Vor einigen Tagen bin ich auf einen Thread gestoßen, also eine Abfolge mehrerer Tweets, der sich mit der bindungsorientierten Arbeit mit Jugendlichen befasst. Da ich den Thread lesenswert und gewinnbringend finde, habe ich seinen Verfasser, Menno Baumann, gefragt, ob ich ihn nochmals hier auf meinem Blog als Gastbeitrag posten kann. Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf und als Fachberater, Diagnostiker und Sachverständiger in eigenem Büro in Oldenburg. Ich bedanke mich für die Bereitstellung der Informationen und Materialien. 

Auf mehrfache Nachfrage versuche ich mal einen kleinen Thread zur Einführung in die Bedeutung bindungsorientierter Arbeit in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die mit ihrem #Verhalten irritieren und verstören. #Bindung #Jugendhilfe #Trauma #Pädagogik

Da ich dabei von einem dynamischen Bindungsmodell auf Grundlage neuerer Forschungen (z.B. Fraley & Spieker, Shaver & Mikulincer) sowie systemisch-familientherapeutischen Modellen (z.B. v. Sydow, Jopt) ausgehe, muss ich theoretisch ein wenig ausholen, damit es verstehbar ist.

Die grundlegende Hypothese der Bindungstheorie ist, dass jeder Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Bindung zu (erwachsenen) Bezugspersonen hat (Bowlby). Inwieweit dieses Bedürfnis erfüllt wird, hängt mit der Feinfühligkeit der Bezugsperson für Signale des Kindes zusammen.

Das Grundmodell, welches allen Theorien und Forschungsarbeiten zugrunde liegt, beschreibt dabei den Prozess, dass die individuellen biographischen Bindungserfahrungen des Kindes zu einer Bindungsrepräsentation „kartiert“ werden. Diese Bindungsrepräsentationen bilden dann die Grundlage für die Erwartungshaltung, mit dem ein Kind zukünftig der (sozialen) Umwelt begegnet. Damit sind die Bindungsrepräsentationen die Basis von Emotionsregulation, Beziehungsverhalten sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Mittels dieser Prozesse bewältigt der Mensch dann seine Bildungs-, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, welche wiederum als neue Bindungserfahrungen auf das System zurückwirken (siehe Abbildung). Wichtig: Ein Begriff wie „Bindungsstörung“ (medizinische Diagnose) macht in der Bindungstheorie strenggenommen

gar keinen Sinn, denn ein Prozess erfahrungsabhängigen Lernens und die Ausbildung einer Erwartungshaltung für die Zukunft ist nicht „gestört“ – sondern bei negativen oder traumatischen Erfahrungen bilden sich entsprechende Erwartungen aus – und zwar völlig normal!

Die Bindungstheorien unterscheiden nun zwischen „sicherer Bindungsrepräsentation“ und „unsicheren Bindungsrepräsentationen“. Experimente zum Bindungsverhalten (Ainsworth) arbeiteten dabei zunächst die Hypothese heraus, dass sich Kinder in unterschiedliche Bindungskategorien einteilen lassen. Dabei wurde zunächst unterschieden zwischen

  • „sicher gebunden“,
  • „unsicher-vermeidend gebunden“ &
  • „unsicher-ambivalent gebunden“.

spätere Experimente (Main) fanden bezüglich Kindern mit traumatisierenden oder Vernachlässigungs-Erfahrungen einen vierten Bindungstyp: Den „unsicher-desorganisierten Bindungstyp“. Ob es sich dabei tatsächlich um eine eigene Kategorie handelte, oder um den Zusammenbruch der Bindungsstrategien, ist dabei durchaus unterschiedlich betrachtet worden. Internationale Studien zeigen, dass unsichere Bindungen jeglicher Couleur in der Bevölkerung durchaus weit verbreitet sind. Bei Kindern mit schwierigen Verhaltensweisen sind dagegen desorganisierte Reaktionsmuster deutlich überrepräsentiert, sichere Bindungen dagegen deutlich unterrepräsentiert (Studie von H. Julius).

Neuere Ansätze in der Bindungstheorie brechen zunehmend mit dem statischen Bild von Kategorien, in die sich Menschen einteilen lassen und die sich in frühester Kindheit herausbilden und in der Regel lebenslänglich prägend bleiben.

