“Die Frage sollte also nicht lauten, warum jemand kein Abitur hat. Die Frage sollte lauten, was das Abitur noch aussagt.” Diese Aussage tätigte ich in meinem ersten Gastbeitrag bei t-online. Anlass war die missglückte Abiturprüfung, die nach einem gravierenden Download-Problem verschoben werden musste. Eigentlich ging – und geht es mir – aber um etwas anderes. Eine Ergänzung. 

“Erst die Noten abschaffen, jetzt das Abitur. Langsam reicht es aber”, schrieb mir jemand über die Privatnachricht, als habe ich mein Arsenal an idealistischen Forderungen aufgebraucht. Vielleicht war es auch der Hinweis darauf, dass man diese Forderung nicht ernst meinen könne. Aber ich meine sie ernst. Nicht, weil ich die Idee schlecht finde, dass es eine Oberstufe gibt, auf die alle Schülerinnen und Schüler gehen können, die studieren möchten. Eine, die sie auf ein wissenschaftliches Studium vorbereiten sollte. Das wissenschaftspropädeutische Arbeiten ist wichtig.

Nein, es geht um ein Zertifikat, das nicht das aussagt, was es aussagen sollte.

Was wird gemessen?

Dafür zunächst eine Anekdote und einige Ausführungen zu einem intensiven Gespräch mit jemandem aus einer mir bekannten Schule. Ich gebe zu: Beides steht auf wackligen Beinen, da es sich um anekdotische Evidenz handelt, aber aus meiner Sicht lohnt es sich dennoch, darüber nachzudenken.

Zunächst die Anekdote: Wenn wir davon ausgehen, dass die Kompetenzen, die in den zwei Jahren Oberstufe (wenn man gnädig ist, nimmt man noch die 10.Klasse mit) geübt werden sollen, auf das universitäre Studium vorbereitet, dann wäre ein Kompetenznachweis gleichbedeutend mit der Bestätigung der Kompetenz. Mit anderen Worten: Wenn es die Aufgabe von Schülerinnen und Schülern ist, einen Kommentar zu schreiben (ähnlich dem, den ich für t-online geschrieben habe, nur eben mit vorgegebenen Materialien), dann sollte nach einigen Wochen Übung am Ende die Fähigkeit stehen, dies in einer angemessenen Weise zu tun.

Unabhängig davon, dass diese Bewertung sowieso schon sehr unterschiedlich ist (ich bin auf Fortbildungen im Fach Deutsch regelmäßig verblüfft, wie krass sich die Beurteilung der Kolleginnen und Kollegen zu vorgegebenen Texten unterscheiden) geht es dabei also um das Produkt einer Anstrengung, die erlernt und vertieft worden ist.

Genau dies tat eine meiner Schülerinnen, als sie einen nahezu perfekten Kommentar schrieb: Lustig, wortgewandt, kohärent, konzise und viele andere Adjektive, die man auch auf den offiziellen Dokumenten lesen kann, die einen Erwartungshorizont für diese Aufgabenart vorgeben. Nur: Es handelte sich dabei nicht um die Klausur. In dieser, die zwei Wochen später anstand, bekam die Schülerin ein Thema, das ihr nicht lag. Uns sie bekam, wie alle anderen eine Situation, in der man vier Zeitstunden mit einem Füller auf Blätter zu einem Thema schreibt. Dabei war es noch nicht mal das Abitur, das diese Situation nochmals auf die Spitze treibt.

“Da müssen alle durch”, kann man nun sagen und so tun, als hätten alle die gleichen Chancen. Aber selbst wenn wir das durchgehen lassen, bleibt die Frage, was genau eigentlich geprüft wird. Geht es hier um das wissenschaftspropädeutische Arbeiten, von dem die Rede war? Von der Kompetenz? Oder darum, gut eine Prüfungssituation zu bestehen? Ich würde sagen: Letzteres!

Bei Universitäten mit Numerus Clausus müsste man die Abiturientinnen und Abiturienten eigentlich so begrüßen: “Herzlichen Glückwunsch dazu, dass Sie in der Lage waren, stundenlang zu Themen auf Papier zu schreiben, die ihnen vorgegeben worden sind.”

Freilich heißt das nicht, dass es nicht hervorragende Schülerinnen und Schüler gibt, die sowohl innerhalb dieser Situation als auch außerhalb dieser diese Form der Leistung bringen. Es heißt nur, dass allein die Art und Weise der Prüfungsleistung junge Leute ausschließt. Junge Leute, die beispielsweise Grundschullehramt studieren wollen, vielleicht sozial absolut dafür geeignet sind, aber leider am NC scheitern, weil sie den Standards nicht genügen, die solche Prüfungssituationen mit sich bringen.

