Die verunglückte WDR-Sendung „Die letzte Instanz“, in der sich Prominente ohne Qualifikation und Hintergrundwissen zu Fragen des korrekten Sprachgebrauchs und Rassismus in der Alltagssprache äußern, ist zurecht medial kritisiert worden. Dennoch oder gerade deswegen bietet die Sendung Anknüpfungspunkte für einen Deutschunterricht, der „eine Erweiterung der bestehenden Praxis“[1] bietet und im Sinne „experimenteller Medienkompetenz“[2] zur Reflexion anregt.

Hintergrund

Momentan arbeite ich mit meinem Kurs an der Textanalyse, die als Teil der Texterörterung dazu befähigen soll, Äußerungen kritisch zu hinterfragen. Obwohl es im Deutschunterricht meist um Textualität geht, sind auch audiovisuelle im Sinne einer „digitalen Textualität“[3] dazu geeignet, „digitale Textkompetenz“[4] zu erlangen.

Eine solche Bezugnahme ist grundsätzlich im Sinne eines Deutschunterrichts, der sich an der „digital grundierten MedienKultur“[5] (sic!) orientiert. Die Idee eines eine Sendung begleitenden Chats, der einfach über jedes Lernmanagement-System geführt werden kann, stammt eigentlich dem kollektiven Twittern zu besonders schlechten Filmen. Unter dem Hashtag #Schlefaz[6] twittert eine lose Community zu besonders schlechten Filmen und hat so ein kollektives Seherlebnis, das ganz im Sinne der Referentialität ist, eines Merkmals also, dass für Felix Stalder maßgeblich für die „Kultur der Digitalität“[7] ist:

„Referentielle Verfahren spielen sowohl bei der Bedeutungs- als auch bei der Formgebung in vielen Bereichen eine wichtige Rolle.“[8]

Will sagen: Indem Schüler*innen ein gesellschaftlich relevantes mediales Ereignis im Chat begleiten[9] nehmen sie zunächst in einem geschützten Raum an der Bedeutungszuschreibung teil, während das Second-Screen-Erlebnis an mediale Praktiken anknüpft. In diesem Sinne bietet eine solche Durchführung etwas, dass Volker Frederking „Synästhetik“ nennt: Die „medienspezifische Erweiterung sinnlicher Wahrnehmungsmuster.“[10] 

Durchführung

Im Sinne der von mir beschriebenen fernunterrichtlichen Praxis des „Standardsettings“[11] wurden die Schüler*innen über das Vorhaben informiert. Wichtig zu erwähnen ist, dass ich zu der Sendung keine Vorabinformationen gab außer jener, dass sie eine starke mediale Wirkung entfaltet hat.[12] Diese Information gab ich deshalb, weil sie den Blick auf die Äußerungen zusätzlich schärfen sollte. Im Sinne einer Orientierung an „affektiv-emotionalen Lernzielen“[13] wäre auch ein Einstieg ohne Vorabinformationen möglich.

Die Schüler*innen waren aufgefordert, über einen in den Chat geposteten Link zu der Sendung zu kommen. Es wurde „angezählt“, damit alle gleichzeitig beginnen konnten zu schauen.

Während des Schauens konnten nun kommentiert, gefragt und sich aufeinander bezogen werden.

Ausschnitt aus dem Originalchat, Namen verfälscht

Weiterführende Aufgabe/ Kontext

Die Informationen, die durch das „Second-Screen-Schreiben“ zusammengekommen sind, wurden in einem zweiten Schritt in einer sehr dichten Diskussion besprochen. Auffällig war, wie genau sich die Teilnehmenden auf die verschiedenen Aussagen beziehen und diese neu einordnen konnten.

Auf dieser Grundlage schrieben die Schüler*innen zunächst freie Kommentare zur Sendung. Dabei ist zu beachten, dass der Kommentar absichtlich nicht in der schulischen Form[14] geschrieben werden sollte, wie der Kurs es in der vorigen Einheit zum „materialgestützten Schreiben argumentierender Texte“[15] gelernt hatte, sondern als sehr direkte, konkrete und verdichtete Meinungsäußerung.

Schüler*innenkommentar zu #DieLetzteInstanz

Das „Second-Screen-Schreiben“ wird so zu der Grundlage für die Folgeanalysen der Kommentare zur Sendung. Auf dieser Grundlage kann dem Problem des substanzlosen (d.h. themenunabhängig und daher oberflächlichen) Schreiben entgegengewirkt werden. Es entsteht eine Auseinandersetzung über Medien, mit Medien durch Medien.

Fazit und Feedback

Auf direkte Anfrage gaben die Schüler*innen ein sehr positives Feedback zu der Methode. Was geschätzt wurde, war eben jene mediale Praxis, die auch in anderen Second-Screen-Kontexten zu beobachten ist: Die gleichzeitige, und damit kollektiv-referentielle Teilnahme.

Dieses Vorgehen bietet sich nicht nur für verunglückte, sondern natürlich auch für substanzielle Sendungen an. Die „Online-Präsenz“ bekommt so einen Sinn, der ansonsten nicht immer gegeben wird. Im Sinne eines „integrierten (…) Medienunterrichts“[16] oder sogar eines „symmedialen Deutschunterrichts“[17], der „multimedial, symmedial, hypermedial, interaktiv und diskursiv“[18] ist, sehe ich hier Potenziale, die sich sicherlich noch weiter ausführen, erweitern und adaptieren lassen.

tl;dr

Mit einem Chat und einer gemeinsam angeschauten Sendung ist ein zeitgemäßer Deutschunterricht möglich, der sich an den Bedingungen der Kultur der Digitalität orientiert.  

