In der 7. Klasse ließ ich anstelle einer Klassenarbeit Inhaltstests schreiben und kreative Arbeiten abgeben. Die Ergebnisse waren nicht nur überzeugend, sondern zeugten auch davon, wie intensiv Schüler*innen arbeiten, wenn sie in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Schwerpunkte zu setzen. Eine Beschreibung.
Anlass
Es mag Situationen geben, in denen die klassische Klassenarbeit angebracht ist. Oftmals gibt es jedoch eine Diskrepanz zwischen der Art und Weise des Lernens und der Erarbeitung und der Klassenarbeit, die letztlich jene Note ausmacht, die in unserem momentanen System am meisten bedeutet. Dass Noten grundsätzlich wenig Aussagekraft haben, sei hier nur am Rande notiert. Insofern gibt es nicht wenige Lehrkräfte, die versuchen, mittels alternativer Prüfungsformate eine Durchdringung der Inhalte zu gewährleisten, bei der die Schüler*innen gleichzeitig ihre Stärken einbringen können. Dies tat ich in der Erarbeitung des Buches "Nennt mich nicht Ismael". Nachdem ich erste Ergebnisse auf Threads beschrieb, kamen viele Stimmen, die sich wünschten, die Aufgabenstellung anschauen zu können. Dem komme ich an dieser Stelle nach.
Ziel
An dieser Stelle gibt es zwei Zielsetzungen, die zu erwähnen sinnvoll sind. Das eine Ziel ist offensichtlich: Am Ende einer Unterrichtseinheit soll eine Art Leistungskontrolle stehen, mit der überprüft wird, inwiefern die Schüler*innen den Inhalt verstanden haben. Das Problem: Wenn die einzige Art, den Inhalt zu verstehen, eine Klassenarbeit ist, wird dabei eher das Verständnis der einen Aufgabe, die formalen Vorgaben genau dieser Aufgabe und meist das "Funktionieren" zu genau dem Zeitpunkt geprüft. Wir haben uns nur so sehr daran gewöhnt, dass es vielen nicht als das erscheint, das es ist: unsinnig. Denn ein tiefes Verständnis, sofern es tatsächlich darum geht, kann auf verschiedenste Weisen nachgewiesen werden.
Dann gibt es aber auch noch eine weiter unter der Oberfläche liegende Zielsetzung. Wenn man die Bildungspläne ernst nimmt, soll die Arbeit mit Kunst, Kultur und Literatur, mit dem wir es hier zu tun haben, den Kindern den Zugang zu diesen Dimensionen des Menschseins eröffnen. Platt gesagt sollen sie kennenlernen, was sie in ihrem weiteren Leben zu schätzen lernen können. Nur führen Klassenarbeiten, Tests und Prüfungen oftmals zum Gegenteil. Nicht dass man Prüfungen nicht in bestimmten Situationen rechtfertigen kann, aber gerade wenn es um Zugänge geht, ist es weitaus sinniger, eine positive Erfahrung zuzulassen, die das Verhältnis zwischen Inhalt und Person stärkt, anstatt dafür zu sorgen, dass der junge Mensch sich am Ende der Schulzeit nie wieder mit dem Inhalt befassen möchte. Oder mit der Form. Denn bei der Literatur und deren Studium geht es ja um nicht weniger als um eine Liebe zu etwas, das einen persönlich, aber auch beruflich das ganze Leben begleiten und weiterentwickeln kann. Dies ist der tiefere Sinne von alternativen Prüfungsformaten, Zugängen und anderen Formen von Lernen.
Vorgehen und Bestandteile
Zunächst einmal sei hier nochmal der Hinweis gegeben, dass neben dem kreativen Teil auch Inhaltstest geschrieben worden sind. Diese wurden mit der Klasse abgesprochen. Der "Deal": In den Tests geht es nur um den Inhalt des Buches. Wer es liest, kann auch die Tests bestehen. Die Tests selbst habe ich mit ZipGrade durchgeführt, was die Korrekturzeit des gesamten Klassensatzes auf ungefähr 10 Minuten beschränkte. In gewisser Weise sind diese Tests aber auch ein Entgegenkommen an ein System, bei dem sich ansonsten aus den kreativen Aufgaben ein Rechtfertigungsdrang ergeben könnte. Dem kann so entgegengewirkt werden: Insgesamt 5 Tests zum Inhalt als ein Teil eines alternativen Prüfungsformats ist schon auch eine (Lese-)Leistung.
Der zweite Teil ist eben jene kreative Prüfungsleistung, um die es hauptsächlich geht. Auf dem Aufgabenblatt sind schon verschiedene Möglichkeiten angegeben (hier ein Ausschnitt):
- Erstelle ein Instagram-Profil für eine oder mehrere Romanfiguren deiner Wahl. Begründe die Interessen, Bücher usw., die aufgeführt sind.
- Führe ein "Casting" für die Verfilmung des Romans durch, indem du einen Schauspieler für die Charaktere auswählst. Begründe deine Auswahl.
- Erstelle eine Podcast-Episode, in der du den Roman diskutierst oder aus der Sicht der Charaktere sprichst.
