Je länger man sich mit dem beschäftigt, was seit neuestem „Bildung unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität“ heißt, desto mehr muss man sich Gedanken über das Warum des Lernens in dieser Kultur der Digitalität machen. Das Wie wurde mit den 4K erfasst. Das Warum aber ist es, das die dringende Beschäftigung mit Medien auch für jene nachvollziehbar macht, die vom digitalen Diskurs bisher wenig bis nichts mitbekommen haben oder kritisch sind, weil sie ein falsches Verständnis zu Grunde legen. Ein Vorschlag. 

Anmerkung 

Artikel wie diese sind in ihrem Anspruch oftmals ungenügend. Auf der einen Seite wollen sie einen Beitrag leisten, der rezipierte wird und im besten Fall dazu führt, das andere profitieren. Auf der anderen Seite sind sie wenig im wissenschaftlichen Diskurs verankert, der wichtige theoretische Vorarbeit leistet. Das ist mir bewusst. Das, was hier als Vorschlag #4R genannt wird, ist als Work in Progress zu verstehen. Ich freue mich sehr, wenn durch Kritik und Rückmeldungen ein schärferes Profil dessen entsteht, was hier als modellhafter Zugang erklärt wird. 

Genese 

Wenn die verschiedensten Menschen von „Digitalisierung“ reden, meinen sie sie unterschiedliche Dinge. Während es dem einen um die Bedienbarkeit von Visualizern geht, denkt der andere an die Abkehr von Frontalunterricht. Im Online-Diskurs auf Twitter haben sich grundsätzliche Tendenzen herausgebildet, die hier nicht alle nachvollzogen werden müssen. Grundsätzlich kann man sagen, dass es ums Lernen geht und darum, wie dieses Lernen im 21. Jahrhundert aussehen kann. 

Für diese der Zeit angemessene Form des Lernens werden zwei Begriffe verwendet, die beschreiben sollen, wie sich Lernen und Bildung in der Kultur der Digitalität verändert: Zeitgemäße Bildung und die 4K. 

Während der erste Begriff zunächst einen Rahmen gab, der dann nach und nach mit Inhalt gefüllt worden ist, geben die anderen Begriffe eine Orientierung an das Wie des Handelns. Man kann durchaus von einem Paradigmenwechsel sprechen: Während die althergebrachte Form der institutionellen Bildung vom Stoff her denkt, also das Was in den Vordergrund rückt, beschäftigt sich die zeitgemäße Bildung mehr mit dem Wie. 

Das kann so weit gehen, dass es kritisch wird (in dem Sinne, dass Wirtschaftsvertreter ausschließlich von der Methodik denken und dann Inhalte redundant werden; das ist angesichts der politischen Entwicklung und einer zunehmenden Ignoranz von historischen Wissen gefährlich). 

Ein überzeugendes, da transnational vergleichendes Modell eröffnet das Buch „Four-dimensional education“ von Charles Fadel, Maya Bialik und Bernie Trilling (in der deutschen Übersetzung von Jöran Muuß-Merholz erschienen). Sie zeigen dort überzeugend, dass die Veränderung der Bildung nicht nur gesellschaftlich, sondern global nötig ist, um die komplexen Prozesse der vernetzten Welt begreifbar zu machen und, im besten Fall, in ein nachhaltiges Handeln zu überführen. 

Sie geben also ein Warum. Hier setzt meine Idee der 4R an. 

Vorüberlegungen 

Natürlich geht es bei starken Verkürzungen immer darum, so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der als theoretische Werkzeug dienlich ist. Die Ausgangslage war also: Warum sollten Schülerinnen und Schüler zeitgemäß lernen? Was bedeutet dies? Und was hat die Technik damit zu tun. 

All jene, die sich im #twitterlehrerzimmer tummeln, kennen diese Fragen. Dabei höre ich oftmals eine für mich triviale Aussage, die allein deshalb gefährlich ist, weil sie so leicht widerlegt werden kann: Man müsse sich mit den digitalen Medien befassen, weil sie „aus der Lebenswelt der Schüler nicht mehr wegzudenken sind.“ Nach dieser Argumentation müssten wir uns jeden Tag mit Autos beschäftigen. Oder mit Kleidung. 

Die Frage ist also: Wie schafft man es, die unbestreitbare Wirksamkeit der alle umgebenden digitalen Welt mit dem eher pragmatischen Ansatz der Techniknutzung zu verbinden?

1 R 

Das erst R, über das ich nachgedacht habe, war die Reflexion. Im besten Falle sollten die Schüler die Möglichkeit haben, so zu arbeiten, wie sie am besten Lernen. Dies bedeutet für sie also, ihren eigenen Lernprozess – den Prozess der Aneignung dessen, was sie interessiert und beschäftigt – zu reflektieren. Also nicht nur den Inhalt zu erfassen, sondern zu erfassen, wie sie diesen Inhalt am besten erfassen. Dieses R passt zu den vier Dimensionen der Bildung, wie sie von Fadel et al. vorgeschlagen werden. 

