Franz Kafkas Parabel “Vor dem Gesetz” aus dem Jahr 1914 ist einer der bekanntesten Texte des deutschsprachigen Ausnahmeschriftstellers. Dies impliziert zunächst einmal, dass eine Interpretation ohne Recherche, wie ich sie hier (zunächst) vornehmen möchte, nicht ohne eine gewisse Ignoranz der Forschungsliteratur und bestehender Interpretationsansätze geschrieben werden kann. Kurz: Eine solche Interpretation muss Stückwerk bleiben. Dennoch möchte ich meinem Kurs eine solche Interpretation zu lesen geben, nicht zuletzt, um zu zeigen, inwiefern auch eine nicht an einer konkreten “Übersetzung” orientierte Deutung zu sinnvollen Zugängen führen kann. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Einordnung der Textart gelegt, die als Zwischenschritt zwischen Einleitung und Hauptteil gefordert wird. Kritische Anmerkungen zur Interpretation sind herzlich willkommen. 

Anmerkung zur Vorgehensweise

In Schulen werden textimmanente Interpretationen gefordert. Das heißt, dass oftmals keine biographischen Informationen zu Kurztexten vorliegen oder gelernt werden können. Nur epochales Wissen liegt vor. Damit die folgende Interpretation diesem Standard gerecht wird, schreibe ich eine Interpretation, die keine weiteren Informationen beinhaltet, außer jenen, die mir ohnehin bekannt sind. Dies mag dazu führen, dass sich die Interpretation außerhalb universitärer Anforderungen bewegt, gleichsam aber – so meine Hoffnung – Schüler*innen, vor allem der Oberstufe, einige gewinnbringende Impulse bieten kann.

Dass ich den Beitrag “Musterinterpretation” nenne, hat weniger mit den unverrückbaren Thesen zu dem Text zu tun – Kafkatexte beinhalten grundsätzlich unterschiedliche Deutungsspielräume -, sondern bezieht sich auf die Struktur der Gesamtinterpretation.

Anmerkung zur Interpretation von Kafka-Texten

Aus meiner Sicht ist die Interpretation eines Textes von Kafka, zumindest wenn es um seine literarischen Texte – seine Erzählungen, Parabeln und Romanfragmente geht – ein geschriebener Tanz mit Bedeutungsstrukturen. Das mag abstrakt oder gar zu metaphorisch klingen, soll jedoch zeigen, dass es nicht darum geht oder vielmehr nicht darum gehen kann, eine “Übersetzung” eines Textes zu finden, wie sie in Parabeln anderer Autor*innen vorkommen kann.

Anders gesagt ist ein guter Prüfstein, eine Interpretation nicht weiter zu beachten, jener, ob dort eine zu einfache Übertragung geleistet wird: Jener Text ist dann ein Hinweis auf Kafkas Vater, jener andere Text steht symbolisch für den Tod und so weiter. Nicht, dass biographische oder symbolische Bedeutungen keine Rolle spielen. Das Schwierige, aber gleichsam so Spannende an Kafkas Werk ist jedoch seine aus sich selbst entstehende symbolische Deutungsoffenheit. Es kann dem Interpreten dabei weniger darum gehen, die “eine Lösung” zu finden, sondern darum, eine textbezogene Annäherung zu finden, die in einem weiteren Schritt auf eine allgemeinere menschliche Seinssphäre geleitet wird. Selbst eine solche Auflösung wäre allerdings meist zu eindimensional, da Kafka in seinen Texten die Fraglichkeit menschlicher Existenz als solche darstellt und darin eben auch die Auflösung in einem solchen Sinne verunmöglicht wird. In diesem Sinne ist die folgende Interpretation eine Annäherung vor dem beschriebenen Hintergrund.

Primärtext

Franz Kafka: Vor dem Gesetz (1914)

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

Musteranalyse – Franz Kafka: Vor dem Gesetz

Von Bob Blume

  • Einleitung / kreative Hinführung

„…eine Axt für das gefrorene Meer in uns.“ (Kafka)

Franz Kafkas Anspruch an die Literatur, wie er im obigen Zitat deutlich wird, war ein vollumfänglicher. Die Wahl seiner Arbeit in einer Arbeiter-Versicherungs-Anstalt, mit der er Lohn und Brot verdiente, wurde so gewählt, dass genügend Zeit dafür war, sich in Gänze mit der Literatur und den Welten zu befassen, die er in dieser fand. Aus dieser Perspektive zeigt sich in der Literatur alles, was Kafka ausmachte: Das menschliche Sein in den Textbezügen, den Paradoxien und den Unklarheiten und Irritationen. 