Schüler*innenkommentar zu #DieLetzteInstanz

 

Literatur

[1] Blume, Bob: 33 Ideen digitale Medien Deutsch. Step-by-step erklärt, einfach umgesetzt – das kann jeder! Auer; 3.Edition 2020. S.4.

[2] Wampfler, Philippe: Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht. Reclam. 2020, S.8.

[3] Frederking, Volker/ Krommer, Axel: https://www.deutschdidaktik.phil.fau.de/files/2020/05/frederking-krommer-2019-digitale-textkompetenzpdf.pdf, aufgerufen am 2.2.2021, S.3.

[4] Ebd. S.1.

[5] Ebd. S.2.

[6] https://www.schlefaz.de, aufgerufen am 3.2.2021.

[7] Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag. 2016.

[8] Ebd.S.96

[9] Grundlegende Überlegungen zum Chat im Deutschunterricht formuliert unter anderem A. Krommer und R. Dreier. In: A.Krommer/ R.Dreier: „Medienkompetenz im symmedialen Deutschunterricht“, In: Frederking, Volker/ Krommer, Axel/ Meier, Christel (Hrsg.): Literatur und Mediendidaktik. Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 2. Baltmannsweiler: Scheider Verlag 2012. S.701ff.

[10] Frederking, V. (2014a). Symmedialität und Synästhetik. Die digitale Revolution im medientheoretischen, medienkulturgeschichtlichen und mediendidaktischen Blick. In: V. Frederking, A. Krommer & Th. Möbius, (Hrsg.), Digitale Medien im Deutschunterricht. (= Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP). Hrsg. von W. Ulrich Bd. VIII). Baltmannsweiler: Schneider, S.26.

[11] https://bobblume.de/2021/01/08/digital-standardsetting-und-22-regel-im-digitalen-fernunterricht/, aufgerufen am 3.2.2021.

[12] https://www.spiegel.de/kultur/tv/die-letzte-instanz-im-wdr-halt-moment-was-macht-ihr-da-fuer-einen-mist-a-12c2bcd3-add2-4fdc-9dce-cf4a28876b14, aufgerufen am 3.2.2021.

[13] Brand, Tilman von: Deutsch unterrichten. Einführung in die Planung, Durchführung und Auswertung in den Sekundarstufen. Klett Kallmeyer7., aktualisierte Auflage. 2020. S.104.

[14] https://bobblume.de/2020/01/14/unterricht-vorgehen-beim-verfassen-eines-kommentars/, aufgerufen am 3.2.2021.

[15] https://bobblume.de/2019/03/10/unterricht-materialgestuetztes-schreiben-und-argumentieren-abitur-2021/, aufgerufen am 3.2.2021.

[16] Köhnen, Ralph (Hrsg): Einführung in die Deutschdidaktik. J.B. Metzler. 2011, S.220.

[17] Frederking, V. (2014a). Symmedialität und Synästhetik. Die digitale Revolution im medientheoretischen, medienkulturgeschichtlichen und mediendidaktischen Blick. In: V. Frederking, A. Krommer & Th. Möbius, (Hrsg.), Digitale Medien im Deutschunterricht. (= Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP). Hrsg. von W. Ulrich Bd. VIII). Baltmannsweiler: Schneider, S.4ff.

[18] Frederking, Volker/ Krommer, Axel: https://www.deutschdidaktik.phil.fau.de/files/2020/05/frederking-krommer-2019-digitale-textkompetenzpdf.pdf, aufgerufen am 2.2.2021, S.1.

7 Kommentare

  1. Oh wie cool – mega Idee! Hab zwar kein Deutsch aber die Methode bau ich auf jeden Fall nächste Woche in meiner Englisch-Oberstufe ein. Vielen Dank für die Inspiration!!!

  2. Geile Idee, kann ich in Argentinien nicht genau so machen, aber es wird einige “symmediale” Möglichkeiten im deutschen Fernsehen geben, das so anzuwenden! Danke! LG Oli

  3. Coole Idee, vielen Dank fürs Teilen! 🙂 Mit welchem Chat machst du solche live comments?
    Ich finde https://w2g.tv ganz gut, da kann ich als Lehrer auch das Video pausieren (um Zeit für Kommentare zu geben) und der Chat ist direkt neben dem Video zu sehen.

  4. […] In diesen Kontext gehört auch der Begriff der „zeitgemäßen Bildung“. Hier geht es bereits um wesentlich mehr als ein YouTube-Video im Unterricht zu schauen oder ein Kahoot zu spielen. Stattdessen werden Unterrichtsschemata aufgebrochen und etwa durch wesentlich mehr projektbasiertes und freies Lernen ersetzt. Bereits additive Settings können aber zu einer neuen „Kultur der Digitalität“ (Felix Stalder) beitragen, indem sie auf „Möglichkeiten in einer sich verändernden Praxis [verweisen]“ – vom kollaborativen Arbeiten an einem Dokument bis hin zur Second-Screen-Analyse. […]

  5. […] In diesen Kontext gehört auch der Begriff der „zeitgemäßen Bildung“. Hier geht es bereits um wesentlich mehr als ein YouTube-Video im Unterricht zu schauen oder ein Kahoot zu spielen. Stattdessen werden Unterrichtsschemata aufgebrochen und etwa durch wesentlich mehr projektbasiertes und freies Lernen ersetzt. Bereits additive Settings können aber zu einer neuen „Kultur der Digitalität“ (Felix Stalder) beitragen, indem sie auf „Möglichkeiten in einer sich verändernden Praxis [verweisen]“ – vom kollaborativen Arbeiten an einem Dokument bis hin zur Second-Screen-Analyse. […]

Schreibe einen Kommentar zu Oliver Jäger Antwort abbrechen

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein