Gerade in einer Zeit, in der scheinbar Gefühle über ein Thema genauso viel Gewicht haben wie Tatsachen oder Fakten, fällt es schwer mit den Worten zu beginnen, mit denen ich beginnen möchte: Ich habe das Gefühl, dass das Lesen von Büchern auch heutzutage eine wichtige Funktion erfüllt. Ein Kommentar.
Obwohl seit meinem Text über den digitalen Dogmatismus schon mehrere Jahre vergangen sind, scheint der digitale Diskurs immer noch gespalten über bestimmte Fragen. Gespalten insofern, als dass es schwierig ist normative Aussagen über das eine – der Umgang mit digitalen Medien muss in die Schule – mit dem anderen – Schüler sollten Bücher lesen – zu verbinden, ohne dass man sich nicht einer Seite verdächtig macht.
Das hat Gründe. Gerade die Vorreiter dessen, was unter dem neuen Begriffspaar „zeitgemäßer Bildung“ das Arbeiten unter den Bedingungen der Digitalität vorantreiben soll, lassen viel Zeit und Blut in den Überredungskünsten mit den „Früher war alles Besser“-Fetischisten und haben keine Lust mehr, Kompromisse einzugehen. Das kann radikal wirken und von den Überlegungen zu gutem Unterricht zum Gedanken daran führen, dass wir Schulen abschaffen müssen. Ich verstehe das.
In dieser radikalen Filterblase fühle ich mich aber nicht komplett aufgehoben, wenngleich viele wichtige Impulse von ihr ausgehen.
Genauso wenig bin ich damit zufrieden, wenn jemand digitale Geräte als systemerhaltende Infrastruktur ansieht, also das „Abprüfen“ von „Stoff“ nur leichter durchführen will. Das heißt dann aber auch nicht, dass ich das Bildungssystem, so wie es ist, durchweg ablehne. Im Gegenteil. Ich sehe, und das wissen viele, die diesen Blog regelmäßig lesen, sogar in vielen Bereichen den „Zwang“ – oder netter – die Implementierung von Curricula als gerechtfertigt an. Das Wochenplankonzept und die agile Didaktik, die ich gerade ausprobiere, finde ich klasse und gut – sogar für alle erstrebenswert, setze sie aber später an, weil ich der Meinung bin, dass es unbedingt Substanz, Inhalt und dementsprechende ausgebildete Wertehaltungen geben muss, bevor jemand freier und individueller danach sucht, was für ihn wichtig und interessant ist.
All diese vorausgeschickten Punkte sollen verdeutlichen, dass der Bereich, in dem ich mich positioniere, schwer zu lokalisieren ist. Vor allem dann, wenn es um grundlegende Annahmen wie das Lesen und das Schreiben geht.
Mich treibt seit einiger Zeit die Frage um, warum ich der gefühlten Meinung bin, dass das Lesen von Büchern so unglaublich wichtig ist. Und obwohl ich keine Antwort habe, bin ich auf einer Spur, die ich hier schreibend und denkend verfolge.
Zunächst einmal zu zwei Punkten, die für mich zwar zutreffen, um die es aber nicht geht. Für mich persönlich sind Bücher wenn keine Statussymbole, so doch eine stets anwesende Selbstaffirmation. Alleine das Gefühl, etwas physisch nachschlagen zu können, irgendwo in meinem Regal zu suchen und vielleicht sogar auf etwas Anderes zu treffen, sind für mich essentiell. Alle meine Bücher auf einem Kindle zu haben – das könnte ich nicht.
Und auch das retromäßige, an die eigene Leseerfahrung anknüpfende Pochen auf das Riechen und das Tasten ist kein Grund dafür, sich für physisch greifbare Bücher auszusprechen.