Diese Irritationen ergeben sich für den Leser aus seinem Versuch einer umfänglichen Entschlüsselung. Damit aber scheitert der Interpret schon an der Voraussetzung für ein Grundverständnis. Anders könnte man formulieren: Vor der Tür zur Erkenntnis wird der Weg versperrt von einer Instanz, die bei nahezu jedem von Kafkas Texten als hermeneutische Unfassbarkeit wacht: Um den Text als eine Art symbolische Chiffre zu verstehen, bräuchte man Antworten auf Fragen, die einem der Text nicht gibt. In der Verzweiflung dieser Unklarheit befindet sich auch der Protagonist von Kafkas bekannter parabolischen Erzählung “Vor dem Gesetz”.

  • Basissatz und Deutungshypothese

In der von Franz Kafka im Jahre 1914 geschriebenen Parabel “Vor dem Gesetz” geht es um den Aushandlungsprozess zwischen einem als “Mann vom Lande” beschriebenen Protagonisten, dem trotz Bitten der Einlass in ein zunächst nicht näher definiertes “Gesetz” von einer zweiten Figur, einem “Türhüter” versperrt wird. In der Konstellation zwischen der zunehmend verzweifelten und resignierten Figur des Mannes und dem Türhüter zeigt sich die Unmöglichkeit einer aktiven Handlung, die sich an externen Vorgaben und Ver- bzw. Geboten orientiert. Damit wird der Ort vor dem “Gesetz” zum Außenbereich eines Lebens, dessen Kern nicht ergründet werden kann.

  • Inhaltsangabe und Einteilung in Sinnabschnitte zur Orientierung

Der Text, in dessen Mittelpunkt der erfolglose Versuch in das Gesetz Eintritt zu erlangen steht, lässt sich in drei ungleiche Teile unterteilen, die die Entwicklung der auf sich selbst zurückgeworfenen Figur in den Versuchen des Eintritts zeigen. Im ersten Teil versucht die Figur durch Bitten und zaghafte Versuche, den Weg zu erblicken, in das Gesetz zu gelangen (Z.1-27). Im zweiten Teil, der durch eine starke Zeitraffung eingeleitet wird und dem Leser die existenzielle Bedeutung der Situation verdeutlicht, werden die stetigen weiteren, aber gleichsam erfolglosen Versuche des Mannes beschrieben, doch noch Einlass zu erlangen (Z.28-56). Der letzte Teil (Z.56-77) beginnt mit einer scheinbaren Erkenntnis des Mannes, der die Besonderheit des Gesetzes durch einen Lichtschein wahrnimmt. Diese Erkenntnis führt aber zu keiner Handlung, sondern vielmehr zu einer weiteren Frage nach weiteren Menschen. Erst jetzt erfolgt eine Art spannungslösende Pointe, in der der Türhüter dem Mann erklärt, dass das Gesetz, in das er keinen Einlass bekommen hat, nur für ihn bestimmt gewesen sei.

  • Textsortenwissen einbeziehen, um den Text zu deuten

Der Kurzprosatext lässt sich aufgrund seiner impliziten Gleichnisstruktur der Textsorte der Parabel zuordnen. Dafür sprechen der knappe Textumfang (77 Zeilen), die Exemplarität der (obgleich surrealen) Situation und die epische Form. Semantisch und strukturell verweisen mehrere Aspekte auf die parabolische Qualität des durch unterschiedliche Deutungsebenen chiffrierten Texts.

So kommt dem “Gesetz”, trotz seiner eigentlich abstrakten Gestalt als kollektives, juristisch hergeleitetes und allgemein gültiges Regelwerk, eine räumliche Bedeutung zu. Der Titel verweist somit auf einen Nicht-Ort, einen Raum, der in seiner Unbestimmbarkeit zur Reflexionsfläche für die figurale, und damit menschliche Erkenntnisunfähigkeit wird. Auch die Zeitangaben verweisen auf den parabolischen Charakter des Textes, indem sie auch in diesem Spektrum reale Angaben negieren und stattdessen eine Scheinpräzision suggerieren, die letztlich eine existenzielle Dimension offenbart. Unterhalb dieser Ebene erscheinen die Flöhe als weiterer Verweis für eine nur innerhalb textimmanenter Indizien aufzuschlüsselnden parabolischen Struktur.

