Es ist ja nicht so, dass ich zu wenig zu tun hätte. Dennoch fand ich die Anfrage spannend, ob ich eine Texterörterung korrigieren könnte – und zwar von einem Schüler irgendwo in Deutschland, der dies unter ein Youtube-Video postete. Um es kurz zu machen: Die Texterörterung, die sich auf einen Text von Sascha Lobo bezieht, der in dem Nachtermin des Abiturs 2019 in Baden-Württemberg vorgegeben war, ist insgesamt gut. Dennoch mag es für den einen oder anderen interessant sein, welche Anmerkungen ich zurückgeschickt habe. Ich weise darauf hin, dass ich einige weitere Anmerkungen in Kommentaren am Seitenrand verfasste, die nicht mehr dabei sind. 

Analyse und Erörterung pragmatischer Texte
(Textgebundene Erörterung)

Die Effizienz soll gesteigert werden, mehr Teile in der gleichen oder sogar weniger Zeit produziert werden. Besonders am Beispiel der Industrie lässt sich die beschleunigende Gesellschaft feststellen.
Warum diese Entwicklung nicht schlecht sein muss, erklärt Sascha Lobo in seinem am 26. November 2011 im Spiegel-Online erschienen „Plädoyer für die Beschleunigung und für eine Kultur des Verpassens“. Er behauptet, dass man dieser Gesellschaft nicht mit Entschleunigung, sondern Entzug begegnen solle.
Es soll nichts mehr ausmachen zu verpassen.

Nochmal insgesamt: Das ist alles schon gut, d.h. meine Anmerkungen sind Jammern auf hohem Niveau, dennoch: Die Hinleitung ist, wie im Kommentar geschrieben, etwas kurz. Außerdem, und das ist ein wichtiger Punkt, bezieht sie sich auf ein von dir gewähltes Beispiel. Besser wäre aber, dass es sich auf den Kern dessen bezieht, was Lobo schreibt: Das Handeln des Einzelnen unter den Bedingungen der Digitalisierung.

Das würde ich auch beim Thema anprangern: Es geht ja nicht ausschließlich ums Verpassen, sondern auch darum, dass die Perspektive auf die Beschleunigung verändert wird. Das präzise zu fassen ist wichtig, damit mit der Einleitung der gesamte Texte umfasst werden kann.

Wichtiger Punkt: Ich verlange von Schülern, dass Sie zunächst eine Gliederung in eigenen Worten verfassen, die vor dem Hauptteil kommt. Müsst ihr das nicht? Falls nein, vergiss es. Ansonsten bitte nachfragen. Das hat nämlich zwei Konsequenzen: Zum einen setzt man so für sich selbst Schwerpunkte. Zum anderen kann man sich darauf beziehen. Nie mehr als 3 bis 5 Teile. Aber wie gesagt: Nachfragen, ob ihr es gar nicht machen müsst.

Sein Plädoyer leitet er mit einem satirisch gewählten Beispiel ein. Er wählt nämlich einen viel beschäftigten Abteilungsleiter, der ironischerweise erzählt, wie wichtig ihm freie Zeit ist. Dieser Gegensatz wird erzeugt, weil der Autor mit Übertreibungen arbeitet. So hat er drei Diensthandys (vgl. Z. 3), geht aber gleichzeitig sehr klischeehaften, angeblich zum „Seele baumeln [lassen]“ (Z. 6f.) einladenden Aktivitäten nach (vgl. Z. 6-8). Die Krönung ist, dass er diese Zeit als „Quality time“ (Z. 8) bezeichnet, was ihm die Ernsthaftigkeit absprechen soll. Dass dieses Beispiel ein „beliebiger Abteilungsleiter“ (Z. 1) sein kann, zeigt, wie verbreitet eine solche Anschauung ist. An einem politischen Beispiel erklärt im Anschluss, wie wichtig Entschleunigung gerade denen ist, „die damit gar nichts zu tun haben“ (Z. 9). Am Ende des Beispiels stellt er die erste These auf, Entschleunigung stinke (vgl. Z. 11).

Das ist ein sehr starker Absatz. Das Einzige, was mir fehlt, ist die Analyse der lapidaren Bemerkung am Ende. Dass Entschleunigung „stinkt“ ist ja ein umgangssprachlicher Pejorativ. Das hätte man noch anmerken können. Aber ansonsten: Klasse!

