BILDUNG: Söders falsches Leistungsverständnis - Schluss mit den Exen!

Bob Blume
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17. Oktober 2024
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Über 20 Bildungsexpert:innen kritisieren Söders erneutes Machtwort zu unangekündigten Tests auf dem CSU-Parteitag

Die Petition „Schluss mit Abfragen und Exen!“ gestartet von der 17-jährigen Schülerin Amelie N., hat mit über 25.000 Unterschriften eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Dabei geht es um die Frage, ob unangekündigte Leistungsnachweise wie spontane Abfragen oder unangekündigte Tests („Exen“) noch zeitgemäß sind.

Kultusministerin Anna Stolz signalisierte bereits Dialogbereitschaft und kündigte den Austausch mit der Schulfamilie an. Doch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder überging vergangenen Freitag auf dem CSU-Parteitag in Augsburg erneut die Dialogbereitschaft der Ministerin. Mit einem wiederholten Machtwort bekräftigte er seinen Standpunkt, an Exen festhalten zu wollen. Seine Rede spiegelte dabei ein überholtes Leistungsverständnis wider, das in unserem Hintergrundpapier kritisch analysiert wird.

Bildungsexpert:innen unterstützen die Forderung

Über 20 renommierte Bildungsexpert:innen stellen sich hinter unsere Forderung nach einer positiven Lernkultur und einem Ende von unangekündigten Leistungsnachweisen. In den beigefügten, alphabetisch sortierten Zitaten betonen sie die Dringlichkeit einer Veränderung im Schulsystem. Darunter sind Prof. Dr. Iris Beutel, Bob Blume, Prof. Dr. em. Hans Brügelmann, Reinhard Kahl, Prof. Dr. Harald Lesch, Prof. em. Dr. Prengel, Prof. Dr. Astrid Rank, Stefan Ruppaner und viele weitere.

Die Initiatorin der Petition, Amelie N., erklärt: „Ich habe die Petition gestartet, weil Schüler:innen durch unangekündigte Leistungsnachweise in einen Dauerstress versetzt werden. Gerade durch Abfragen vor der Klasse fühlen sich viele vorgeführt und bloßgestellt. Das ist keine gute Fehlerkultur – und das muss sich dringend ändern! Wir werden nicht aufhören, uns für eine positive Lernkultur einzusetzen, damit alle Schüler:innen gerne zur Schule gehen.“

Sie ergänzt: „Demokratie lernt man nicht vom Arbeitsblatt. Unsere Petition ist gelebte Demokratie: Wir Schüler:innen machen auf ein wichtiges Anliegen aufmerksam, bitten um den Dialog mit Entscheidungsträger:innen und finden viele Expert:innen, die unsere Forderungen unterstützen. Doch Markus Söder, der erst kürzlich eine Verfassungsviertelstunde an Schulen eingeführt hat, versucht, unsere Initiative ins Lächerliche zu ziehen und den von Ministerin Stolz angestoßenen Dialog zu beenden. Das sendet ein fatales Signal an uns Schüler:innen.“

Die Statements der Expert:innen in alphabetischer Reihenfolge:

Univ.-Prof. Dr. phil. Habil. Silvia-Iris Beutel
Institut für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik, Professur für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Schwerpunkt Lehr-/Lernprozesse und empirische Unterrichtsforschung:
„Das Abschaffen von Exen und unangekündigten Abfragen ist keine ‚Kuschelpädagogik‘. Vielmehr geht es darum, die Selbststeuerung und Eigenverantwortung der Schüler:innen zu stärken. Schulen, die auf flexible, diagnostische Ansätze setzen, bieten klare Strukturen und regelmäßige Rückmeldungen. Diese ermöglichen es den Schüler:innen, ihren Lernfortschritt eigenverantwortlich zu planen und so eine tiefergehende, nachhaltigere Lernentwicklung zu erfahren. Dies ist ein leistungsorientierter Ansatz, der die Zukunftsfähigkeit von Bildung stärkt.“

