Foto: Thomas Clemens
Foto: Thomas Clemens

 

Wenn man sich die Zeit nimmt, mit Schülerinnen und Schülern über den Sinn und den Unsinn von Schule, Bildung und Fächern zu reden, kommt oftmals die alles entscheidende Frage: Wofür brauchen wir das? Sie ist so wichtig wie falsch. Ein Kommentar.

Als die Kölner Schülerin Naina mit einem Tweet, der tausendfach weitergeleitet wurde, eine ganze Bildungsdebatte auslöste und die Schülerin über Nacht zu einer Berühmtheit machte, gab es zwei Fraktionen. Die einen gaben der Schülerin Recht, Schule müsse, so das Argument, viel mehr in Richtung praktischer Anwendung gehen – eben mehr Steuererklärung und weniger Lyrik. Die andere Seite beschwor das humanistische Bildungsideal herauf und argumentierte mit der über hundert Jahre bewährten Bildungstradition. Jedes dieser Argumente ist nachvollziehbar. Jedoch nur dann, wenn es darum geht, Schule als Ort der Ausbildung zu sehen. Und das sollte sie nicht sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Als ehemaliger Waldorf-Schüler, der in einer amerikanischen High-School unterrichtet wurde, Schüler in einer Realschule und einer Werkrealschule unterrichtete und nun seit einiger Zeit Gymnasiasten auf das Abitur vorbereitete, kann ich trotz meiner noch nicht Jahrzehnte langen Erfahrung sagen, dass ich Einblick in verschiedene Systeme hatte. Sie alle hatten Vor- und Nachteile. Auch in der Waldorf-Schule stellte sich wiederholt die Frage, wofür wir das brauchen, vor allem dann, wenn wir später Ausdruckstanz zu Lyrik und Klang zum Besten gaben, an unseren Holzstöcken werkten oder eigene Bücher banden. Später, so hörte man oft, brauchen wir das doch nicht.

Als wir alle im Später waren, veränderte sich bei vielen die Sicht auf die Dinge. Das lag an zwei Dingen: Zum einen spürten wir (zunächst nicht als bewusste Reflexion), dass uns das Werken, die Bewegung, das Praktische plötzlich fehlte. Der einseitige Fokus auf das Kognitive, die Theorie, war – so könnte man ironisch sagen – ein Praxisschock. Auf der anderen Seite waren und sind viele Schulkameraden von damals einig darin, dass sie auch wegen der Schulzeit tun können, was sie lieben. Und das nicht, weil die Schule nur Nützliches präsentierte, im Gegenteil.

Schule ist auch der Ort, an dem man feststellt, was man alles (noch) nicht mag. Es ist der Ort, wo man die verschiedenen Perspektiven auf die Welt kennenlernt, von denen man später Abstand nehmen kann. Dass man in der Schule nichts „für das Leben“ lernt, ist schon insofern falsch, als das alles, was nicht mit Unterrichtsgegenständen zu tun hat, nichts anderes als Leben und Vorbereitung darauf ist. Man muss sich im Spiel und im Gespräch behaupten, Regeln aufstellen und einhalten, miteinander um das gute Argument ringen, Probleme finden und lösen, miteinander auskommen, sich aushalten. Natürlich ist es richtig, dass die Möglichkeiten für einen solchen Austausch von Schule zu Schule unterschiedlich sind. Und dass all dies viel mit dem Lehrer zu tun hat – ob dieser Kritik aufnimmt und einfordert, Möglichkeiten für freien Austausch und freie Arbeit anbietet, transparent in seinen Entscheidungen und der Auswahl der Themen ist, fair und vertrauenswürdig ist und die Schülerinnen und Schüler als gleichwertige Menschen sieht, denen etwas zuzutrauen ist, denen man vertrauen kann, denen man Verantwortung geben, diese aber auch einfordern kann.

Wenn dem so ist, dann ist die Frage danach, warum man das tut, was man tut, eine nicht nur berechtigte, sondern eine wichtige, eine grundlegende. Als Lehrer einer bestimmten Fachrichtung ist es einfacher, die Perspektive dieser einzunehmen. Zumal Fächer wie Deutsch, Englisch und Geschichte, je nach Auslegung, viele gesellschaftliche Bereiche abdecken, die heutzutage grundlegend sind: Kultur, Kommunikation, Politik, Gesellschaft. All das kann, wenn man will, eine Rolle spielen. Allerdings ist Schülerinnen und Schülern dabei eher klar, warum man das „braucht“, als bei der Interpretation von Lyrik. Hier geht es, vor allem wenn man in den genannten Fächern den Raum ins Digitale öffnet, um mehr als um die Auslegung von Metaphern, sondern um die grundlegende Fähigkeit, die Welt zu verstehen, sich in ihr zurecht zu finden und sich selbst, zumindest in Ansätzen, zu positionieren. Platt, aber richtig, könnte es auch heißen: Herauszufinden wer man ist.

Und obwohl viele Schüler ob der Tatsache, dass dieses Gespräch nicht oft auf den Tisch kommt annehmen könnten, dass diese Frage keine Rolle spielt, kann ich doch versichern, dass in kollegialen pädagogischen Gesprächen immer wieder das Thema der Identifikation, der Altersangemessenheit und der Relevanz gestellt wird. Wie aber kann man mit einer solchen Argumentation begründen, dass man Funktionsgleichungen lösen muss?

