Eigentlich war es eine Frage, die mir Franziska E. M. Reiners stellte, als sie mich über die Seite "Referendariat: Tipps, Tricks und Anregungen" anschrieb. Wie lässt sich konkret informelle digitale Bildung für formelle nutzbar machen? In meiner Masterarbeit habe ich festgestellt, erstere ist in größerem Umfang vorhanden, letztere eher wenig. Unabhängig davon, wie unser Gespräch weiterging, war ich sehr an den Ergebnissen interessiert und fragte Franziska, ob sie ein Exposé ihrer Arbeit als Gastartikel schreiben wolle. Ich freue mich, dass sie nicht nur zusagte, sondern nun auch auf Twitter anzutreffen ist. Im Folgenden also nun ein weiterer Beitrag zur Medienkompetenz von Schüler*innen.
Alles fake oder was? Eine qualitative Interventionsstudie zur digitalen Medienkompetenz von Schülerinnen und Schülern in Zeiten von Fake News*
von Franziska E. M. Reiners
* Die Masterarbeit wurde Mitte August 2019 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg für den Abschluss Master of Education für das gymnasiale Lehramt zur Begutachtung abgegeben und bezieht sich daher auf den damaligen Foschungsstand.
Digitale Geräte sind allgegenwärtig und ein jeder kann sie bedienen, besonders Jugendliche und junge Erwachsene. Digital Natives (Prensky 2001) wachsen mit Computern und Tablets auf, die Bildungspolitik forciert das Thema Digitale Bildung und der jüngst verabschiedete Digitalpakt macht den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland Hoffnung auf eine immense finanzielle Zuwendung in Sachen Digitalisierung. Soweit klingt das alles wunderbar, doch ist es tatsächlich so? Bedeutet die umfassende Verfügbarkeit von digitalen Medien automatisch eine ausgebildete digitale Medienkompetenz, welche den NutzerInnen gerecht wird?
Digitale Medienkompetenz – Theorie versus Praxis
Eigene Erfahrungen im Allgemeinen Schulpraktikum widerlegten diese vorgefasste Annahme. Ein überraschender Befund der stutzig machte, benutzten die Schülerinnen und Schüler doch bei jeder Gelegenheit ihr Handy. Demnach geht eine intensive Beschäftigung damit scheinbar nicht mit einer adäquaten Computernutzung einher, was sich von dem allgemeinen Eindruck unterscheidet. Die Schwierigkeit der SuS, an sie gestellte Recherche-Aufgaben am PC zu bewältigen, lenkte hin zu dieser Masterarbeit. Zwar spricht Ralf Lankau digitalen Medien (vgl. Manovich 2002, Schelhowe 2007, Zorn 2011, Kerres 2012) in seinem Buch Kein Mensch lernt digital ab, als Lerninstrument tauglich zu sein und verneint digitale Bildung (Lankau 2017, S.10ff.), doch lassen seine Thesen außer acht, wie beeinflusst SuS inzwischen davon sind und es einer digitalen Medienkompetenz (vgl. Groeben 2004, Baacke 2007, Bachmair 2010, Buckingham 2010, Spanhel 2010) bedarf, um in der heutigen Realität zurechtzukommen.
Mit den auseinandergehenden Meinungen über digitale Medien und SuS sowie deren Umgang damit – einerseits von außen wahrgenommen als Digital Natives und andererseits mit großem Nachholbedarf (vgl. ICILS-Studie 2013) – stellt sich perspektivisch die Frage, wie sich SuS selbst diesbezüglich einschätzen und welche digitalen Geräte in welchen Nutzungsbereichen sie einsetzen (vgl. JIM-Studie 2018, Vodafone Stiftung 2019). Zudem betrifft die aktuell wachsende Präsenz von Fake News (vgl. Alcott & Gentzkow 2013, Alemanno 2018, Schmid et. al 2018, Gelfert 2018) im Internet auch jugendliche NutzerInnen und ihr Medienverhalten und es ist deshalb von Belang, ebenfalls zu prüfen, ob bei ihnen dafür ein Bewusstsein herrscht und wie sie sie einordnen.
Das Untersuchungsdesign im Dreischritt
Als Untersuchungsdesign wurde für die Masterarbeit ein dreiteiliges Projekt konzipiert, welches aus dem ersten Teil mit Forschungsinterviews, dem zweiten Teil, einer Intervention in Form eines qualitativen Experiments nach Kleining (1985), und schließlich dem dritten Teil wiederum aus Forschungsinterviews besteht. Mit Hilfe dieser qualitativen Interventionsstudie sollte bei den teilnehmenden SuS ihre digitale Medienkompetenz vor dem Unterrichtsprojekt beleuchtet werden und im Anschluss daran, inwiefern die aktive Auseinandersetzung mit Fake News Kompetenzzuwächse und Anpassungen im Medienverhalten ausgelöst hat. Die Stichprobe wurde aus einer neunten Klasse einer ländlichen Kooperativen Gesamtschule randomisiert gezogen und bestand für die Prä- und Post-Interviews aus neun SchülerInnen (4 w, 5m) sowie für das Unterrichtsprojekt (die Intervention) aus dem Klassenverbund von 16 SuS.