Bob Blume
Bob Blume ist ein deutscher Lehrer, Sachbuchautor, Blogger, Podcaster und Bildungsinfluencer (@netzlehrer). Er befasst sich mit Themen der Bildung, speziell der digitalen Bildung, dem Referendariat und der Unterrichtsgestaltung:
„Markus Söder hat – wie viele andere, die vor vielen Jahren schon den Schulabschluss gemacht haben – ein unzeitgemäßes Verständnis von Leistung. Und das, obwohl gesellschaftlich längst klar ist, dass dies falsch ist. Es geht eben nicht um Druck, passgenaues Wissen und die Abfrage desselben. Es geht um die Fähigkeit, etwas Neues zu lernen, den Prozess zu verstehen und anzupassen und so zu einem Verständnis von kreativen Wegen zu kommen. Dort, wo Potenziale entfaltet werden, entsteht eine Leistung, die deutlich über das hinausgeht, was Noten aussagen. Aber selbst wenn man dort benoten würde: Es zeigt sich, dass eine unterstützte Leistung auch objektiv besser ist als eine erzwungene. Das Festhalten an überkommenen Prüfungsformaten aus dem letzten Jahrtausend verhindert, dass Schule sich weiterentwickeln kann. Und das muss sie. Damit Bildung, die einzige Ressource, die wir haben, nicht von veralteten, wissenschaftsfernen und schlicht falschen Aussagen bestimmt wird.“

Prof. Dr. em. Hans Brügelmann, Universität Siegen
Hans Brügelmann war Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen. Seit seiner Pensionierung arbeitet er als freier Bildungsjournalist und engagiert sich im Grundschulverband e.V.:
„Leistung ist, was jemand aus seinen persönlichen Möglichkeiten macht. Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler fördern gleiche Aufgaben für alle zur gleichen Zeit deren Leistungsfähigkeit nicht. Maßstab für erbrachte Leistungen sind die Lernfortschritte der Einzelnen. Eine vergleichende Bewertung der Ergebnisse durch Ziffernnoten wird dieser individuellen Lernleistung nicht gerecht. Zudem ist seit Jahrzehnten durch die Forschung belegt: Noten sind nicht objektiv und sie sind nicht vergleichbar. Ihr Motivationseffekt ist ähnlich gering wie ihr prognostischer Wert.“

Peter Fratton
Der Schweizer Peter Fratton gehört zu den renommiertesten Schulgründern und Schulinnovatoren Europas:
„Unangekündigte Leistungsnachweise sind die imaginierten Rohrstäbe jener Lehrer:innen, die disziplinäre Probleme in ihren Klassen haben.“

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Ludwig Haag
Bis 2020 Professor für Schulpädagogik an der Universität Bayreuth. Er war nach seinem Studium zunächst als Gymnasiallehrer (Klassische Philologie) und Schulpsychologe tätig:
„Ich plädiere für mehr Experimentierfreude bei der Lehrerschaft, denn ein Zurück zum alten System ist jederzeit möglich. Soweit mir bekannt, hat keine Schule, die umgestellt hat, diesen Schritt bereut. Das Argument seitens der Staatsregierung ‚Wir in Bayern‘ kann ich nicht mehr hören. Erstens: In Bayern boomt der Nachhilfemarkt, wovor die Bildungsadministration und die Schulen die Augen verschließen. Zweitens wird in Bayern mit dem Zentralabitur schon immer ein Bulimie-Lernen gefördert: Allein ein exemplarisches Eingeben ‚Abiturvorbereitung Bayreuth‘ in Google zeigt acht unterschiedliche Angebote. Oder die weite Verbreitung der Bände des Stark Verlags zur Abiturvorbereitung zeigt, dass es sich auch in Bayern weniger um ein nachhaltiges Lernen als eher um ein ‚learning for the test‘ handelt.“

Prof. em. Dr. Helmut Heid
Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik, Universität Regensburg:
„Unangekündigte [angedrohte] Leistungskontrollen begünstigen die Entwicklung der Furcht vor Misserfolg und ruinieren die für die Entwicklung autonomer und kreativer Kompetenzen bzw. Persönlichkeiten unentbehrliche Zuversicht auf und die Freude am (Lern-) Erfolg. Menschen – so der Forschungsstand – haben ein ‚angeborenes‘ Bedürfnis, erfolgreich zu sein. Das vermeintliche Erfordernis, unangekündigte Leistungskontrollen durchzuführen, trägt dem nicht Rechnung; es signalisiert und enthält eine Vielzahl von Unterstellungen und rechtfertigt womöglich auch Praktiken, die als bildungspraktisch destruktiv anzusehen sind.“

Prof. Dr. Martin Heinrich
Universität Bielefeld, Wissenschaftlicher Leiter der NRW-Versuchsschule Oberstufen-Kolleg an der Universität Bielefeld:
„In einem Online-Impuls der OECD betonte jüngst OECD-Direktor Andreas Schleicher als einer der zentralen Verantwortlichen für die internationalen PISA-Studien, dass mit Blick auf die ökonomische Entwicklung die Soft-Skills des letzten Jahrhunderts zu den Hard-Skills des 21. Jahrhunderts würden. Soziale Kompetenzen, die im Rahmen einer neuen Lernkultur erworben werden können, gewinnen damit zunehmend an Bedeutung für unsere wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklung in Frieden und Demokratie. Wie soll ein Schulsystem glaubhaft solche Future Skills vermitteln, wenn es mit dem ‚Exen‘ auf der Beibehaltung einer Prüfungskultur des letzten Jahrhunderts besteht?“

