Foto: Thomas Clemens

Sowohl im mittlerweile „alten“ als auch im neuen Bildungsplan des Faches Deutsch als auch in neuen Überarbeitungen, nehmen Lektüren (oder Ganzschriften, wie der schreckliche Fachausdruck heißt) eine zentrale Rolle ein. An ihnen können die Schüler viele Kompetenzen erwerben, die über ein bloßes Lesen hinausgehen. Auch dieser Beitrag (wie jener zu Unterrichtsstörungen) entstand aus dem Impuls aus der Facebook-Seite und widmet sich der Frage, wie man Lektüren auswählt und was dabei eine Rolle spielt.

Vorbemerkung

Der schulische Alltag lässt häufig wenig Spielräume für theoretische Annäherungen oder eine zeitintensive Vorbereitung verschiedener Romane, Dramen oder Novellen. Das ist oft schade, denn es gibt wenig, was so lehrreich ist, wie einen Roman oder eine andere Lektüre selbst zu didaktisieren, den Inhalt zu erarbeiten und die methodischen Entscheidungen selbst zu treffen (Hier findet sich eine selbst erstellte Didaktisierung verwiesen; hier lässt sich eine kurze Annäherung lesen, die vom Autor zu einem damals noch nicht didaktisierten Buch erstellt wurde). Ein Buch für Schüler zugänglich zu machen, ist die Königsdisziplin. Nebenbei hilft es, didaktische Entscheidungen jener Autoren besser nachzuvollziehen, die in didaktischen Heften Bücher zugänglich machen. EinFach-Deutsch Hefte sind beispielsweise sehr hilfreich, um Lektüren schon mit viel Material und mit verschiedenen Bausteinen gemeinsam mit der Klasse zu lesen. Bevor wir jedoch eine solche Unterrichtseinheit verwenden können, sollten einige Fragen geklärt werden.

Kompetenzen

Ob man sich mit dem Begriff der „Kompetenz“ nun schwertut oder nicht – er ist eine Hilfestellung, um das, was Schüler (im besten Fall) während einer Stunde an Lern- oder Wissenzuwachs erhalten, zu konkretisieren. Die Kompetenzen, die während der Lektüre eines geeigneten Buchs geschult werden, sind sehr vielfältig. Hier kann viel gewonnen werden, nicht zuletzt die Lust am Lesen, der immer noch wichtigsten Kulturzugangstechnik überhaupt. Wer gut liest, kann sich im Mediendschungel orientieren, seinen Weg finden, mit anderen Kommunizieren und nicht zuletzt die eigene Identität finden.

Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri schreibt der Sprache in dem essayistischen Büchlein „Wie wollen wir leben?“ eine fundamentale Rolle der kulturellen Aneignung und damit auch einen „Zuwachs an gedanklicher Transparenz“. Auch wenn solcherlei fundamentalen Gedanken nicht bei jeder Entscheidung über eine Lektüre eine Rolle spielen müssen, ist es doch wichtig, sich darüber bewusst zu sein, wie wichtig die richtige Auswahl sein kann. Es geht nicht nur um eine nette Geschichte, sondern um die Erkenntnis von Entscheidungsprozessen anderer Menschen, neue Perspektiven und nicht zuletzt dem Zugewinn an Selbsterkenntnis und Unabhängigkeit.

Auswahlkriterien

Es würde der Lektüre also nicht gerecht, würde man sie nur aufgrund von technischen Kompetenzen auswählen. Es bietet sich immer an, einige Fragen zu stellen, bevor man (entweder mit oder ohne die Klasse) eine Lektüre auswählt (Für die gemeinsame Entscheidung steht mit Sicherheit der demokratische Gedanke; andererseits bietet die alleinige Entscheidung auch die Möglichkeit, die Lektüre so auszuwählen, wie es den Konfliktlinien einer schwierigen Klasse entspricht):

  • Wie ist die Zusammensetzung der Klasse?
  • Welche Interessenbereiche liegen vor?
  • Wo sind besondere Stärken, wo besondere Schwächen der Gruppe?
  • Welche sozialen Probleme sollten angegangen werden?
  • Welches Niveau hat die Klasse bisher beim Lesen gezeigt?
  • Welche Themen sind für einen Großteil der Klasse besonders interessant?
  • Worauf muss die Klasse evtl. thematisch vorbereitet werden?

Außer dem letzten Punkt, der vor allen die institutionellen Gegebenheiten berücksichtigt, also die Frage danach, inwiefern ich beispielsweise in der 10. Klasse mit einer Lektüre epochales oder literarisches Wissen vorentlasten kann, um ein Fundament für die Kursstufe zu legen, berühren die anderen Fragen vor allem den sozialen Bereich.

So bietet sich beispielsweise das Lesen des Buches „Vorstadtkrokodile“ nicht nur aufgrund seiner lebendigen Sprache, sondern vor allem unter dem Aspekt des inklusiven Umgangs an. Oder der für die Mittelstufe interessante Roman „Luke und Jon“ (eine etwas mildere Variante des immer noch absolut empfehlenswerten Romans „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf) unter dem Aspekt der Ausgrenzung. Oder Erebos, wenn es um Computerspiele und ihr Suchtpotenzial geht.

Lehrer als Lerner

All die hier vorgestellten Fragen (derer mit Sicherheit noch mehr gestellt werden können) setzen ein breites Spektrum an Kenntnis vom Lehrer voraus. Das kann entweder bedeuten, dass vor einer Lektüreeinheit Buchvorstellungen nicht nur den Schülern, sondern auch dem Lehrer zeigen, was sich momentan auf dem Jugendbüchermarkt tut. Das bedeutet andererseits aber auch, dass sich die Lehrer selbst mit verschiedenen Jugendbüchern befassen und diese lesen (eine sehr schöne Beschäftigung, nebenbei). Der Lehrer sollte sich – wie eigentlich bei allen thematischen Schwerpunkten der sich heute schnell verändernden Welt – also grundsätzlich als Lerner verstehen.

Praktikabilität

Natürlich schließen diese Anmerkungen auch nicht aus, dass man, aufgrund von Zeitmangel oder anderen widrigen Gegebenheiten Auszüge aus einer Lektüre liest, wie sie schon in Schulbüchern vorgegeben sind. Oder dass man eben mit einer schon komplett fertigen didaktischen Ausarbeitung arbeitet. Allgemein zeigt sich aber, dass der Besitz eines eigenen Buches, das man auch in der Freizeit lesen kann, ein anderes Gefühl evoziert als Lesen in einem von Vornherein schulischen Unterrichtsbuch.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die gemeinsame Arbeit mit Lektüren eine Vielzahl von positiven Aspekten haben kann. Aus diesem Grund sollte die Auswahl wohlüberlegt erfolgen.

 

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