Kultusministerkonferenz – Kompetenzmodelle – Konzepte – Klasse?
Um die digitale Medienkompetenz bei SuS zu fördern, wurden seitens der Bildungspolitik Modelle und Rahmenpläne konzipiert, welche eine überprüfbare stufige Entwicklung zulassen und in den Schulen fächerübergreifend implementiert werden sollen. Diese wurden in der Arbeit auch mit Augenmerk auf das Bundesland Niedersachen (Orientierungsrahmen Medienbildung und Medienbildungskonzepte) vorgestellt und im Ergebnisteil mit den gewonnenen Befunden abgeglichen. Zwar wurden z. B. mit der ICILS-Studie 2013 die digitalen Kompetenzen und damit der Output von SuS gemessen, doch lag der Zeitpunkt vor der Verabschiedung der KMK-Rahmenrichtlinien. Außerdem beachten die bisherigen Untersuchungen das Medienverhalten und die Medienwelt der SuS wenig. Dies aufzuhellen könnte aber Lehrpersonen von Nutzen für ihre Unterrichtsplanung sowie ihre Unterrichtsqualität sein, schließlich gehört die Digitalisierung neben Inklusion und individueller Förderung zu den größten Herausforderungen von Schule derzeit.
Relevant ist das Thema digitale Medienkompetenz also in Forschung, Bildungspolitik und für Schulen inzwischen geworden und bestimmen digitale Medien auch den Alltag von Jugendlichen. Dahingehend konträr verlaufend, spielen digitale Geräte in der schulischen Nutzung ausgehend von Lehrpersonen eine untergeordnete Rolle in Deutschland (vgl. ICILS-Studie 2013). Auch der Bereich zur Glaubwürdigkeit von digitalen Informationen (vgl. ebenda) wird weitestgehend nur gestreift bzw. erst seit dem Strategiepapier der KMK von 2016 beachtet, bedarf aber in Zeiten von Fake News einer dringenden Umsetzung. Insofern stellte sich bei der Untersuchung auch die Frage, ob die theoretischen Bemühungen um Konzepte, Kompetenzmodelle, Definitionen etc. schon Früchte tragen und sich den themenimmanenten raschen Veränderungen anpassen können oder schriftlich fixierte Wünsche bleiben. Ziel dieser Masterarbeit war es herauszufinden, für wie medienkompetent Schülerinnen und Schüler sich halten und ob eine aktive und handlungsorientierte Auseinandersetzung mit Fake News einen Zuwachs an digitaler Medienkompetenz erwarten lässt und dies sich in der Selbsteinschätzung widerspiegelt.
Das Gesamtergebnis
Die Fragestellung konnte mit der vorgenommenen qualitativen Interventionsstudie beantwortet werden. Im ersten Interviewteil schätzten sich die Befragten im Umgang mit digitalen Geräten grundständig ein, jedoch unsicher bei technischen Problemen. Im MINT-Bereich geförderte Befragte bewerteten ihre Fertigkeiten als besser. Ihre konkrete digitale Medienkompetenz verankerte sich in der Rezeption und im kommunikativen Nutzungsbereich. Fake News beschrieben die Befragten im ersten Interviewteil wörtlich übersetzt als falsche Nachrichten und als Gerüchte, ein Erkennen derselben war der Mehrheit der Befragten nicht möglich. Dennoch hielten sie das Thema Fake News für sehr relevant, allerdings gab es noch keine explizite Auseinandersetzung damit in der Schule. Privat sind einige mit Fake News in Berührung gekommen, einige jedoch noch nie wissentlich.
Mit Hilfe der Checkliste konnten die Teilnehmenden bei der Intervention Merkmale von Fake News herausarbeiten und in den Kontext ihrer zugewiesenen Nachricht setzen, zudem erkannten alle Gruppen ihre Nachrichten als Fake News anhand der fehlenden Impressen und Belege, des Schreibstils und den Bildquellen. Bei den Bildquellen herrschten zum Teil Unsicherheiten.
