„Wenn ich groß bin und einen Job habe“, dachte Jan bei sich, als seine Mutter ihn abholte, „dann wird er mir alles bezahlen. Ich werde ihn zu Brei schlagen, so dass er seine Lektion lernt.“ Auch am Abend, als er sich ein wenig von seinen Erfahrungen erholt hatte, schlief er mit dem Gedanken ein, sich bitterlich an Matze zu rächen.

Matze war der beste Fußballer des Teams, in das Jan vor einem halben Jahr gekommen war. Matze wollte später in die Bundesliga und bei Borussia Dortmund spielen. Er war groß und muskulös, ganz anders als der zierliche Jan. Jans Freunde Fred, Jörg und Arne – die beiden Zwillingsbrüder – spielten schon dort und hatten Jan dazu geraten, in den Verein zu kommen. Von viel Spaß und Zusammenhalt hatten sie erzählt, von Grillabenden und Fahrten. Von Matze hatten sie nichts erzählt.

Dass Jan nicht der beste Fußballer war, das wusste er schon. Er wollte ja gerade in den Verein, um besser zu werden. Nachdem er aber schon im dritten Training zu den Kindern, die nie eingewechselt wurden, gesteckt worden war, hatte er schon ein ungutes Gefühl. Dass er bei den Spielen am Ende des Trainings immer als letzter gewählt wurde, fand er zunächst nicht so schlimm. Auch nicht, dass er bei den wichtigen Spielen am Samstag so gut wie nie eingewechselt wurde, doch dann wurde alles schlimmer.

Es fing alles mit dem Namen an. Immer, wenn Jan zum Training kam, rief Matze laut, dass der Käfer komme. Käfer war nämlich sein Nachname. Das hatte ihn bis jetzt auch nicht gestört, aber als plötzlich alle lachend seinen Nachnamen riefen und ihn nicht mehr bei seinem richtigen Namen nannten, wurde Jan traurig und wütend. Aber das war nicht alles. Nach und nach wurde alles, was ihm am Fußball Spaß machte, durch Matze und seine Freunde schlecht gemacht.

Wenn Elfmeter geübt wurden, stellte sich Matze als Erster, nachdem er schon geschossen hatte, vor Jan. Der wusste nicht, was er tun sollte, dass er Angst hatte, verprügelt zu werden, wenn er sich beschwerte. Dann nahmen sich die anderen ein Beispiel, bis sich alle vor Jan anstellten, der so zu keinem einzigen Elfmeter kam und sich einfach schrecklich fühlte. Nach und nach fingen die anderen an, nicht mehr mit Jan zu sprechen. Wenn er eine Frage hatte, taten sie so, als hätten sie ihn nicht gehört. Nur, wenn er sich, an Samstagen, mit seinem Team freute, wenn es ein Tor geschossen hatte, sagte ab und zu jemand: „Wieso freust du dich denn? Du hast jawohl nichts dazu beigetragen.“ Fred, Arne und Jörg sagten nichts. Natürlich hätte Jan auch einfach den Verein verlassen können. Aber er wollte es schaffen, wollte den Respekt seiner Mitspieler haben. Und so ließ er sich überreden, mit auf die große Fahrt in den nah gelegenen Wald zu fahren. Er dachte, so könne er die anderen besser kennen lernen und sie vielleicht sehen, dass er doch ein ordentlicher Kerl war. Zwei Tage ging es gut.

Am dritten Tag machte die ganze Mannschaft eine Tannenzapfenschlacht. Zwei Mannschaften rannten durch den Wald und beschmissen sich mit großen, harten Zapfen. Bis zu dem Punkt an dem Matze da Spiel änderte. „Alle auf den Käfer!“, schrie er, und Jan lief als müsse er um sein Leben laufen. Er hatte unglaubliche Angst, als er, sich umschauend, die grölende Menge hinter sich her rennen sah und die Zapfen nur so um seine Ohren flogen. Plötzlich war er umringt. Mit der letzten Luft rannte er zu der Toilette, die außerhalb des Landheims stand, und schloss sich ein. Erst jetzt bemerkte er, dass er im Gesicht blutete. Außerhalb hörte er das Lachen derer, die er für Mitspieler gehalten hatte. Obwohl er sich schämte, musste er weinen. Erst nach drei Stunden wurde er aus dem Häuschen geholt. Der Trainier konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Nach dem Ende der Fahrt saß er endlich im Auto seiner Mutter und ließ seinen Tränen freien Lauf. Und er schwor Rache.

Zehn Jahre später kam er in seine alte Heimat zurück. Er freute sich seine alten Kumpels zu sehen und seine Eltern machten einen Festschmaus. Einen Tag vor Weihnachten trafen sich die Leute seiner Stadt am Tannenbaum, um den Weihnachtsmann mit einem Glühwein willkommen zu heißen. Nach vielen schönen Gesprächen, musste Jan auf die Toilette, für die ein kleiner Baum in der Nähe herhalten musste.

Kaum war er am Baum angekommen, staunte er nicht schlecht. Derjenige, den er da vor sich sah, kannte er von früher: es war kein anderer als Matze selbst. Jedoch war er nun viel kleiner als Jan und man konnte seiner Kleidung ansehen, dass er wohl doch nicht in der Bundesliga spielte. Matze sah ängstlich zu Jan herüber, da er ihn auch erkannte und seine Rache befürchtete. „Das war alles nicht so gemeint“, sagte er ängstlich. „Da bin ich mir ganz sicher“, sagte Jan und schritt ein paar Schritte auf ihn zu.

Schon hielt Matze seine Hände schützend vor den Kopf, als Jan seine Hand hob – und sie ihm entgegen streckte. „Danke“, sagte Jan dem verdutzt drein blickenden Feind seiner Jugend. „Warum das denn?“, erwiderte der. „Danke dafür, dass du mir eine wichtige Lektion erteilt hast. Ich habe nie wieder andere Menschen so behandelt wie du mich, weil ich wusste, wie sich das anfühlt. Also, danke.“ Und so ging Jan zu seinen Freunden, und ließ Matze zurück. Sicher war er sich nicht, aber es schien, als sei es eine Träne gewesen, die Matze nach dem letzen Satz vergoss. Es hätte aber auch der langsam einsetzende Regen sein können.

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