Ich verfolge die digitale Lehrergemeinschaft nur ein wenig am Rande. Ich kann viele passionierte Beiträge über didaktische Konzepte im digitalen Bereich gut nachvollziehen, gleichzeitig halte ich mir immer wieder die konkrete Realität in meinem Kollegium vor Augen. Es gibt nun mal viele KollegInnen, die sich schon freuen, wenn sie ihre erste Videokonferenz zum Laufen gebracht haben. Oder merken, dass sich die SuS so sehr über ein Kahoot-Quiz freuen und dann selbst ganz begeistert sind. Vielleicht sind sie schon zufrieden, wenn die SuS ihre Beiträge auf der Lernplattform hochladen und man sie zu Hause lesen und korrigieren kann.
Ich verstehe den Einwand bei der "Mehrwert"-Diskussion, dass der Begriff irreleitet und man digitalen Unterricht viel fundamentaler denken muss. Ebenso verstehe ich den Einwand in diesem Artikel, dass "Digitalisierung" unter Corona eine andere war (und zum Teilen noch ist) als ausgereifte und ganzheitliche Konzepte zur Digitalisierung.
Aber wenn für technophobe (im engeren Sinne des Wortes) ein Kahoot-Quiz oder Vokabellernen der Klasse bei Quizlet einen "Mehrwert" bietet und sie darin einen Sinn, dann will ich nicht augenrunzelnd daneben stehen und sagen, sie sind im "Gutenberg"-Zeitalter hängen geblieben.
Ich glaube der Unterschied zwischen dem Twitterlehrerzimmer und der Alltagsrealität liegt häufig eine Stufe tiefer. Konzeptarbeit – egal in welcher Form – ist kognitiv anstrengend. Ich erlebe das immer wieder bei SuS und auch bei KollegInnen in Fachkonferenzen - je länger man sich über komplexe, langfristig-angelegte und vielschichtige Dinge Gedanken machen muss, desto nervöser werden viele. Ich höre regelmäßig den "Deep Questions"-Podcast von Cal Newport und habe auch sein "Deep Work" gelesen und ich glaube die Unterscheidung von deep und shallow work hat mir wirklich geholfen, bestimmte Phänomene klarer zu sehen.
Es gibt einen gewissen Anteil in jeder Bevölkerung, der in anstrengender kognitiver Arbeit aufgeht und daraus einen Gewinn für sich und andere zieht. Es gibt aber einen mind. so großen Anteil von Menschen, die sich vor dieser Art des Denkens und Arbeitens scheuen und froh sind, mit der täglichen Masse an Routine-Arbeit zurechtzukommen. Einige gut befreundete Kollegen haben mir das auch schon offen gesagt, dass sie komplizierte Curriculumsplanungen am Nachmittag einfach anstrengen und sie sich gerade nicht mehr konzentrieren können. Vielleicht kommen auch noch geringe Aufmerksamkeitsspannen (befeuert durch clevere Plattformen) dazu (die neue Netflix-Doku von Tristan Harris (The Social Dilemma) ist da sehr aufschlussreich), sodass tieferes Denken oder "knowledge work" in der heutigen Kultur nicht unbedingt durch die Umwelt gefördert wird.
Ich möchte zwar meinen Teil dazu beitragen, andere mitzuziehen und zu inspirieren, aber ich möchte mir auch eine gewisse Gelassenheit und ein hohes Maß an Verständnis bewahren, wenn das nicht immer gelingt.