Neben der Tatsache, dass ich immer weniger in der Lage bin, Entscheidungen, die das Kultusministerium fällt, nachzuvollziehen, habe ich eine grundsätzliche Bitte: Ich möchte die Aussagen verstehen. Nicht mehr und nicht weniger.
Einige persönliche Worte
Ich gebe zu, dass ich in den letzten Wochen euch, liebe Kultusminister*innen, nicht verschont habe. Ich hoffe, ihr nehmt mir das nicht übel. Und ich hoffe, ihr habt gesehen, dass ich nicht nur versuche, ein guter Beamter und Kollege, sondern auch jemand zu sein, der vielen anderen mit Impulsen hilft - beispielsweise über diesen Blog. Das Angebot, dass ich gerne zur Verfügung stehe, sobald Expert*innen gesucht werden, wenn es um digitalen Unterricht geht, steht. Selbstverständlich kann ich auch andere Expert*innen in diesem Bereich empfehlen.
Auch möchte ich betonen, dass ich auf den Moment warte, in dem ich eine Entscheidung von Seiten des Kultusministeriums über die Maßen loben kann. Ich werde es tun! Das Strategiepapier zur Bildung in einer digitalen Welt wird bei mir in jeder Fortbildung aufgeführt. Sobald all jene Aussagen, die momentan getätigt werden, auch nach der Pandemie eine große Rolle spielen, werde ich das Lob auf all meine Plattformen verteilen. Versprochen!
Verstehen und Verständnis
Grundsätzlich möchte ich auch vorausschicken, dass ich Verständnis habe, dass große politische Entscheidungen nie einfach sind. Vor allem in Dilemmasituationen wie der Pandemie. Es gilt abzuwägen. Das ist klar.
Verständnis kann man aber aus meiner Sicht nur dann haben, wenn man Entscheidungen grundsätzlich versteht. Und ich verstehe sie nicht. Und wenn ich die Äußerungen, der meisten jener Menschen, die mir auf Twitter und Instagram folgen, richtig verstehe, verstehen diese es auch nicht.
Falls das unklar sein sollte: Es geht dabei nicht darum, dass ich als seit langem digital arbeitender Lehrer sehr gerne noch die ein paar "coole" Tools ausprobieren möchte. Ich gebe zu: Wir digitalaffinen Lehrer waren im ersten Lockdown natürlich schon froh, dass ein jahrelanges Versäumnis mit unserer Hilfe nach und nach behoben werden konnte. Aber, wie gesagt, darum geht es uns nicht.
Ich zitiere die frische Aussage der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Britta Ernst, wie sie heute im Spiegel zu lesen war: »Auch wenn wir durch die Virusmutation eine veränderte Situation haben, können wir nicht noch mal mehrere Wochen warten«.
Ich verstehe das nicht.
Wünsche sind keine Argumente
Nun ist es nicht so, dass mein Nicht-Verstehen grundsätzlich mit dem Wunsch zu tun hat, dass Schüler*innen wieder in einen sozialen Austausch gehen sollten. Mir wachsen regelmäßig graue Haare in Diskussionen, in denen der Wunsch, dass alles wieder normal wird, mit einem Argument verwechselt wird. Wenn jemand sagt: "Nun, die Schüler*innen brauchen sich, in der Präsenz hat man im Unterricht mehr Möglichkeiten, hat besser alle im Blick", dann frage ich mich immer, wer denn das Gegenteil behauptet.
Nicht falsch verstehen: Ich kenne genügend Kolleg*innen, die sagen: Besser ein mittlerweile funktionierender digitaler Fernunterricht als eine Rückkehr zu einem Wechselmodell, das wieder anders funktioniert und durch die Schulleitungen innerhalb von einem Wochenende aus dem Boden gestampft werden muss. Aber nein, das meine ich nicht.
Es geht darum, dass in vielen Diskussionen so getan wird, als würden wir darüber nachdenken, ob wir in einer völlig normalen Situation in Präsenz oder digital unterrichten. Also OHNE Pandemie. Grundsätzlich wäre das übrigens eine interessante Diskussion, die noch zu führen sein wird. Und in Modellen wie Flipped Classroom oder anderen hybriden Szenarien wurde das ja auch schon seit Jahren durchgeführt. Ansonsten gäbe es ja gar keine Experten für digitalen Unterricht.
Aber nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir den tiefen Wunsch zur Normalität abwägen mit einer Realität, die sich unseren Wünschen nicht beugt. Und nebenbei: Die Realität beugt sich auch nicht, wenn man Zahlenwerte nach oben korrigiert. Wie kann ein Inzidenzwert, der vor Monaten noch Grund für einen kompletten Lockdown war, nun eine Lockerung signalisieren? Das verstehe ich wieder nicht.
Ich verstehe das nicht.
