Kanzlerin Deutschlands nach 2029.
[…] neue dystopische Kurzgeschichte "USE 2030" (2025) über die USA im Jahre […]