Im ersten Schritt ist festzuhalten, dass Bindungen kein rein dialogischer Prozess zu(r) primären Bezugsperson(en) darstellt, sondern immer in einem komplexen Beziehungsnetzwerk stattfindet. So ist die Bindung zu Bezugsperson A keineswegs unabhängig von den Bindungserfahrungen mit Bezugsperson B – und kann sich auch spontan anders zeigen, wenn A anwesend ist oder eben nicht. Insofern müssen wir viel stärker auch von triadischen und quadratischen Bindungsmustern (v.Sydow) und Dynamiken ausgehen – ein Prozess, für den Urie Bronfenbrenner (1989) in der Ökosystemik die Meso-Systemebene der Beziehungen geschaffen hat. Veränderungen an einer Stelle eines Netzwerkes sorgen immer auch für Veränderungen im Gesamtgefüge.

Zweitens muss davon ausgegangen werden, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung sehr unterschiedliche Bindungserfahrungen mit vielen Menschen sammeln, die sich eher zu einem Erfahrungsfeld entwickeln, als zu einem primären Bindungstyp. Potenziell erleben viele Menschen alle Qualitäten von Bindungsangeboten, wenn sicherlich auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Aus dieser Historie der Bindungserfahrungen bilden sich nun die Erwartungshaltungen aus, mittels derer der junge Mensch anderen Menschen begegnet und „lesen lernt“ (Mentalisierung; Fonagy, Bevington).

Darüber hinaus sehen bindungsdynamische Ansätze verstärkt auf BindungsVERHALTEN in Situationen, die das Bindungsbedürfnis stimulieren bzw. Stress auslösen, welcher durch Bindungsverhalten reguliert werden kann/ muss. Dieses Bindungsverhalten bewegt sich nun auch weniger in Kategorien als vielmehr auf einem dimensionalen Pfeil, in dessen Mitte die Sicherheit steht. Hier gewinnt der Mensch durch den Bezug auf andere Menschen (Bindungspersonen) seine innere (und auch äußere) Sicherheit und es gelingen Emotionsregulation, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Sicherung in Beziehung erfolgreich. Ist der Mensch situativ aber nicht im Raum der Bindungssicherheit, schwankt sein Verhalten entweder in Richtung Bindungsangst (mein Verhalten folgt der Angst, dass die Bindung abbrechen oder mich verletzen könnte) oder in Richtung der Bindungsvermeidung (mein Verhalten vermeidet situativ die Beziehungssituation, da ich nicht erwarte, durch die Bindungsperson gesichert zu werden). Dabei kann auch der einzelne Mensch situativ oder je nach dem, WELCHE Bindungsperson gerade verfügbar ist, unterschiedliche Strategien zum Einsatz bringen, die auch – dem dimensionalen Grundgedanken folgend – sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.

Diagnostisch haben @bolztijs und ich dieses Modell noch um die beiden

Handlungsstrategien der „Kontrolle“ (ich muss die Bindung kontrollieren, um sie aushalten zu können) und der „Regression“ (ich bin ganz klein und hilflos, Du musst die Kontrolle übernehmen) ergänzt, so dass ein Fadenkreuz zur Einschätzung des Bindungsverhaltens entsteht.

Wenn man jetzt dieses Verständnis von Bindung zugrunde legt, wie funktioniert dann bindungsorientierte Arbeit? Eigentlich ist diese Frage relativ einfach: Der junge Mensch kommt mit den Erfahrungs- und Erwartungsmustern zu uns, die seine Biographie ihm gegeben hat.

Wenn jetzt unser Ziel ist, ihm möglichst viele Erfahrungen der Sicherheit anzubieten, dann müssen pädagogische Fachkräfte selbst dafür sorgen, dass sie aus der Sicherheit heraus handeln. Es geht nicht um die Störung des Kindes, sondern um die Sicherheit der Fachkraft!

Ein paar Beispiele: Wenn ein Kind z.B. ängstlich regressiv reagiert (oder seine Bindungsstrategien auf Grund schwerer Traumata völlig in sich zusammenbrechen), kann der Pädagoge natürlich in das Gegenteil schlagen und Bindung vermeidend (ignorieren, weil „der will ja NUR Aufmerksamkeit“) und kontrollierend (sanktionierend, schimpfend, überwältigend) handeln – dies wäre aber eben nicht aus dem Zentrum der Sicherheit heraus. Eine SICHERER Begleitung bestünde darin, dem jungen Menschen zu vermitteln, dass man bei ihm/ihr bleiben wird, bis er/sie sich wieder selber regulieren kann. Hierzu braucht es sowohl ein Setting, in dem dies möglich erscheint, eine eigene Handlungssicherheit sowie festen Rückhalt in einem Team – ggf. Reflexion durch Fachberatung/ Supervision.

