Da war es also wieder, mein Lieblingsargument. Man solle keine Gedichte mehr in der Schule analysieren, weil „ich das später nie wieder gebraucht habe.“ Schwierig. Für mich als ehemaligen Waldorfschüler ist das natürlich ganz anders. Ich koche, backe, nähe und stricke und ab und zu in der Mittagspause treibe ich Kupfer zu einem Becher, den ich dann ins Meer fallen lasse. Kleine Referenz am Rande. Dann fälle ich jeden Tag Bäume. Das tun alle Waldorfschüler. Und ich binde alle meine Bücher, die ich schreibe selbst. Der Punkt ist gemacht, oder?
Wenn wir Schule auf das aufbauen, von dem jeder einzelne sagen kann, dass er es später braucht, wird es sehr eng.
Wer Bildung mit unmittelbarem Nutzen gleichsetzt, hilft, sie zu zerstören.
— ⓑ² (@blume_bob) 19. Juli 2017
Aber bleiben wir bei der Lyrik.
What? Ich bin so dankbar(!), in einem Gedicht mehr Ebenen lesen zu können als nur die Inhaltsebene. Das gilt ja auch für andere Texte.
— H. Schneider (@Hokeys) 27. Juli 2017
Hier sind 100 Gründe, warum Lyrik (in und außerhalb der Schule) sinnvoll ist.
- Um nicht nur mit, sondern auch über die Sprache zu sprechen
- Um zu verstehen, was ein einzelnes Wort bedeuten kann
- Um teilzuhaben an der Mannigfaltigkeit der Sprache
- Um Kulturen in Wort und Wortbildern kennenzulernen
- Um zu verstehen, dass sich Menschen mit mehr beschäftigen, als mit dem Unmittelbaren
- Um zu erkennen, was man mit Sprache alles machen kann
- Um zu verstehen, was man mit Sprache nicht machen kann
- Um das Mehr von Worten wahrzunehmen
- Um die Musik der Sprache wahrzunehmen
- Um selber Worte und Verse zu versuchen
- Um andere Zeiten in anderen Worten als den bloß funktionalen kennenzulernen
- Um beeindruckt zu sein von dem Klang der Welt
- Um beeindruckt zu sein von dem Klang des Wortes
- Um zu verstehen, dass es oft mehrere Ebenen gibt als die erste scheinbare
- Um zu verstehen, dass man Farben schmecken kann
- Um zu sehen, wie Menschen miteinander umgehen
- Um zu sehen, wie Menschen miteinander umgingen
- Um die Kulturen in der kleinstmöglichen Form wiederzuerkennen
- Um die Sprache als eine lebendige Form zu sehen
- Um den Beruf des Schriftstellers zu würdigen
- Um Namen derer kennenzulernen, die mithilfe der Lyrik versuchten, die Welt zu erfassen
- Um zu erkennen, wie schwierig es für den Menschen ist, die Welt zu erfassen
- Um zu erkennen, dass die Position eines Wortes alles sein kann
- Um zu erkennen, dass die Position eines Wortes nichts sein kann
- Um so genau zu schauen, dass die Augen angestrengt sind
- Um so genau zuzuhören, dass nichts mehr anstrengend ist
- Um Schönheit im Kleinsten zu erleben
- Um sich gemeinsam zu erinnern
- Um Worte zu finden, wenn man keine Worte mehr hat
- Um ein Repertoire zu haben, wenn man jemandem mehr sagen will, als man sagen kann
- Um ein Repertoire zu haben, wenn man jemandem beistehen will
- Um zu erleben, wie die Sprache einen in andere Welten führt
- Um zu versuchen zu reimen
- Um darüber zu lachen, was ein Reim mit einem anstellen kann
- Um mit seinen Kindern später spannende Verse zu sprechen
- Um mit seinen Kindern über lustige Verse zu lachen
- Um bei sich zu sein
- Um bezeichnen zu können
- Um das Repertoire kennenzulernen, das nötig ist, um bezeichnen zu können
- Um aufmerksam zu sein für das Unerforschte
- Um sich darüber aufzuregen, wenn man etwas nicht versteht
- Um sich darüber zu freuen, was mit einem passiert, wenn man plötzlich versteht
- Um Worte kennenzulernen, die man vorher nicht kannte
- Um Worte in ganz anderen Kontexten kennenzulernen
- Um Worte ganz neu sehen zu können
- Um zu verstehen, was Worte mit anderen anrichten können
- Um zu sehen, dass ein paar Verse selbst mächtige Staatsmänner treffen können
- Um zu sehen, dass ein paar Verse den Liebsten berühren kann
- Um zu sehen, woher die Worte kommen, von denen wir denken, dass sie schon immer da sind
- Um zu sehen, was Betonungen auslösen können
- Um den Sprachstreit kennenzulernen
- Um die zahlreichen Referenzen auf heutige Schrift und Wörter zu verstehen
- Um also mehr zu verstehen
- Um tiefer zu verstehen