Gar nicht. Zumindest nicht mit der gleichen Perspektive. Andrerseits wird es dabei nun wichtig, den Fokus zu verschieben. Wenn es nämlich immer nur danach geht, was man später „braucht“ oder nicht (was viele nicht wissen), dann wird Schule zu einem Ort völliger Individualisierung (was ja viele fordern). Bei mehr als 14.000 Studiengängen müsste man verlangen, das Schülerinnen und Schüler wissen, was sie in vier Jahren für 40 Jahre tun wollen. Das ist nicht nur unmöglich, sondern auch naiv. Die in der Schule angebotenen Fächer beruhen ja auch auf der Annahme, dass Erkenntnisse der Menschen, die in der Mathematik, der Physik, der Geschichte oder der Geisteswissenschaften zu ihrer Zeit geradezu revolutionär waren, zumindest angedeutet und denkend nachvollzogen werden. Vielleicht tun sich die Naturwissenschaften schwer damit, dies klar zu machen – zumindest könnte ich das denken, wenn ich höre, dass der Gedanken an einen universalen Schatz menschlicher Erkenntnis den Schülern neu ist.

Das verlangt geradezu danach, ganz offen mit den Schülerinnen und Schülern die Bildungspläne zu studieren und nicht nur herauszufinden, was es ist, das man tut, sondern auch, was der Gedanke dafür ist, dass man es tut. Da wird man dann herausfinden, dass auch für das Fach Mathematik, dass ja gerade bei vielen einen schweren Stand hat, Leitgedanken entwickelt wurden, in denen es um „Orientierung und Urteilsfähigkeit“ geht, darum „aktive Teilnahme am kulturellen und demokratischen Leben einer Gesellschaft“ nutzen zu können und vieles mehr. Man wird sehen, dass es eben nicht darum geht, von der jeweiligen Lehrkraft dazu gezwungen zu werden, etwas zu tun, das man nicht will, sondern dass das hehre Ziel ein Weltverständnis ist, dass wider der Vermutung verifizierbare Einheiten gibt, die man nachvollziehen kann.

Dennoch wird es natürlich immer Schülerinnen und Schüler geben, die mehr das eine, mehr das andere mögen. Und das ist völlig natürlich. Dennoch bleibt der Gedanke wichtig, dass es eben nicht darum geht, dass jeder das tut, was für ihn gerade wichtig erscheint – denn das ist beliebig. Sondern es geht darum, Zugänge aufgezeigt zu bekommen, mögen sie in die naturwissenschaftliche, in die geisteswissenschaftliche oder in eine ganz andere Dimension zeigen. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation ist es dann natürlich in der Tat nicht mehr einzusehen, dass man in der Schule das Coding auslässt oder die Medien nur eine Rolle am Rand zugesprochen bekommen. Aber auch wenn die digitalen Medien, die Systeme hinter den Algorithmen, die Funktionsweisen von Java kennengelernt würden, gäbe es jene, die nichts damit anzufangen wüssten. Und auch das ist in Ordnung.

Denn wenn eine sich der Kritik aller ihrer Teilnehmer stellende Schule dennoch der Überzeugung ist, dass sie Zugänge zu all jenem schafft, dass „die Welt im Innersten zusammenhält“, dann hat sie schon viel geschafft. Und wenn es nur ist, dass die Schülerinnen, die „in die Welt“ gelassen werden, eben wissen, was sie nicht tun wollen.

Fernab der Überlegung, was denn nun „gebraucht“ wird, spielt gerade in den Geisteswissenschaften aber auch ein anderer Gedanke eine Rolle. Nämlich der daran, den Zugang nicht nur zur Funktion, sondern auch zur Ästhetik zu öffnen. Die Welt ist gerade – zumindest wenn man aus Deutschland einen Internetzugang hat – voll von Schätzen, auf die man zugreifen könnte, wenn man wollte. Aber wer liest heute Thomas Mann? Das ist keine Anklage, sondern der Verweis darauf, dass die Methoden und Techniken der Erschließung von schwierigen Texten überhaupt erst die Möglichkeit bietet, eine lustvolle Beschäftigung zu unternehmen.

Im besten Falle bedeutet Bildung dann eben nicht nur, zu wissen, was man tut, wenn man einer Beschäftigung nachgeht, sondern zu wissen, was man betrachten, aufnehmen, was man hören und lesen kann, wenn man gerade nicht dabei ist, Geld zu verdienen. Und sosehr Maschinen und die Unterhaltungsindustrie Räume dafür zur Verfügung stellen, ist doch die Teilhabe an der tradierten, an der über hunderte von Jahren gewachsenen Kultur, ein Ziel, das anzustreben sich schon deshalb lohnt, damit man teilhaben kann.

Wenn ich in den Sozialen Netzwerken über ein Hashtag auf neue Accounts stoße, bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Menschen schreiben, dass sie Langeweile haben. Damit ist nicht die Prokrastination gemeint, bei der man ja weiß, was man tun müsste, doch dieses mit schlechtem Gewissen vermeidet. Aber es ist eben auch nicht der Müßiggang gemeint, der es zulässt, aus dem Fenster zu schauen, die Vögel zu betrachten, in seinem Buchfundus zu stöbern und ein wenig zu lesen, vielleicht dann wieder die Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie schön es am Meer ist.

Wenn eine letzte Aufgabe der Schule erhalten bleibt, die nicht von der Wirtschaft als redundant verurteilt und auf den Prüfstand gestellt wird, dann doch die, dafür zu sorgen, dass genügend Zugänge geschafft wurden, dass im Leben keine Langeweile bleibt. Und dafür werde ich weiter kämpfen.

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