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Außerdem ist es ein gleichwertiger Teil der Aufgabe, diese zu reflektieren:
Innerhalb der zwei Seiten müssen enthalten sein:
o Die Aufgabe selbst
- Die Reflexion über die Aufgabe und die Gedanken vor und während der Durchführung
- Das bedeutet: Du erklärst, warum du genau diese Aufgabe ausgewählt hast, wie du dich vorbereitet hast, wie du vorgegangen bist und das Endergebnis
o Deine eigene Bewertung und Begründung dafür
o Die Quellen
- Erklärung der eigenen Arbeit
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Mit anderen Worten besteht die Gesamtprüfungsleistung aus drei Teilen: Den gesammelten Tests, der kreativen Aufgabe und deren Reflexion.
Letztere ist aus meiner Sicht aus drei Gründen wichtig: Auch die Neuauflage der Hattie-Studie hat ergeben, dass die größte Wirksamkeit beim Lernen dann entsteht, wenn jemand sein eigenes Lernen reflektiert, also darüber nachdenkt, wie er was warum gelernt hat (an dieser Stelle sehr verkürzt). Zweitens ist dieser Reflexionsprozess in Zeiten von KI aus meiner Sicht sowieso ein Bestandteil, der obligatorisch werden sollte. Die Kurze Erklärung dafür: Man kann zwar beim Produkt täuschen, bei der subjektiven Einschätzung wird es aber ungleich schwerer. Und nicht zuletzt führt die Reflexion auch dazu, dass sich die Kinder (oder Jugendlichen) selbst einschätzen und die Lehrkraft an dieser Einschätzung teilhaben kann. Auch, um zu einem späteren Zeitpunkt darauf aufzubauen.
Ergebnisse
Ob an dieser Stelle Ergebnisse gepostet werden können, werde ich zuerst mit den Schülerinnen und Schülern absprechen. Dann können an dieser Stelle auch Produkte bestaunt werden. Die Wortwahl ist durchaus bewusst, denn schon die ersten Ergebnisse sind herausragend und zeigen neben einer Form der Kreativität, die in einer Klassenarbeit so nicht möglich wäre, auch ein substanzielles Verständnis des Buches. Es ist also, um bei einem Beispiel zu bleiben, nicht "nur" eine begehbare Minecraft-Map (also eine selbstgebaute Spielumgebung), sondern eben eine Umgebung, die sich direkt am Buch orientiert, also ohne genaues Lesen nicht möglich wäre.
Bewertung
An einigen Stellen wurde schon darauf hingewiesen, dass die Bewertung bei individuellen Aufgaben schwieriger sei als bei einem für alle geltenden Standard. Das ist in der Tat so. Allerdings wäre das für mich immer ein Totschlagargument, nie etwas anderes zu probieren. Ohne es jetzt schon genau zu wissen, gehe ich davon aus, dass die Durchschnittsnote besser wird, als hätten wir eine schriftliche Arbeit geschrieben. Auf der anderen Seite: Was genau sagt dieser Durchschnitt aus? Inwiefern ist es sinnvoll, jemanden, der 12 Stunden in eine digitale Umgebung investiert und dafür das Buch nochmals genauestens liest, danach zu beurteilen, ob er die eine gestellte Frage (die oftmals aus irgendwelchen Schulbüchern stammt) zu beantworten? Es sind keine rein rhetorischen, aber doch leicht provokante Fragen, die jedenfalls dazu führen können, die eigene Praxis zu überdenken.
Der Bewertungsbogen findet sich hier zum kostenlosen Download.
Einwände
Ich gehe davon aus, dass viele, die sich für diesen Beitrag interessieren, dem Ganzen positiv gegenüberstehen. Aber machen wir uns nichts vor: Genau so viele Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer werden die Nase rümpfen oder diese Art und Weise der Leistung kritisch bewerten. Ganz entkräften kann man die Einwände nicht, da es aus meiner Sicht auch mit tradierten Normen zu tun hat, was man als wichtiger bewertet: Ist es die formale Richtigkeit oder die kreative Auseinandersetzung? Ist es der kollektive Standard oder die individuelle Schwerpunktsetzung.
Aus meiner Sicht ist die Frage danach, ob man solcherlei Prüfungsformate einsetzen kann, keine, in der es nur Schwarz und Weiß gibt. Die ersten drei Arbeiten in diesem Schuljahr waren "ganz normale" Deutscharbeiten. Freilich bei einer der Arbeiten mit KI-Unterstützung einer deutlich besseren Möglichkeit zur Übung.
Einwände könnten übrigens auch von progressiver Seite kommen, nicht ganz zu Unrecht. So habe ich beispielsweise die Kategorien der Bewertung selbst entworfen und nicht mit den Kindern. Auch war die Arbeit streng genommen kein formatives Assessment. Die Kinder konnten zwar immer wieder nachfragen, was möglich ist und was nicht und ob sie sie auf dem richtigen Weg befinden, aber ich habe keine Zwischenstände begutachtet. Auch das wären Möglichkeiten, um diese Form der Arbeit nochmals zu erweitern.
Und auch das werde ich tun. Denn eines ist sicher: Um das Ziel zu erreichen, dass Kinder und Jugendliche beim Lernen Spaß haben, eigene Ziele erreichen und Bildung als etwas begreifen, dass sie selbst betrifft, sollten wir niemals aufhören zu experimentieren. Das ist nicht nur, aber eben auch mittels Prüfungsformaten möglich.
Ich freue mich über Kommentare, Anmerkungen und Fragen und freue mich, wenn dieser nicht ganz kurze Beitrag ein Impuls für einige zum Weiterdenken ist.