- Um zu verstehen, wie Verse ganze Kulturen überliefern können
- Um im Kleinen zu sehen, dass man ein Kleines ist
- Um zu beeindrucken
- Um beeindruckt zu sein
- Um sich gegenseitig vorzulesen
- Um andere hinschmelzen zu lassen wie Honig
- Um Metaphern zu verstehen und wie sie alles schmücken
- Um zu sehen, wie Sprache manipuliert werden kann
- Um zu erkennen, wie man Manipulation erkennt
- Um mitgerissen zu werden
- Um zu sehen, wie aus Worten Bilder werden
- Um Lieder noch gründlicher zu verstehen
- Um zu erkennen, was Lieder und Lyrik gemeinsam haben
- Um sich zu trösten
- Um andere zu trösten
- Um seine Angst zu bekämpfen
- Um den Rhythmus kennenzulernen
- Um das Metrum kennenzulernen
- Um dann, schließlich, das einzige Mal, wenn man trotz seiner eigenen Ablehnung in der Zeitung für seinen Sohn oder seine Tochter ein Gedicht schreibt, nicht diese hohlen Phrasen auf das Papier zu klatschen
- Um die Dynamik der Sprache kennenzulernen
- Um seine Sprache als Ganzes besser kennenzulernen
- Um zu verstehen, dass jede Zeit eine andere Form hat
- Um zu verstehen, dass jede Form eine andere Zeit hat
- Um andere Menschen besser verstehen zu können
- Um ein Gedicht kennenzulernen, das das eigene ist
- Um ein Gedicht kennenzulernen, das für jemanden anderen ist
- Um sich in der Welt zu orientieren
- Um zu sehen, was mit Menschen passiert, die nur die Sprache haben
- Um zu sehen, was mit der Welt passiert, in der Sprache verboten ist
- Um auszuruhen
- Um miteinander ins Gespräch zu kommen
- Um die Größe derjenigen schätzen zu lernen, die mit wenigen Worten das beschreiben, was mehr ist als die Summe der Worte, aus denen die Schrift besteht
- Um nachzudenken
- Um angestrengt nachzudenken
- Um nach der Anstrengung eine Idee zu haben
- Um schreiben zu lernen
- Um beschreiben zu lernen
- Um sich schreibend kennenzulernen
- Um Worte zu haben, um Worte zu beschreiben
- Um aufmerksam zu sein
- Um vorsichtig zu sein
- Um zu wissen, welche Struktur dieser Artikel hat
- Um zu wissen, warum dieser Artikel diese Struktur hat
- Um zu erkennen, dass Nutzen nicht nützt, wenn die Zeit nach dem Nutzen nicht glückt
- Nein, nicht um einen Aufsatz zu schreiben
- Um, wenn man dies alles nicht will und wenn man die Worte und Reime und Strophen und Verse und Metaphern und Vergleiche kennengelernt hat, sagen zu können: Damit möchte ich mich nicht weiter befassen. Aber ich weiß nun, warum.
Ich bin mir sicher, dass das nicht alle waren. Falls euch noch welche einfallen, dann schreibt sie gerne in die Kommentare. Ich werde nun ein wenig lesen. Vielleicht ein schönes Gedicht.
Stark!
Das freut mich!
Wirklich ein toller Überblick. Vielen Dank!
Ich werde ihn in meiner Einführungsphase zum Einstieg in das Thema Lyrik (Ich-Findung) nutzen und lasse die Schülerinnen und Schüler die Top 3 für sie nachvollziehbarsten Gründe raussuchen und auch Gründe benennen, die sie noch nicht nachvollziehen können. Vielleicht ist ja der ein oder andere Grund für sie am Ende der Unterrichtsreihe noch verständlicher.
Sehr gerne! Das hört sich toll an! Wenn Sie möchten, können Sie einige oder mehrere Schüler bitten oder ihnen anbieten, dass sie ihre Anmerkungen kommentieren. Dann kann ich darauf eingehen. Liebe Grüße.
[…] Ich selbst verfasste einen Artikel, in dem ich 100 Gründe aufschrieb, warum man Lyrik lesen sollte. […]
„Um Worte zu finden, wenn man keine Worte mehr hat.“ (29.)
Das beschreibt Lyrik am besten. Mit ihr kann man sich so gut ausdrücken.
Eine wunderbare Übersicht!
Herzlichen Dank! Das freut mich!
Ich war echt erstaunt, als ich in der Klausur das Gedicht halbwegs gut verstanden habe. Macht Lyrik leider nicht interessanter/wichtiger für mich.
Das ist schön! Also dass du es verstanden hast. Und es muss ja nicht alles gleich wichtig sein. Bildung ist auch die Möglichkeit, Dinge kennenzulernen, gegen die man sich entscheiden kann. Insofern: Nun weißt du eine Sache mehr, die nicht genau deins ist. Ist doch auch gut.
[…] PS: Falls, wir dich noch nicht überzeugen konnten, Bob Blume kennt 100 Gründe, warum Lyrik sinnvoll ist. […]