Drei weitere R 

Gleichzeitig ist die Reflexion über das eigenen Handeln aber noch nicht die Reflexion über einen selbst. Das nachhaltige Lernen ermöglicht im besten Fall Entwicklung eines Charakters, der sich über seine Handlungen bewusst ist. Das Lernen ist also reflexiv, auf den Tuenden ausgerichtet. 

Wenn ich also reflektiert und reflexiv lerne, dann bin ich mir darüber bewusst, wie ich vorgehe und inwiefern das Vorgehen und der Inhalt auf mich zurückwirkt. 

Das mag abstrakt klingen, umfasst dann aber vieles. Denn es umschließt beispielsweise die Arbeit mit digitalen Mitteln, die Kommunikation zulassen, während der rückwirkende Effekt das Wissen über die gelingende Kommunikation (überhaupt und digital) ist. 

Bisher wurde aber noch nicht über das Wissen gesprochen. Allen, die sich mit Bildung in der digitalen Welt befassen, ist deutlich, dass es ohne Wissen nicht geht. Um etwas zu suchen, brauche ich einen Referenzrahmen. Wenn ich nicht weiß, was es gibt, weiß ich nicht, wonach ich suchen muss. Der Unterschied ist: Das Wissen wird immer weniger normativ. In der informellen Bildung erarbeiten sich die Menschen nicht das Wissen, das von Hierarchien vorgegeben wird, sondern das, was für sie von Bedeutung ist: Das ist das dritte R: Die Relevanz. 

In seinen Punkten für guten Unterricht hat Hilbert Meyer das bedeutsame Lernen schon seit langem hervorgehoben. Das, was sich verändert, ist, dass die Relevanz sich nicht mehr dadurch ergibt, dass die Lehrkraft den Inhalt relevant macht (durch einen umständlich hergestellten Zugang), sondern dass Inhalte relevant werden, auf die die Schule reagieren muss. 

Wenn eine Youtuberin ein paar Millionen Follower hat, ist das so lange nicht relevant, wie sie überteuerteres Shampoo verkauft, das das Taschengeld vernichtet. Wie ein Rapper mit Millionen Followern den Holocaust verharmlost. Wie ein rechtsradikaler Massenmöder sein unmenschliches Massenmorden medial perfekt inszeniert. Wie alte Männer auf Ponyhof-Spieleportalen junge Mädchen anschreiben. Und so weiter und so fort. 

Die Relevanz fordert dabei nicht die Auflösung des inhaltlichen Curicculums, sondern die Überprüfung auf Anknüpfungspunkte in der digitalen Kultur. Wie ermächtigt mich die historische Quellenarbeit, Fake News zu erkennen? Wie ermöglicht die Kurvendiskussion die Nachvollziehbarkeit algorithmischen Automatismen? Fächer lösen sich so nicht auf, aber sie werden weniger vom Stoff her gedacht als von seiner Funktion. 

Das letzte R ist ein wenig schwammig. Es ist angelehnt an die Skills und heißt als Adjektiv: real. Es geht darum, dass man durch das zuvor erklärte reflektierte, reflexive, relevante Lernen handlungsfähig wird. Das ist also das Gegenteil von jenem isolierten Wissen, was in der Schule oftmals angeprangert wird. Das „reale Handeln“ bedeutet also, dass die durch das Lernen hergestellte Handlungsfähigkeit übertragbar ist. Die Problemlösungsstrategie bleibt nicht auf der Strecke (oder respektive im Schulzimmer), sondern bedeutet eine Erweiterung des Aktionsradius für den ganzen Menschen. Man könnte es auch platt so ausdrücken: Mehr street credibility. 

Das Warum 

Warum die ganzen Überlegungen. Die #4R sollen eine Antwort auf die Frage sein, die so viele stellen: Warum sollten wir „mit Medien“ arbeiten (als wenn wir das nicht schon früher gemacht hätten, nur eben mit jenen Medien, die nicht als Medien wahrgenommen werden). 

Die Antwort ist im abstrakten Sinne gesellschaftliche Partizipationsfähigkeit. Wenn ich weiß, wie ich mir etwas aneigne (reflektiert), was das für mich bedeutet (reflexiv), warum es für mich bedeutend ist (relevant) und inwiefern es mir Teilhabe ermöglicht (real), dann kann ich in einer Gesellschaft mehr sein als ein passiver Konsument (und dies ist auch im politischen Sinne gemeint). 

