„Der Einstieg der Kurzgeschichte ist immer plötzlich, merkt euch das!“ Die Kälte war aus den undichten Fenstern in seinen Nacken gekrochen. Ganz hinten, wo er und Jana saßen, war es besonders schlimm. In den Augenwinkeln sah er, dass auch sie fror. Die hellen Haare auf ihren Armen standen nach oben.

„Was habe ich gerade gesagt?“
Herr Sternbergers Brust bebte. Er schritt gemächlich nach hinten, den Blick nicht von ihm gelassen. Seine Cordhose sah aus wie drei Erdschichten.

„Brauchen Sie eine Extraeinladung?“

Paul blickte am Lehrer vorbei, auf die Tafel. Sie war mit unleserlichen Zeichen beschriftet. Etwas Mathe vom Vortag, ein paar englische Vokabeln. Sternbergers Gesicht strahlte fröhlich. Kleine Äderchen zogen sich über die roten Backen vorbei bis zur furchigen Stirn. Die Augen verdrehten sich immer leicht, wenn er versuchte, ein Ziel zu fixieren. Deshalb fokussierte er immer nur wenige Sekunden, um sich dann scheinbar aus Zufall wieder wegzudrehen. Tat er dies, lachten die Schüler ihn aus und taten so, als habe jemand einen Witz gemacht.

Paul konnte seinen Atem sehen, als er ansetzte.

„Plötzlich!“, sagte Paul wie gehaucht.

„Seien Sie lauter, Mensch. Alle wollen hören, was Sie gesagt haben.“

Die anderen hörten nichts. Sie starrten gelangweilt auf kleine Kritzeleien vor ihnen, die sie während Sternbergers Monolog angefertigt hatten. Nur Kreise und Ecke, mal eine unzüchtige Figur dazwischen, nichts Weltbewegendes.

„Plötzlich, Herr Sternberger! Kurzgeschichten beginnen plötzlich.“

„Warum denn nicht gleich so, Lustig?“, fragte Sternberger aber wartet die Antwort schon nicht mehr ab. Er betonte den Namen, wie er es mag. Meistens, als habe er damit einen Witz gemacht. Er begann langsam und geschwollen, mit viel Schwere auf der ersten Silbe, danach glitt seine Stimme nach oben, als wollte er ihm eine Frage stellen.

„Was will der Autor mit diesem Einstieg erreichen?“

Die Blicke der Klasse schweiften ins Leere. Jana saß weiter neben ihm und fror. Fror schon immer. Viele sagten, dass sei so bei Mädchen. Aber auch er fror. Er fixierte Sternberger, um sich abwenden zu können.

„Sprecht darüber mit euren Nachbarn.“

Paul schielte herüber. Aber Jana hatte sich schon zu einer Dreierreihe gedreht. Es würde nicht lohnen, sich anzuschließen. Vielleicht wäre es wärmer? Er drehte sich zum Fenster.

Der Schnee lag auf den Bäumen wie ein Meer von Blüten aus einer Welt, in der es kein Dunkel gibt. Die Häuser standen fest im Boden und stießen Leben aus. Der Rauch vor dem Schnee – eine Schattierung von Menschen. Aber ohne sie? Die Bäume weiter hinten waren in weiß getaucht. Sie suchten sich, stehen nah beieinander. Aber man sah nicht, welches der wichtigste Baum war. Alle waren gleich. Dunkeltannengrün. Wenn man jetzt durch den Wald streifen würde, wäre es sehr still. Schnee schluckt die Farben und die Töne. Die Tiere des Waldes waren im Winterschlaf oder im Süden. Der Weg ihrer Freiheit.

„Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen? Paul Witzig?“

Eine Gruppe ansprechen und einen meinen. Lehrerfolter. Herr Sternberger stand breitbeinig und lächelte ins Nichts. Einige drehten sich weg, lachten. Er dachte, er sei lustig. Alle wussten: Er war es nicht.

„Ich habe noch nicht zu Ende gedacht“, sagt Paul. Janas Gesicht neben ihm verzerrte sich. Sie würde gleich losprusten, durfte es sich nicht erlauben.