Für mich spielt aber der eine Teil eine zumindest untergeordnete Rolle: Meine kleine Tochter liebt es, zu „lesen“, also entweder Bilder anzuschauen oder vorgelesen zu bekommen. Sie merkt sich mit ihren zwei Jahren nicht nur, wer ihr welches Buch geschenkt hat, sondern sie hat mal darauf Lust und mal darauf. Das sehe ich, wenn sie zu ihrem Regal geht, Bücher herauszieht und überlegt, welche sie nehmen möchte. Größe, Schwere und Format des Buches sind auch gleichzeitig ein Versprechen. „Große Buch“, „Buch Opa“ und all die anderen Zweiwortsätze zeigen, dass sie versteht, dass es sich hier um einen – auf unterschiedliche Arten – qualitativen Unterschied handelt, der nicht zu erkennen wäre, wenn sie die Bücher auf dem iPad lesen würde – und das, obwohl es dieselben Bücher wären. Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt betrifft, und auch das ist, wenn man so will, eine reine anekdotische Evidenz, die Erfahrung, die über 30-Jährige mit Büchern haben und sich nun anschicken auf digitale Formate zu übertragen. Dieser ist für mich schwer zu formulieren. Sagen wir so: Wenn ich, wie ich es zu handhaben pflege, auf meinem iPad etwas lese, dann tue ich dies (ob ich nun multitaske oder nicht) mit einem Versprechen darauf, dass der zeitliche Aufwand, der vielleicht sogar angegeben ist, übersichtlich ist. Ich kann meine Aufmerksamkeit auch deshalb gut darauf legen, weil sie nur eine gewisse Kürze von mir abverlangt. Das ist nicht nur bei einem Buch anders, sondern auch bei einem Dokument, das in physischer Form ein Buch darstellen würde.
Das bedeutet also: Nicht dadurch, dass das Buch auch Buch bleibt, wenn es digital vorliegt, bin ich als geübter Leser in der Lage, „dran zu bleiben“ und es auch über einen langen Zeitraum zu lesen, sondern dadurch, dass ich ein geübter Leser bin, kann ich den Unterschied zwischen einem derart langen Text, den man physisch Buch nennen würde, und einem kleinen Internetartikel überhaupt verstehen und prozessieren.
Das können junge, ungeübte Schüler aber meistens nicht. Sie wachsen in einer Welt auf, in der das Buch mit Bewegtbildern konkurriert, die, je nachdem um welche dieser Bewegtbilder es sich handelt, auch sofort das Belohnungssystem aktivieren. Das wäre nicht weiter schlimm und es gibt auch jene, die bei Computerspielen von „deep reading“ sprechen.
Die Aufmerksamkeit, die es benötigt, ein Buch zu lesen, ist aber nicht nur jene, die im Augenblick des Lesens vom Leser abverlangt wird, sondern auch die andere, nämlich jene, die es braucht, das Buch zu lesen - vielleicht über Wochen. Angelehnt an die Begrifflichkeit der Erzählanalyse könnte man von Lesezeit und gelesener Zeit sprechen.
Diese Aufmerksamkeit ist wichtig, und zwar immer dann, wenn man mit Menschen kommuniziert, die einen großen thematischen Bogen machen, um zu einem dann erst verständlichen Punkt zu kommen. Das „Dranbleiben“ lernt man nicht in Häppchen.
Ich hoffe, dass der Punkt klar wird: Es geht nicht darum, dass die Substanz des physischen Buches in digital dargebotener Form nicht schlechter ist. Sondern dass viele den Fehler machen, als geübte Leser zu denken, auch digital wäre das Versprechen und die Herausforderung des gelesenen Buches dieselbe für einen ungeübten Leser.
Ein Buch macht es einem jungen Menschen schlicht einfacher zu sehen, zu fühlen und zu riechen, in welche inhaltlichen Tiefen er vordringen kann. Das kommt mir erhaltenswert vor.
Ich bin mir unsicher, ob ich mich damit in den Reigen jener einreihe, die das Lesen von Büchern überhöhen und versuchen, es gegen das digitale Lesen (was auch immer das wäre) auszuspielen. Anders gesagt: Wäre es möglich, den Oftmals in Buchform vorliegenden, langen und tiefgehenden Gedanken, dessen Erfassung Konzentration und lange Zeit braucht, der einen aber weiterbringt, auch digital so zu präsentieren, dass er der Sogwirkung der Bewegtbilder gewachsen wäre, dann würde ich wohl nicht mehr auf das Buch bestehen. Aber diesen Punkt sehe ich, wenn ich an meine Schülerinnen und Schüler denke (auch aus dem, was sie selbst sagen) nicht.
Weil ich aber denke, dass eben jene, in der vorherigen Passage anklingenden Kompetenzen wichtig sind, um wissenschaftliche oder komplexe journalistische Texte zu erfassen, ein Referenznetz aufzubauen und, am wichtigsten, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Inhalt und Form, zwischen Substanz und Blendung zu unterscheiden, bin ich der Überzeugung, dass nichts am Buche vorbeiführt und wir alles tun sollten, dass dies auch so bleibt.