Ein anderes Beispiel: Wenn es Spannungen im Team gibt, ist ein Kind, dass auf Grund seiner Erfahrungen mit streitenden Eltern und einem gegen die Eltern streitenden Hilfesystem versucht, die Kontrolle zu übernehmen und eine Fachkraft durch ängstliches Verhalten an sich zu binden und einen anderen durch Kontrolle auf Distanz (Vermeidung) zu halten, weder Bindungsgestört noch das Team spaltend – es nutzt sein biographisch erworbenes Erfahrungswissen, um eine Situation zu lösen, in der sich das Team aus dem Zentrum der Sicherheit selbst herausbefördert hat.

An solchen und vielen anderen Beispielen kann man lernen, was eine Pädagogik bedeutet, die aus der Sicherheit heraus Bindungsangebote unterbreitet, statt in Machtkämpfen oder durch Versuche der (erzwungenen) Veränderung (Machbarkeitsphantasien) verwickelt zu werden und dabei den Bedürfnissen von bindungsgekränkten bis hin zu traumatisierten Kindern nicht gerecht zu werden, sondern im Gegenteil die unsicheren Strategien zu zementieren –Ein langer Weg, der sehr viele neue Erfahrungen benötigt, aber er lohnt sich!

2 Kommentare

  1. SEHR spannend –
    zum einen, weil mir die frühen Theorien in meiner Studienzeit vor über 5o Jahren begegnet sind und im Dipl.-Examen eine große Rolle spielten. Im Beruf als Kita-Lobbyist halfen sie bei der Konzeptentwicklung für systemisch verstandenes Erzieherverhalten.
    Bereits damals gab es aber die Rückfrage, WARUM das Bindungsverhalten offensichtlich von genetischen Vorprägungen angetrieben wird.

    Der Autor stellt >Sicherheitschwer< ist?
    Es verarbeitet sie selbständig – unter zunehmendem Einbezug der Wahrnehming von Selbstwirksamkeit.
    Diese Dimension habe ich ENTWICKLUNG genannt.

    Beide Dimensionern erscheinen unabhängig von einander – sind es aber nicht – weg. der logisch vorgeordneten Sicherheit.
    Das Bild war für mich der Stützpunkt mit seinem vertrauten Innenraum und seinen gesicherten Außengrenzen. Allerdings – ohne Streifzüge in die nahe/zunehmend weitere Umgebung wird es irgendwann – zu eng!
    Wer aber den Rückzug verschlossen findet….

    Fazit
    Wer als Pädagoge die Beziehungsebene ausblenden will, sollte sich besser einen anderen Beruf suchen. Selbst die Programmierer von Lernprogrammen haben es inzwischen verstanden…

  2. Oh – schon wieder diese Übertragungspannen – bitte Erstmail canceln – hier die Komplettfassung:

    SEHR spannend –
    zum einen, weil mir die frühen Theorien in meiner Studienzeit vor über 5o Jahren begegnet sind und im Dipl.-Examen eine große Rolle spielten. Im Beruf als Kita-Lobbyist halfen sie bei der Konzeptentwicklung für systemisch verstandenes Erzieherverhalten.

    Bereits damals gab es aber die Rückfrage, WARUM das Bindungsverhalten offensichtlich von genetischen Vorprägungen angetrieben wird. Die Antwort heißt “Wachstum” – genetisch gesteuertes Wachstum – das notwendig zur GROSSEN TRENNUNG führt. Ohne Geburt kein Weiterleben – für BEIDE.
    Aber ohne eine neue Form der stabilen Einheit zwischen Kind und Bezugsperson:en gibts auch keine Sicherheit – für das eigene Überleben von Baby.

    So bestehen spätestens ab dem ersten Atemzug ZWEI Dimensionen:
    (1) die O r i e n t i e r u n g an dem, was man wiedererkennt;
    (2) die ENTWICKLUNG darüber hinaus;
    beides als lebenslange biografische Konstanten der ganzen Person.

    Beide Dimensionern erscheinen unabhängig von einander – sind es aber nicht – weg. der logisch vorgeordneten Sicherheit.
    Das Bild war für mich der Stützpunkt mit seinem vertrauten Innenraum und seinen gesicherten Außengrenzen. Allerdings – ohne Streifzüge in die nahe/zunehmend weitere Umgebung wird es irgendwann – zu eng!
    Wer aber den Rückzug verschlossen findet….

    Fazit
    Wer als Pädagoge die Beziehungsebene ausblenden will, sollte sich besser einen anderen Beruf suchen. Selbst die Programmierer von Lernprogrammen haben es inzwischen verstanden…

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