„So wird das nichts mit dem Abschluss“, sagte Sternberger und fügte an: „So kann das nichts werden.“

Paul sagte nichts. Er hoffte, dass er nun für den Rest der Woche seine Ruhe hatte. Dass er nicht gefragt würde, von Sternberger und all den anderen, die ihm sagten, dass das nichts würde. Als er noch Fragen hatte über alles, was ihn interessierte, da war es anders. Aber die Fragen waren weg. Oder bei anderen. Und Antworten hatte er noch nie gehabt.

Die Klingel riss alle wie mit einer durchsichtigen Schnur nach oben. Sie fielen wie im Sturz aus der Klasse heraus, laut tönend und tollend, was nun, endlich, da die Schule vorbei sei, anstünde.

Paul atmete tief durch und verfolgte den Atemhauch, der es bis über den Tisch schaffte, ehe er sich auflöste. Er stand auf, langsam, als müsse er sich in Zeitlupe bewegen.

Sternberger musste noch etwas auf die Tafel geschrieben haben, das ihm zuvor entgangen war. „Der Schluss…“ hieß es dort.

Paul packte seine Sachen ein und ging näher an die Tafel. „Der Schluss ist meistens offen.“ Was sollte das bedeuten? Offen. Es gibt also kein Ende? Kein Happy End? Keine Auflösung.

Ein plötzlicher Beginn und keine Auflösung am Ende. Zum ersten Mal an diesem Tag, nein, in dieser Woche, musste Paul grinsen. Die Merkmale der Kurzgeschichte entsprachen nicht nur Sternbergers Schulstunden.

Eigentlich entsprachen sie dem ganzen Leben.

Schade, dass er das niemandem mitteilen würde. Es würde keiner zuhören wollen. Nur Gelächter, Blicke, kleine Zeichnungen auf Papier.

Das dunkle Brechen unter seinen Schritten begleitete seinen Gang durch den Schnee. Er klopfte an der Haustür, wo seine Oma die Arme ausbreitete. Ein kleiner Punkt auf der Schürze verriet ihm, dass es Gulasch geben würde. Das machte ihn glücklich.

„Gulasch!“, sagte er freudig.

„Weißt du, mein Paulchen“, sagte seine Oma. Ich glaube ich kennen keinen, der so gut beobachten kann wie du.”

16 Kommentare

  1. Guten Tag! Ich brauche wirklich Ihre professionelle Meinung! Wie soll man diese Geschichte verstehen? Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort

    • Das ist eine gute Idee, den Autor selbst zu fragen. Aber leider ist es immer so, dass der Autor selbst gar nicht helfen kann. Denn was er oder sie gemeint hat und was man beim eigenen Lesen und Verstehen herausfindet, können sehr unterschiedliche Dinge sein. Deshalb hoffe ich, dass du es auch so schaffen wirst. Herzliche Grüße, Bob Blume

  2. Guten Tag! Ich brauche wirklich Ihre professionelle Meinung! Wie soll man diese Geschichte verstehen? Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort.

  3. Guten Tag
    ich wollte nur fragen ob sie vielleicht eine kurze Charakterisierung über die Hauptcharakter schreiben könnten oder sagen was das direkte Thema der Geschichte isch oder vielleicht wine kurze Inhaltsangabe, da wir es für unseren Deutschunterricht in der Schule brauchen und so etwas originales vom Autor selbst geschickt wäre
    Mit freundlichen Grüßen

    • Bitter! Aber sieh es mal so: Ohne mich müsstet ihr vielleicht eine andere, viel schlimmere Kurzgeschichte lesen. Immer positiv denken! Und: Bitte, für die Bildung. 🙂

  4. Hallo Herr Blume,

    Hat diese Kurzgeschichte Ihrer Meinung nach ein Leitmotiv? Ich persönlich kann nur feststellen, dass die Kälte durch die Geschichte hinweg ein große Rolle spielt, aber ich habe es nicht in Zusammenhang mit Paul bringen können.

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