Ein Kompetenzzuwachs nach der aktiven Auseinandersetzung mit Fake News wurde von den Befragten bestätigt. Die Intervention löste eine Sensibilisierung dafür aus und verbesserte die Rezeptionsfähigkeit. Im Internet nähmen die Teilnehmenden nun anhand der neu gewonnenen Erkenntnisse die Merkmale von Fake News besser wahr und könnten sie von konventionellen Nachrichten unterscheiden. Aufbauend darauf gingen sie nun strategisch vor und hätten ihr Medienverhalten dahingehend modifiziert, dass sie bei Meldungen Vergleiche anstellten, Aussagen hinterfragten und auf Ungereimtheiten achteten. Auch sagten sie aus, Fake News nach der Intervention mit Hilfe der erarbeiteten Merkmale eindeutiger identifizieren zu können und plädierten weiterhin dafür, diese im Unterricht ausführlich und regelmäßig zu thematisieren und weiterführend zu analysieren. Die Befragten stuften Kenntnisse über Fake News als wichtig ein und bescheinigten ihnen große Einflüsse bei zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch in größerem Rahmen, wie Politik und Wirtschaft sowie im gesellschaftlichen Kontext. Die Zuordnung als Digital Natives nach Prensky kann hier formal vorgenommen werden, da die Befragten nach 1984 geboren und von digitalen Geräten umgeben sind, welche sie tagesfüllend nutzen. Gleichzeitig entsprechen sie auch der Kritik an dem Terminus mit vorrangig erlebnisorientierter rezeptiver Nutzung digitaler Geräte im Bereich der Kommunikation (vgl. Jörissen & Marotzki 2014, de Bruyckere & Kirschner 2017).
Ohne Handy, ohne mich!
Hieraus abgeleitet lassen sich die Ergebnisse mit dem pädagogischen Kontext verknüpfen: Alle Befragten nannten in den Interviews ihr Handy als ein digitales Gerät, welches sie benutzen, gefolgt von Laptop und Fernseher (je fünf Mal), weniger den PC (2 Mal). Diese Angaben korrelieren mit den Befunden der JIM-Studie von 2018, wonach nahezu alle Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren ein Handy besitzen und zu 71% einen Computer oder Laptop sowie 26% ein Tablet. Von daher entsprechen die Probanden der Altersgruppe. Ähnlich verhält es sich bei der täglichen Nutzungsdauer digitaler Medien, die vor allem vom Handy dominiert wird. Computer und Laptop dienen eher der Informationsbeschaffung für die Schule im formellen Rahmen, insofern kann das Handy der informellen Alltagsmedienkompetenz und der erlebnisorientierten Medienkultur zugeordnet werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies eine Spaltung in formelle Gerätenutzung in der Schule oder für die Schule bei Hausaufgaben u. ä., mittels Computer und Laptop und der informellen mit dem Handy, mit dem die Befragten hauptsächlich kommunizieren oder Soziale Medien nutzen. Hier bestünde eine Möglichkeit, beides zu vereinen und das Handy in den Unterricht einzubeziehen, beispielsweise in den Deutschunterricht (vgl. Praxis Deutsch Nr. 265/ September 2017). Somit könnte dessen alltägliche Präsenz und die damit verbundene Motivation von Lehrpersonen gewinnbringend didaktisch genutzt werden. Das Interesse an Unterrichtsthemen ließe sich mittels digitaler Medien erhöhen und kognitiv fruchtbar machen, da die Vermittlung den SuS mehr Spaß und lebensnahen Unterricht verspricht.
Vertiefung digitaler Medienkompetenzen in der Schule
In der Studie wurde auch deutlich, dass durchaus der Wunsch besteht, die Seite der Medienproduktion kennenzulernen. In diesem Falle, wie Fake News entstehen und verfasst werden. Dies lässt darauf schließen, dass die vorrangig rezeptiv veranlagten Kompetenzen auch in eine produktive erweitert werden können und es keine Sackgasse bei der digitalen Medienkompetenz der SuS gibt. Auch bei einer Unterrichtseinheit zum Thema Bericht wäre beispielsweise der Besuch einer Zeitungsredaktion möglich, um den Entstehungsprozess einer Nachricht zu verfolgen.
Digitale Medien sind im Alltag der Teilnehmenden fest verankert, sie werden nicht als besonders wahrgenommen und, abgesehen von den SuS der Projektschule im Profil Natur und Mensch mit Möglichkeiten zu programmieren, bewegen sich die Kenntnisse und Fertigkeiten auf einem Grundniveau. Einen Medienbildungsplan scheint es an der Projektschule nicht zu geben, dadurch entwickeln sich Unterschiede in den Kompetenzen der SuS, die mit der Zeit weiter auseinanderklaffen können, wie auch Bachmair konstatiert. Es wäre lohnend, ein solches Konzept aufzustellen und damit digitale Medienkompetenz für alle SuS zu fördern und sich dabei ihre intrinsische Motivation zunutze zu machen. Damit kann die Alltagsmedienkompetenz sinnvoll auf das Level der formellen Digitalkompetenz gehoben und strukturiert werden. Zudem würden die verbindlichen KMK-Standards und ein Merkmal niedersächsischer Schulqualität erfüllt.