  • Erzählanalyse, Raum- und Zeitgestaltung analysieren und deuten

Die im Präsens verfasste Parabel wird aus Sicht eines Er-Erzählers in auktorialer Perspektive geschildert. Die dialogischen Sequenzen zwischen der im Zentrum stehenden Figuren des Mannes und des Türhüters sind dabei als motivische Strukturelemente des Nicht-Verstehens erkennbar. Die auktoriale Perspektive ist dabei nicht immer offenbar und wechselt zwischen neutralen Sequenzen, in denen eine fast gleichgültige Beschreibung der Situation dominiert, und innenfigürliche Einsichten. Dem Türhüter und seinem Urteil kommt dabei erzähltechnisch eine besondere Bedeutung zu, da er schon zu Beginn die Möglichkeit des Einlasses ausspricht und später derjenige ist, mit dessen Worten das Gesetz unwiederbringlich geschlossen wird.

Trotz der erwähnten Irrealität des beschriebenen Ortes erscheint in dem Platz “Vor dem Gesetz” die Spielfläche des antiken Dramas, dessen poetologische Programmatik (Einheit von Ort und Zeit) freilich durch die extreme Zeitraffung gebrochen wird. Dennoch zeigt sich in der nicht wechselnden Örtlichkeit die Bedeutung einer öffentlichen Aushandlung, in der die Lesenden zu Voyeuren eines misslingenden Lebensentwurfes werden.

  • Figurenkonzeption und Figurenkonstellation – Interpretation

Der Textanfang irritiert. Man kann weder von einem Beginn in medias res, noch von einem einleitenden Beginn sprechen. Vielmehr wird schon von Beginn an die im Titel beschriebene Situation konkretisiert: “Vor dem Gesetz steht ein Türhüter” (Z.1). Damit ergibt sich allerdings auch eine doppelte Unschärfe, denn die Frage, um welches Gesetz es geht und welche Funktion sich hinter einem “Türhüter” verbirgt, wird dem Lesenden überlassen. Damit öffnete sich das Spektrum des Unbestimmbaren, das ohne einen weiteren Kontext nicht auskommt: Das “Gesetz”, so lernen wir später, ist eines, dass der Figur – “ein Mann vom Lande” (Z.2) – allein gilt: “‘Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn'” (Z.74-77).

Die fatalen Worte am Ende der Parabel ergeben so eine Klammer, die das Leben und die “Tage und Jahre” (Z.28) umspannt, in denen der nicht weiter definierte Mann auf den Einlass wartet. Aus dem unbestimmten Artikel des Mannes (“ein Mann”, Z.2) und dem bestimmten des Gesetzes (“das Gesetz”, Z.3) ergibt sich eine grammatikalische Konstruktion, die auf einen ins Allgemeine weiterzudenkenden Bezug des Mannes hinweist. Gleichzeitig gibt der bestimmte Artikel schon im Titel den Hinweis auf die Beziehung zwischen Gesetz und Mensch: Es handelt sich eben nicht um ein Regelwerk fürs Kollektiv, sondern um eines für den Einzelnen.

Deshalb läuft auch die Frage des Mannes im dritten Teil der Parabel so fundamental ins Leere: “‘Alle streben doch nach dem Gesetz’, sagt der Mann, ‘wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?'” (Z.68-71). In den Prämissen des Mannes – nicht in seiner Frage – desavouiert sich hier die Problematik des gesamten Textes. Die erste Prämisse lautet: Alle streben nach dem Gesetz. Die zweite lautet: Dieses ist also für alle zuständig oder auf alle anwendbar. Zwar ergibt sich schon in dem Abtönungspartikel (“doch”, Z.69) jene Unsicherheit des Mannes, die er selbst nicht reflektieren kann. Aber im Grunde zeigt damit die sprachliche Handlung gleichzeitig den Grund für sein Scheitern: Indem der Mann nach vielen Jahren – selbst in dem Moment, in dem er “einen Glanz” (Z.57) aus der Türe des Gesetzes sieht – nicht mehr zu bieten hat als eine weitere, letztlich letzte Frage, verweist er auf das fundamentale Problem, das ihm den Einlass verwehrt hat: Die Unfähigkeit einer aus sich selbst hergeleiteten aktiven Handlung, die sich von externen Faktoren unabhängig macht.

Das ist der Deutungsraum, in dem der Gesamttext ergründet werden kann: Ob es sich bei dem Gesetz um ein religiöses Urteil des Lebens, eine externalisierte Urteilsinstanz über den Verlauf eben jenes Lebens oder um weitere mögliche, im symbolisch dechiffrierten Kontext “versteckte” Deutungsmöglichkeit handelt, ist damit sekundär, und im Grunde auch unmöglich zu beweisen. Vielmehr als die Frage danach, was die Bedeutung der Einzelaspekte für einen möglichen realen Bezug ergibt, ist es also die Erkenntnis der Problemkonstellation selbst, die in das Zentrum der Deutung gelangt.