Wie schon angedeutet, sind diese Teile interdependent, sie beziehen sich aufeinander und können eigentlich nicht alleine gedacht werden (man könnte sie auch als dialektisch fassen). Wenn ich eine Haltung habe (reflexiv) kann ich die Mittel besser auswählen (reflektierend). Wenn ich weiß, was für mich bedeutsam ist (relevant), übe ich es zielorientiert (real). Und so weiter. 

Wenn man die #4R als Antwort auf die Frage nach dem Warum sieht, erübrigt sich die Frage, ob Smartboards oder iPads „besser“ sind. Wenn die Frage ist: Welches Lernen ermöglicht, dass an dessen Ende Menschen stehen, die an der (digitalen) Gesellschaft teilhaben, kann die Antwort nicht lauten: Jene, die statische Inhalte auf teuern Geräten auswendig gelernt haben. 

Das ist die holzschnittartige Zusammenfassung dessen, was sich bei mir sowohl aus praktischer Erfahrung als auch aus der Lektüre der schon angegebenen Büchern (sowie einiger anderer, insbesondere Beat Dobelli-Honnegers Mehr als 0 und 1 sowie Lisa Rosas Vortrag über die vernetzte Gesellschaft) herauskristallisiert hat. 

Übertragbarkeit 

Vielleicht noch ein oder zwei Beispiele, wie sich diese hier verwendeten Begriffe konkret übertragen lassen. Oftmals ist das Kollegium oder die Eltern aufgespalten in jene, die bei der „Digitalisierung“ von Tablets reden und andere, die von den Problemen des Cybermobbing reden. 

Mit den #4R wird das zusammengedacht. Wenn ich die Wirksamkeit meines (digitalen) Handelns verstehe (reflektiert und reflexiv), kann ich erst verstehen, was es bedeutet, gut oder schlecht zu handeln. 

Die #4R stehen so also für eine Begründung für die Beschäftigung mit Medien, die das Lernen in Verbindung bringt mit all jenen Herausforderungen, denen wir täglich ausgesetzt sind. 

Abschluss 

Vielleicht ist es nicht mehr als ein weiterer Hashtag. Ich hoffe jedoch, dass dies ein Impuls für den einen oder anderen ist, vor Kolleginnen und Kollegen, vor Eltern und Schülern zu begründen, das es an der Zeit ist, die Kultur der Digitalität als Lebensraum anzuerkennen, dessen Regeln, Inhalte, Verhaltensweisen, Umgangsformen und so weiter und so fort in der Schule thematisiert werden müssen. 

Mehr als bei jedem anderen Artikel freue ich mich über Kommentare, Rückmeldungen oder Kritik. Sehr gerne auch bei Twitter unter dem Hashtag #4R von dem ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung habe, ob er schon existiert. 

2 Kommentare

  1. Die vier R, die du hier beschreibst, gehören alle zu einem guten Lernprozess dazu. Das Lernen geschieht immer beim Lerner selbst und ist deshalb immer relevant für ihn als Person. Irrelevantes wird schnell wieder aus dem Gedächtnis getilgt. Wenn ich etwas lernen möchte, bin ich als Lernende meiner Meinung nach auch grundsätzlich reflektiert und reflexiv. Ich messe meinen Lernerfolg an meiner Handlungsfähigkeit. Habe ich real Fertigkeiten oder bedeutungsvolle Inhalte/ Wissen/ Kenntnisse hinzugewonnen? So, vom Lernenden aus gedacht, bilden die vier R ein für mich gültiges Modell des Lernens ab, übrigens auch ganz ohne Digitalität. Wie kommt jetzt der oder die Lehrende ins Spiel? Es bleibt die zu überwindende Kluft zu den Lernenden, die für sich noch keine Relevanz des Lerngegenstands erkennen, die im Brustton der vermeintlich reflektierten Haltung sagen “Wozu brauche ich das?” “Warum jetzt?” “Wie soll ich das je begreifen/ behalten?” Da sind wir dann ganz klassisch wieder bei didaktischen Abwägungen nach Klafki, der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotsky) und dem idealen Zeitpunkt, um mit Hilfe gelenkter Partizipation den eigenen Wissensvorsprung angemessen portioniert zu teilen. Der Lehrende muss sich unbedingt auch selbst die Frage nach dem Warum? und dem Wozu? stellen. In der digitalen Welt geht es dann auch immer um die kritische Betrachtung der unermesslich zur Verfügung stehenden Fact or Fake- News. Dann braucht es immer noch gute Ideen, um das Lernen in Schritten zu erleichtern. Das berühmte “Scaffolding” sollte im Plan der Lehrenden einen Platz haben. Und irgendwann stellen Lernende, wenn es gut läuft, fest, dass der angebotene Lernstoff tatsächlich relevant und real war. Es bleibt die Erfahrung: Nicht für jeden ist alles wichtig!

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