Im nächsten Absatz erklärt er, wie es zu diesem weitverbreiteten Wunsch nach Entschleunigung kommt. Dass er diesen Wunsch als „reaktionäre[n] Fetisch“ bezeichnet, zeigt, dass er dem nicht zustimmt. In einem sehr einfachen, knappen Satz gibt er den Unterschied zwischen Langsamkeit und Geschwindigkeit wieder. Durch die Wahl eines solchen einfachen Satzes wird vermittelt, dass sich die Entschleuniger kaum mit dem Thema beschäftigt hätten und recht oberflächlich und simpel gestrickt seien. Außerdem wählt er zwei Beispiele, die die Kontrollierbarkeit ausschließlich in der Ruhe zuzulassen scheinen.

Insgesamt etwas oberflächlich, in der Gesamtheit aber gut.

Dann geht er dazu über den Hass auf Beschleunigung abzufedern. Er zitiert ein, aus seiner Sicht, „famose[s] Buch“ (Z. 18f.), welches einige Vorzüge der Beschleunigung aufzählt (vgl. Z. 20-22). Die aufgezählten Vorzüge fasst er in einem Wort zusammen: „Stress“ (Z. 24). Im ersten Moment fühlt sich dadurch vor allem die Entschleuniger bestärkt, da Stress im Normalfall negativ konnotiert wird. Er stellt aber direkt fest: „Stress ist etwas Gutes“ (Z. 25). Dass Stress auch ungesund wirken kann, entkräftet er, indem er feststellt, dass alles in der „falschen Dosierung“ (Z. 25) schädlich wirkt.

Daran anknüpfend stellt er fest, dass Beschleunigung eine Basis des Fortschritts ist.

Im nächsten Satz lässt er gleich zweimal keinen Widerspruch zu: Zum einen sagt er, dass nur Wutbürger gegen Fortschritt sein und suggeriert damit, dass man als Entschleunigungsbefürworter Teil dieser Wutbürger sei. Außerdem tut er Negativbeispiele (vgl. Z. 30) als kleine „Quatschtechnologien“ (Z. 29f.) ab. Spöttisch beschreibt er, dass ein daraus resultierender Wunsch in die Vergangenheit nicht ernst zu nehmen wäre. Er fordert deshalb, dass diese Entwicklung nicht aufgehalten werden darf.

Auch wieder prima, dennoch ein weiteres Jammern auf hohem Niveau: Vermeide „Nullsätze“, will sagen: „Im nächsten Satz…“ Müssen wir jedes Mal wissen, dass es ein Satz ist und das er – also Sascha Lobo – das sagt? Manchmal ist es für den Lesefluss schöner, wenn man mit dem Konjunktiv weiter macht, ohne sich jedes Mal auf den Verfasser zurückzubesinnen.

Also weg mit „Daran anknüpfend stellt er fest…“ Das tut zuerst ein wenig weh, macht das Ganze aber präziser und deutlicher. Dann, wenn man wirklich herausstellen möchte, wie wichtig die Subjektivität des Autors ist, kann man dann nochmal einen solchen Betonungssatz heraushauen.

Und zuletzt: Deine Analyse ist in Ihrer detaillierten Form der Auslegung sehr gut. Was mir ein wenig fehlt sind kurze Zusammenführungen, die, nachdem eine Passage ganz gedeutet wurde, nochmals den wichtigsten Punkt hervorheben.

Indem er im nächsten Teil die Rechtmäßigkeit eines negativen Stressempfindens einräumt, weckt er beim Leser Sympathie. Allerdings würden die Ursachen für dieses Empfinden fälschlicherweise bei der individuellen Wahrnehmung liegen. Dieses vorangegangene Eingeständnis nutzt er also, um einen sehr wunden Punkt, nämlich die Selbstkritik des Lesers auszulösen, ohne selbst als Gegner oder Feind dazustehen. Um seine These zu untermauern, führt er ein Beispiel an, dass die Gegenposition sehr lächerlich dastehen lässt (vgl. Z. 39f.).
Wie ein richtiger Umgang mit Beschleunigung seiner Meinung nach aussieht, zeigt Lobo im Folgenden. Auch hier stellt er die Überzogenheit der Gegenseite dar. Mit einer rhetorischen Frage und der Antwort „Natürlich nicht“ (Z. 43) gibt er sich psychisch und wissensmäßig überlegen. Bei der Beantwortung, wie es denn richtig zu machen sei, verwendet er zum einen positive Attribute wie „bereichernd“ und das zuvor positivierte „stressend“ (beide Z. 44), und stellt durch die Verwendung von „sowieso“ (Z. 48) dar, wie logisch seine Ansicht ist.
Aus einem vorangehenden Beispiel heraus, stellt er in Zeile 50 die nächste These auf. Die Vorzüge des propagierten Auswegs zählt er nachfolgend auf, wobei er sie mit positiven Begriffen und Eindrücken konnotiert: Es sei eine „Fähigkeit“ (Z. 51), „wann immer es notwendig erscheint“ (Z. 52) eine Auszeit aus dieser Gesellschaft zu nehmen. Das Ganze sogar, „ohne sich dabei schlecht zu fühlen“ (Z. 55). In dem er diesen Wechsel zwischen Dabeisein und Verpassen mit dem Wechsel zwischen Schlafen und Wachsein vergleicht, wird dem Leser vermittelt, wie logisch und einleuchtend diese Lösung sei.
Die Wahl des Titels ist sehr provokant und gegen den Mainstream, einen Entschuldigungswunsch, gerichtet. Er regt beide Parteien zum Lesen an, da diese Sichtweise eher selten anzutreffen ist.