Reinhard Kahl
Erziehungswissenschaftler, Autor und Filmemacher:
„Mit einem gewissen Stolz kann ich sagen, dass ich 1996 in einem Kommentar in der taz das Wort ‚Lernbulimie‘ in die Welt gesetzt habe. Das ist wie alle Schüler:innen und auch die meisten Lehrer:innen wissen ekelig und nährt auch nicht. Es ist tatsächlich zum Kotzen. Vor allem, dass es immer so weitergeht und dass diejenigen, die in Tests am bravsten kotzen, auch die besten sein sollen.“

Jun.-Prof. Dr. Steve Kenner
Jun.-Professor für „Politikwissenschaft und ihre Didaktik“ an der Pädagogischen Hochschule Weingarten:
„Der pädagogische Wert unangekündigter Tests und spontaner Abfragen vor der Klasse ist aus bildungswissenschaftlicher Sicht zu bezweifeln. Ziel ist in erster Linie das Absichern bloßer Wissensreproduktion, aber auch die Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen durch das Ausüben von Macht sowie durch das Erzeugen von Unsicherheit und Angst. Mit emanzipatorischer Bildung hat das wenig zu tun.“

Prof. Dr. Anke Langner
Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Inklusive Bildung, TU Dresden:
„Die Gesellschaft hat sich in den letzten 10 Jahren extrem verändert. Dies gilt zum Beispiel für die Zugänglichkeit von Wissen, aber auch für die Lernausgangslagen und das Lernverhalten von Schüler:innen. Was sich hingegen kaum verändert hat, ist Schule.“

Dr. Michael Kirch
Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik, Ludwig-Maximilians-Universität München:
„Angst ist ein schlechter Ratgeber, wenn es um eine nachhaltige Leistungserziehung geht!“

Prof. Dr. Eckhard Klieme
Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation:
„Das Verständnis von Leistung, das Markus Söder hat, stammt aus dem vorletzten Jahrhundert.“

Prof. em. Dr. Jean-Pol Martin
Didaktik, Universität Eichstätt-Ingolstadt:
„Ich halte unangekündigte Tests für kontraproduktiv, wenn es um nachhaltiges Lernen und die persönliche Entwicklung geht.“

Prof. em. Dr. Annedore Prengel
Goethe-Universität Frankfurt am Main:
„Gute pädagogische Beziehungen beruhen auf wechselseitiger Achtung und Wertschätzung.“

Prof. Dr. Astrid Rank
Lehrstuhl für Allgemeine Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik, Universität Regensburg:
„Ein System, das Angst benötigt, um Leistungen zu erheben oder zu erhalten, ist an sich schon fragwürdig.“

Stefan Ruppaner
Schulleiter a.D., Alemannen Schule Wutöschingen:
„Lieber Herr Söder, wenn man den Dialog mit der Schülerschaft verweigert, ist das undemokratisch.“

Prof. Dr. Markus Schaer
Diplompsychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Evangelische Hochschule Nürnberg:
„Unangemeldete Prüfungen wie Exen und spontane Abfragen schaden der Leistung von Lernenden.“

Prof. Dr. Gabriele Weigand
Leiterin des BMBF-geförderten Forschungsverbunds "Leistung macht Schule":
„Wenn Politik bis in solche Details von Schulgestaltung eingreift, führt das zum Gegenteil von dem, was Politik tun sollte: Schulen darin zu stärken, ihre Schul- und Unterrichtskultur mit dem Ziel bestmöglicher Bildung für alle zu gestalten.“

Marina Weisband
Diplompsychologin, Expertin für digitale Partizipation und Bildung:
„Schulen dürfen kein politisches Schlachtfeld sein. Wir müssen handeln, wie es dem Lernen am zuträglichsten ist.“

Dr. Felix Winter
Erziehungswissenschaftler und Psychologe:
„Überraschende Prüfungen können nicht als sonderlich zuverlässig und aussagekräftig gelten, vor allem aber sind sie nicht fair.“

Interessierte können die Petition online hier unterzeichnen

 

2 comments on “BILDUNG: Söders falsches Leistungsverständnis - Schluss mit den Exen!”

  1. Wir sehen euch, wir hören euch, wir müssen jetzt von euch lernen um Schulbildung zukunftsorientiert zu gestalten.
    Der kommende digital Gipfel ist der richtige Rahmen noch einmal auf die Wichtigkeit eures Anliegens aufmerksam zu machen.
    We got you.

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