Dem Attribut “vom Lande” (Z.2) kommt dabei eine mögliche gesellschaftliche Dimension in der Beurteilung der Frage des Scheiterns zu. Denn schon die Eigenaussage des Türhüters, er sei “mächtig” (Z.14), die letztlich ein bloßer Zusatz zu der eigentlich offen gelegten Möglichkeit, das Gesetz zu betreten ist (“‘Es ist möglich'”, Z.6), ist dem Mann genug, um vor den Schwierigkeiten, die er “nicht erwartet” (Z.19) hat zu kapitulieren. Ein Grund dafür, diesen Zusammenhang als unbestimmtes “jetzt aber nicht” (Z.7) nicht zu hinterfragen, ergibt sich so in der unterschiedlichen Sphäre des Landes, in dem eine unbeholfene Einfachheit mitschwingt, und der Komplexität des durch gesellschaftliche Modernisierung erst entstandenen Gesetzes.

Seine im Modalverb artikulierte Aussage zum Gesetz klingt dann fast kindlich, ja trotzig: “das Gesetz sollte doch jedem und immer zugänglich sein (…).” (Z.20) Auch aus dieser Annahme zieht der Mann jedoch keine Konsequenz. Es erscheint, als seien die beschriebenen Säle (vgl. Z.15) und das martialische Aussehen des Türhüters zu viel für den Mann, um doch einen Versuch zu wagen. Auch hierbei kommt jedoch der Wahrnehmung des Mannes eine besondere Bedeutung zu. Denn die Beschreibung des Türhüters ist weder brutal, noch in der Beschreibung so einschüchternd, dass sie Passivität im Angesicht einer Bedrohung rechtfertigen würde. Vielmehr erscheint die genaue Beschreibung des Türhüters als eine Art vorgelagerte Rechtfertigung, die in der objektiven Beurteilung des Beschriebenen aber keine Entsprechung findet.

Vor diesem Hintergrund sind die “viele[n] Versuche” (Z.28) doch nicht eingelassen zu werden, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Darauf verweist ohnehin die Deplatzierung des Mannes durch den Türhüter: “Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen” (Z.27). Der Mann ist ab dem Punkt der ersten Resignation nicht mehr im Zentrum eines möglichen Gelingensversuches. Vielmehr ist er abhängig von Dritten – also vom Türhüter -, die ihn etwas tun lassen. Das ist wichtig: Denn selbst die Bewegung außerhalb des Kreises, in dem ein Durchschreiten gelingen könnte, wird nicht von ihm selbst durchgeführt.

Das Geplänkel zwischen Türhüter und Mann ist dabei nur scheinbar von Bedeutung. Denn werden die Dialoge, die eine aktive Handlung noch möglich machen, zuvor in aller Deutlichkeit ausgeführt, sind die in den Jahren folgenden Gespräche und “kleine[n] Verhöre” (Z.31) nur noch als Skizze beschrieben. Dass der Türhüter “teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen” (Z.33f.), stellt, – verweist dabei einmal mehr auf die auktoriale betonte Wahrnehmung des Mannes, die sich über die Zeit der Parabel bis ins Irrationale steigert: “Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu Ungunsten des Mannes verändert.” (Z.66ff.)

Es ist müßig über eine tatsächliche physische Veränderung zu spekulieren, denn die hier beschriebenen Veränderungen verweisen außerhalb menschlicher Körpermerkmale eher auf die Konsequenzen bestehender Handlungsunfähigkeit. Mit anderen Worten: Nur dadurch, dass der Mann sich einer scheinbaren Macht des Türhüters unterwirft, erkennt er ihm jene Macht an, die dann seinen Einlass blockiert. Hier öffnet sich eine Weite, die auf verschiedenste Felder menschlicher Interaktion- und Erkenntnisprozesse anwendbar ist, in denen es um eine autonome Handlung geht, die aufgrund von externen Faktoren verhindert werden kann, sofern ihre Potenz in dieser Verhinderung anerkannt wird.

Gleichzeitig birgt der Begriff des Türhüters eine möglicherweise bittere Erkenntnis: Denn es ist nicht von einem Türsteher die Rede. Etymologische Gründe für diese Wortwahl sind nicht auszuschließen, aber in dem Begriff des Hüters ergibt sich gleichzeitig eine Funktion, die den Mann hätte unterstützen können. Wir wissen, dass die Tür für den Mann da ist. Derjenige, der sie gehütet hat, tat dies für ihn – eigentlich nicht gegen ihn.