Der Verweis auf den Titel kam jetzt überraschend. Achte auf die Überleitungen. Auch hier fehlt mir am Ende der Analyse eine Art übergeordnetes Fazit, das nochmals darlegt, was eigentlich der Punkt ist.

Also etwas in der Art: „Insgesamt richtet sich Lobos Plädoyer also gegen das allzu schnell gefasste Urteil des Lobes der Langsamkeit, indem er es als hohle Phrase desavouiert…“ Und so weiter.

Tatsächlich ist Langsamkeit ein Fetisch der Gesellschaft. Dieser ist aber nicht zwangsläufig rückschrittlich. Der Mensch braucht, wie schon immer, auch ein Gefühl der Sicherheit. Evolutionsbedingt lässt sich ein Mechanismus des Menschen nicht einfach abstellen oder ersetzen. Sascha Lobo stellt den Wunsch nach Sicherheit fälschlicherweise sehr spöttisch zur Schau und unterschlägt dabei, dass Sicherheit deutlich häufiger Erfolg nach sich zieht.

Sei es beim Verfassen von Aufsätzen, wo einem nach nochmaligem genauen Lesen Rechtschreibfehler auffallen oder im Straßenverkehr, wo ein weiterer Blick in den Rückspiegel viele Unfälle verhindert hätte. Diese Aufzählung ließe sich beliebig lange fortführen. Sie zeigt aber bereits jetzt eines: Langsamkeit und Bedachtheit sind nicht rückschrittlich, sondern häufig erfolgsmehrend.

Gut.

Selbstverständlich braucht die Welt Fortschritt. So wie es Sascha Lobo aber darstellt, ist dieser Fortschritt in heutiger Zeit nur unter großem Unbehagen erreichbar. Er denkt sehr wirtschaftlich, lässt dabei aber außer Acht, dass es um den Menschen und nicht um einen programmierten Roboter geht, welcher durch Leistungsoptimierung immer schneller funktioniert. Ist dieses Limit beim Menschen erreicht und man versucht, darüber hinaus zu gehen, wird Stress ziemlich schnell von etwas Gutem zu einer immensen Belastung. Er widerspricht sich, wenn er sagt, Stress darf nur nicht über die richtige Dosierung hinausgehen und auf der anderen Seite sei er ein unbedingter Teil der unerlässlichen Fortschrittsteigerung. Das würde im Umkehrschluss nämlich bedeuten, dass sich der Stress zwangsläufig mitsteigern müsste und so irgendwann ein ungesundes Level erreichen würde, wenn er das nicht sowieso schon längst erreicht hat. Damit wäre das Argument „Ein bisschen Stress ist gesund“ zwar richtig, allerdings würde es ihn nicht in seiner Argumentation unterstützen, da es bei dem Bisschen nicht bliebe.

Ich kann dir sehr gut folgen, vermisse aber Belege, wenn du dich zurück auf Lobo beziehst. Falls ihr das nicht machen müsst, vergiss diesen Kommentar.

Fortschritt muss zudem noch genießbar sein, damit er nützlich ist. Das Beispiel des Smartphoneindustrie dient hierbei stellvertretend: Kann der Mensch noch genießen, wenn er schon wieder hinten dran ist, die Kamera höher auflöst und der Prozessor schneller rechnet? Oder ist er nur damit beschäftigt, Schritt zu halten? Fortschritt macht nur da noch Spaß, wo er wirken kann.

Der beste Satz der Klausur! Schlau, durchdacht und richtig.