Gefahrenkontrolle durch neue Gefahren
Die Gründe dafür, dass, ich übersetze das vorige Zitat der "veränderten Situation" jetzt mal frei, der Gesundheitsschutz aufgehoben, oder zumindest das Risiko stark erhöht wird, ist, dass viele Kinder unter den Beschränkungen der Kontakte leiden. Vor Frau Ministerin Ernst.
Ja, sicher. Das kann ich bestätigen. Mit einer hoffentlich nicht zu zynischen Nebenbemerkung würde ich anfügen, dass Kinder und Jugendliche auch schon vor der Pandemie gelitten haben und ich nicht alle paar Wochen einen großen medialen Aufschrei gelesen habe, aber gut, dass nun anzuführen ist fast schon gemein.
Also zurück zu "den Kindern". In der Tat hört man von Kindern, die nicht mitkommen. Die ganze Inhalte nicht mitbekommen. Die keine Technik zur Verfügung haben. Oder noch schlimmer: Die häusliche Gewalt erfahren. Das ist eine absolute Katastrophe.
Und wenngleich ich unterschreiben würde, dass viele andere Kompetenzen im Digitalen geschult werden, kann ich sagen, dass man von Schulen und Schulformen hört, wo es nicht läuft. Das kann man nicht runterspielen.
Warum aber, warum, ist die Schlussfolgerung dieser Situation nicht der Schutz der Schutzbedürftigen? Warum sollen dafür, dass, wie es etwas unterkomplex heißt (ich weiß ja, dass Zitate verkürzt werden, also: no offense) Kinder unter Beschränkungen leiden, alle Kinder einer Pandemie ausgesetzt werden, deren Mutation nicht nur ansteckender, sondern auch gefährlicher ist?
Ich verstehe das nicht.
Schützt die Schutzbedürftigen
Müsste die Frage nicht - nein - hätte die Frage nicht längst anders lauten müssen? In einem Gespräch im Deutschlandfunk plädierte Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf, für ein anderes Modell: „Jetzt die Schulen in den Präsenzunterricht zu schicken, wäre der blanke Wahnsinn, weil wir dann ein Quarantäne-Ping-Pong-Spiel spielen würden.“ Und die Unberechenbarkeit der Quarantäne sei für Familien sogar noch belastender als ein gut strukturierter Lockdown.
Und weiter: „Sie Schulen sind nicht zu, sie sind nur anders.“
Und weiter: „Familien mit psychisch instabilen Erwachsenen, in denen Sorge besteht, dass Kinder Gewalt erfahren, die nicht die notwendige technische Ausstattung haben oder wo es besonderer sprachlicher Förderung bedarf, müssen besonders unterstützt werden.“
Also mit anderen Worten: Wenn Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern fordern, dass die Schulen weiterhin digitalen Fernunterricht durchführen, dann bedeutet das eben NICHT, dass man aufs Geratewohl die Waage Richtung selbstständig arbeitenden Kindern und Jugendlichen herunterfallen lässt und den anderen sagt: Tja, Pech. Haltet eure Situation aus, ist für das Gemeinwohl.
Sondern es geht darum, dass schon seit Monaten gefordert wird: Ja, die Situation ist für viele problematisch: Helft ihnen! Schützt die Schutzbedürftigen!
Dass aber so getan wir, als ginge es nur in einem Rutsch. Als sei, wie in einigen Bundesländern, eine Woche vor den Ferien für die Hälfte einer Klasse die Erlösung, das verstehe ich nicht.
Ich verstehe das nicht.
Nur ein Wunsch
Ich bin kein Virologe. Wir sind keine Virologen. Aber in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unsrigen gibt es wenige Alternativen, als wissenschaftlichen Ausführungen zu folgen. Und dass wir weltweit anerkannte Experten auf diesem Gebiet in Deutschland haben, ist so schlecht nicht.
Und wenn diese Wissenschaftler*innen sagen, dass bestimmte Mutationen gefährlich sind. Dass wir in eine weitere Welle stolpern. Dass wir Menschenleben gefährden. Dass man nicht so einfach öffnen könne. Dann glaube ich das. Und das ist keine Glaubensfrage.
Dass vonseiten der Politik den Wissenschaftler*innen geglaubt wurde und nun nicht mehr wird. Oder dass zumindest so getan wird, als seien die Einschätzungen zwar immer noch gültig, aber - ¯\_(ツ)_/¯ - man müsse halt wieder öffnen. Man wird es ahnen: Das verstehe ich nicht.
Ich habe bisher auch in Situationen, in denen ich nicht verstanden habe, wie es dazu kam, immer meinen Job gemacht. So gut ich konnte. Und damit bin ich nicht der Einzige. Will sagen: Ich stelle keine Forderungen. Ich schlage nichts vor. Ich weiß, dass in einer Zeit wie dieser, Entscheidungen gefällt werden, die man ablehnt. Und wenn man sie ablehnt, dann muss man sie dennoch mittragen.
Aber ich würde gerne verstehen. Ich würde gerne sagen:
"Das verstehe ich!"
Das wäre der Einzige Wunsch, der übrig geblieben ist.