Insofern sind auch die Bestechungsversuche des Mannes (vgl.Z. 38f.) unnütz. Sowohl kommunikative, monetäre und visuelle Handlungen bringen ihn nicht weiter, da die Übersteigerung seiner Unfähigkeit diese als Konsequenz in sich trägt: “Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter, und dieser erste erscheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz.” (Z.43ff.) Man könnte soweit gehen und der Figur hier zuzustimmen: Der Schein des Hindernisses als unüberwindbare Marke ergibt nicht nur scheinbar seine tatsächliche Unüberwindbarkeit.

Der Verweis auf die Flöhe im Mantel des Türhüters erscheint geradezu als ein Bruch mit dem bisherigen Text, da hier der fiktive Raum um eine weitere Ebene erweitert wird. Jedoch lässt sich sagen, dass sich neben einem weiteren Verweis auf die Versuche des Mannes, mittels der Analyse des Hindernisses (also dem Türsteher) dieses zu überwinden, hier eine Art Reflexion der Unfähigkeit des Mannes auf eine Mikroebene darstellt: Genauso wenig wie die Flöhe dem Mann helfen können, da sie schon aufgrund des Größenunterschieds nicht in der Lage wären, genauso wenig kann der Mann sein Scheitern vor dem Gesetz verstehen. Der Größenunterschied wird hier doppelt dimensioniert, um auf die Entwicklung des Mannes hinzuweisen.

Dass das Augenlicht schwach wird und er auch nicht mehr hören kann, ist der Hinweis auf das Versagen jener Möglichkeiten, mit denen der Mann sowieso schon versagt hatte. Die Unüberwindbarkeit wird absolut. Die Erfahrungen des gesamten Lebens versammeln sich – nicht aber zu der entscheidenden Handlung, sondern zu einer Frage. Und damit zur passiv-resignativen Grundhaltung des Anfangs, die sich kein bisschen verändert hat.

  • Möglicher biografischer/ intertextueller Bezug 

Der Text “Vor dem Gesetz” bringt den Leser – wie so oft bei Kafka – in dieselbe verzweifelte Situation, in der sich seine Figur befindet. Ob in Textminiaturen wie “Kleine Fabel” oder “Gib’s auf”, stets ist es die Unfähigkeit der Figuren, ihre Situation so zu reflektieren, dass daraus ein Handlungsimpuls generiert werden könnte, die sie scheitern lässt.

“Vor dem Gesetz” entwirft aus dieser Konstellation eine Alptraumwelt, wie sie auch im “Schloß” oder im “Urteil” zu finden ist. Das Unverständnis einer als grundlegenden angenommenen, aber nicht verifizierbaren Wahrheit, steigert sich auf der Grundlage des Wissens um die vielen folgenden Ebenen und wird dadurch zu einer existenziellen Gefahr für das Leben/Lesen.

  • Abschluss und Fazit 

“Vor dem Gesetz” lässt Interpreten verzweifeln, weil sie genau wie die Figur hinter der ersten Hürde den Schlüssel für alle weiteren Ebenen vermuten. Die genaue Lektüre offenbart jedoch, dass es nicht um eine vollkommene Dechiffrierung, sondern um eine Offenlegung der Konfliktdimensionen gehen muss. In der angenommener Abhängigkeit zwischen zwei Figuren wird die Problematik einer aus sich selbst heraus entstehenden Unzulänglichkeit ergründet.

Dabei spielt weniger eine Rolle, welche Situation genau gemeint sein kann. Die Spannung der Parabel ergibt sich vielmehr aus dem Möglichkeitsraum, der sich gleichsam auf viele Situationen des Lebens übertragen lässt. Und zwar immer jene, in denen ein wie auch immer gelagertes Problem weder durch seine Analyse noch durch seine Betrachtung oder Erörterung ergründet werden kann. Eine Lösung ergibt sich vielmehr durch ein Zulassen der Situation und eine Handlung, die sich vom Kontext ihrer Entstehung unabhängig macht.

 

Ich bedanke mich sehr herzlich bei Sebastian Treyz für ein ausführliches Lektorat des Textes.

15 Kommentare

  1. na bro könnte schon noch einen feinschliff gebrauchen. Der einleitungssatz war mir zu kafkaesque und ich frage mich ob du nicht all zu viel zeit damit verschwendet hat hut mein junges. Gute besserung tehe

  2. Jo homie ein kleiner Tipp von deinem bro 😉
    Dein text war gar nicht bad aber du könntest deine lines vielleicht ein bisschen mehr mit flow und bisschen mehr dizzy rüberbringen yeah! RocknRoll du

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