Dass dies nicht der Fall ist, schreibt Lobo einem falschen Umgang zu. Er plädiert für eine Kultur des Verpassens. Auch hier unterschlägt er aber die „Menschlichkeit des Menschen“. Würde man so handeln, dass jeder nur so viel dabei ist, wie er oder sie verträgt, dann wäre das Gemeinschaftsgefühl gleich null. Bewusst eine Kultur des Abgehängtseins herbeizuführen und diese zu leben, ist keine Fähigkeit, sondern ein Zeichen asozialen Verhaltens und Unfairness gegenüber anderen und sich selbst. Würde man für sich selbst eine Kultur des Verpassens entwickeln, wäre das die bedingungslose Resignation, nicht gut genug zu sein, um mithalten zu können. Auch das würde ein soziales Miteinander schwächen und einzelne Volksteile abhängen. Mit der modernen inklusiven Weltanschauung ist so etwas genauso wenig zu vereinbaren, wie eine Treppe als einzigen Zugang zu einem Wohnheim für körperlich Eingeschränkte. Fantastisch! Darüber hinaus lässt sich diese Kultur aus einem weiteren, sehr zentralen Punkt des menschlichen Geistes nicht etablieren. Der Mensch gibt nicht von selbst regelmäßig auf. Täte er das doch, würde sich ein Gefühl des Versagens einstellen. Nicht ohne Grund machen Millionen und Abermillionen Menschen bei Sportwettkämpfen mit. Der Mensch braucht das Erfolgsgefühl.
Ein letztes Problem bei der Entwicklung einer Kultur des Verpassen ist die Lücke, die bleibt, wenn man verpasst. Am Beispiel der Fehlstunde in der Schule lässt sich das ebenso gut festmachen, wie wenn man der alten Generation erklärt, wieso man im Schreibprogramm Text kopieren und verschieben kann. Das „Dazwischen“, das Verpasste fehlt. Wenn man sich bei Multiplikation oder der Schreibmaschine ausklingt, wird das Erlernen von Exponentialrechnung oder die Bedienung eines Tabletcomputers zur echten Herausforderung. Man merkt: So eine Erleichterung bietet Verpassen auch nicht. Es ist nicht die ultimative, alles erklärende Lösung des 21. Jahrhunderts, wie man den Fortschritt begegnen soll. Zumal solche Lösung auch nur alle mitbekommen, wenn sie sich in diesem Moment keine Auszeit gönnen und es deswegen nicht verpasst haben… Wir befinden uns in einer Zwickmühle deren einzige Auswege entweder Entschleunigung oder nicht erbringbarer, ungesunder Stress sind.

Abschließend ist festzustellen, dass Sascha Lobos Lösung für den Stress und Druck in der Gesellschaft logisch richtig erscheinen mag, allerdings aber einfach nicht mit verschiedenen Verhaltensweisen des Menschen vereinbar ist.
Anstatt auf Gemeinschaft und gemeinsame Erfolge zu setzen, vertritt der Autor meiner Meinung nach eine äußerst fragwürdige Weltanschauung, die nicht der des 21. Jahrhunderts entspricht.
Anstatt den Leuten zu empfehlen sich auszuklinken, wäre es zielführender, in Zukunft denen, die Probleme haben, Unterstützung anzubieten und sich als Gemeinschaft weiter zu entwickeln.

Lieber L.,

das meiste von dem, was ich anzumerken habe, habe ich dir schon geschrieben. Dennoch, falls es nicht rüberkam: Das ist ein insgesamt hohes Niveau, sowohl von der formalen Struktur, des methodischen Zugangs (also Zitate etc.), des Leseverständnisses und der eigenen Argumentation.

Das, was mir ein wenig fehlt, habe ich angemerkt: Passagen, in denen die Ergebnisse der eigenen Arbeit, seien es Analyseergebnisse oder Ergebnisse der eigenen Argumentation nochmals zusammengeführt werden, so dass sich ein größeres Bild ergibt. Damit macht man eine Schleife um gute Erkenntnisse, damit diese nicht in einer Aufzählung münden, deren Schwerpunkte nicht mehr zu erkennen sind.

Ansonsten: Achte auf Absätze, Überleitungen und schau, ob du es schaffst, dich von den typischen Phrasen zu verabschieden. Sie sind gut für Menschen, die es ansonsten nicht schaffen würden, alles zu verbinden. Das kriegsst du aber hin.

Ich hoffe, dass dir diese Ausführungen etwas bringen.

Herzliche Grüße

Bob Blume

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