Signifikante Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Orientierungsrahmen Medienbildung in der Schule
Betrachtet man die Ergebnisse der Intervention durch die Brille des Orientierungsrahmens Medienbildung in der Schule auf dem Kompetenzstufenmodell, lassen sie sich folgenden Stufen zuordnen: Im Kompetenzfeld 1 Recherchieren, Erheben, Verarbeiten auf der Niveaustufe 2 und teilweise 3. Die Grenze lässt sich hier nicht trennscharf ziehen. Die Teilnehmenden entnahmen unter Anleitung zielgerichtet Informationen aus der Informationsquelle und bewerteten ihre Ergebnisse. Sie taten dies strukturiert und selbstständig, aber entwickelten ihre Suchstrategien nur in Ausnahmen weiter. Auch waren die Suchorte nicht sehr vielfältig.
Das Kompetenzfeld 6 Analysieren, Kontextualisieren und Reflektieren meint die kritische und reflexive Auseinandersetzung mit Medien und lässt sich auf die digitale Medienkompetenz, auch im Hinblick auf Fake News der Interviewten, vor und nach der Intervention beziehen. Im ersten Interviewteil verortet es sich auf der Niveaustufe 1, sie konnten ihr Medienverhalten beschreiben und die digitale Medienlandschaft in ihren Ausprägungen benennen. Außerdem wussten sie um deren Inhalte und konnten zum Teil eigene Regeln für ihren bewussten Umgang mit Medien aufstellen. Nach der Intervention entwickelten sich diese Kompetenzen weiter auf die Niveaustufe 2 – die Befragten setzten sich mit ihrem Medienverhalten im Internet auseinander und kennen nun Strategien zum Schutz vor Fake News, sie können Medienangebote vergleichen und ihre Zielsetzungen feststellen.
Die Teilnehmenden erreichten höhere Niveaustufen und steigerten ihre digitale Medienkompetenz im Vergleich zu vor der Intervention, die auch mit der Kompetenzstufe II der ICILS-Studie 2013 vergleichbar ist. Übertragen auf Baackesind die Dimensionen Mediennutzung, Medienkunde und Medienkritik bei den Teilnehmenden weiterentwickelt und nach Groeben Medienwissen und Medialitätsbewusstsein, Medienbezogene Kritikfähigkeit sowie in gewisser Weise die Anschlusskommunikation. Auch die Dimension language von Buckingham bzw. Baackes Ausgangspunkt der Kommunikation floss in die Untersuchung insofern mit ein, dass die Teilnehmenden sensibilisiert wurden für den Schreibstil von Nachrichten. Jene Kompetenzzuwächse entwickelten sich in einer kurzen Zeitspanne, eine langfristige und strukturierte Medienbildung würde also tiefergehende und umfassendere positive Fortschritte in der digitalen Medienkompetenz von SuS bewirken. Folgerichtig wurden signifikante Ergebnisse erzielt, die sich weiter beforschen lassen und in der pädagogischen Praxis mit einem Medienbildungskonzept verstetigt und kongruent vermittelt werden können, im Sinne von struktureller Angleichung der individuellen Kompetenzniveaus aus der informellen Alltagsmedienkompetenz heraus. Hieran schließt auch der Befund zu den Digital Natives an: Die Studie konnte zeigen, dass eine digitale Umwelt nicht ausreichend ist für einen kritischen und reflexiven Umgang mit digitalen Medien und sie nicht automatisch mit umfassenden rezeptiven und produktiven Kenntnissen und Fertigkeiten einhergeht. Sie sind nicht generationsbedingt vorhanden, sondern müssen gezielt von Lehrpersonen vermittelt werden, die unabhängig von ihrem Jahrgang und Prenskys Ausschluss, digitale Medienkompetenz aufweisen können.
Zur Autorin: Franziska E. M. Reiners hat gerade ihren Master of Education für das gymnasiale Lehramt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg abgeschlossen und freut sich auf ihr kommendes Referendariat für die Fächer Kunst und Deutsch. Neben der digitalen Bildung liegen ihre Interessenschwerpunkte auf DaF/DaZ-Vermittlung, Lesedidaktik und als gelernte Kunsthistorikerin auf pädagogische Potenziale der Kunstgeschichte. Kontakt: franziska.reiners@gmx.net