Welche Abitur meinen wir?

Halten wir also fest, dass nicht unbedingt geprüft wird, was geprüft werden sollte. Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen eines Freundes, der auf einem allgemein bildenden Gymnasium arbeitet, das mehr oder weniger von weiterführenden Schulen umgeben ist, nochmals gravierender.

In seiner Schule kann man seit einigen Jahren – genauer: seitdem an weiterführenden Schulen mit jeweiligen Schwerpunkten das allgemeinbildende Abitur angeboten wird – eine Wanderung feststellen: Schülerinnen und Schüler verlassen das allgemeinbildende Gymnasium nach der 10. Klasse. Sie machen dann an der weiterführenden Schule nach drei Jahren Abitur. Und sie vollziehen sagenhafte Notensprünge.

Woran liegt das? Man könnte mit Fug und Recht anprangern, dass die Standards des allgemeinbildenden Gymnasiums zu hoch seien. Aber wie sollte man das verifizieren? Mein Freund, den ich auch im Sinne journalistischer Manier “Quelle” nennen könnte, um deutlich zu machen, dass er nicht genannt werden will, ist da sehr offen. Weil er seine Schülerinnen und Schüler gefragt hat. Ihr Tenor: Wenn sie von seinem allgemeinbildenden Gymnasium kommen, sind sie mit den Themen quasi schon durch. Sie werden von den anderen Schülern wie junge Götter gesehen. Und sie verbessern sich von einem schlechten Dreierschnitt auf einen Einserschnitt. Ja, sie bekommen das Abitur oftmals mit einer 1.0.

Mit anderen Worten: Diejenigen, die von der einen Schule auf die andere Schule gehen, bekommen denselben Zugang ein bis zwei Noten besser. Woran liegt das? Auch hierfür hat er eine sehr valide Erklärung: Die Prüfungen seien objektiv einfacher. Objektiv! Andres gesagt: Würden die Schülerinnen und Schüler das Abitur des allgemeinbildenden Gymnasiums durchführen, dann würden sie reihenweise durchfallen. Sagt er. Sagen seine Schüler.

Andere Abiture, gleiche Zugänge

Konkret bedeutet das, dass Schülerinnen und Schüler strategisch die Schule wechseln können, um zunächst in der einen Schule so gut vorbereitet zu werden, dass sie dann in der anderen ein Einserabitur bekommen. Schülern kann man das wirklich nicht vorwerfen, aber was ist dann dieses Abitur noch wert?

Wir schon gesagt: Mir ist bewusst, dass ich hier über doppelte Bande spiele: Jemanden zitieren, der wiederum andere zitiert. Dennoch sollte uns das aus meiner Sicht zu denken geben. Dabei nützt es auch nichts, dass jene, die das objektiv schwierigere Abitur machen, durchaus besser in der Universität zurecht kommen. Jener Institution also, für die das Abitur vorbereiten soll. Denn der Punkt ist ja gerade, dass es genügend Schülerinnen und Schüler gibt, die gar nicht erst studieren können, was sie wollen. Es sei denn, sie gehen eben dorthin, wo es das Abitur “günstiger” gibt. Eine entsprechende Recherche würde sich lohnen.

Fazit

Es ist schon klar, dass man am Abitur nicht rütteln wird, zumal die Pläne der KMK, das Abitur vergleichbarer zu machen, eher auf eine Aufwertung hinauslaufen. Allerdings nicht für die Schülerinnen und Schüler. Es soll nämlich weniger Leistungskurse und damit (noch) weniger Möglichkeiten geben, Schwerpunkte zu setzen.

Mit anderen Worten: Ein System wird “vereinheitlicht” (wobei: nicht so wirklich, da die Spielräume für die Klausuren riesig sind), von dem klar ist, dass es mit dem eigentlichen Zugang, den es ermöglichen soll, wenig zu tun hat. Ein solches Abitur braucht eigentlich niemand.

3 Kommentare

  1. Hallo Herr Blume,
    erst ganz zum Schluss finde ich den Hinweis, der mich wirklich interessiert – im Blck auf meine 4 Enkel = die inhaltliche Schwerpunktbildung in Sek II. Weil es ein RIngen um die begrenzten Ressourcen aller Beteiligten darstellt, folgen die (Finanz)Entscheider dem üblichen Umgang mit Ressortmitteln. Das geht am einfachsten bei völlig getrennten Schulformen – im Text angedeutet. Es wird schon schwieriger bei additiven – und noch schwieriger bei integrativen Konzepten, die beide wesentlich stärker von den Lernenden her bestimmt sind.
    Dass 16-Jährige gemeinsam mit ihren Eltern (a) die Lernvorteile eines Schwerpunktangebotes bewerten, und (b) die Auswahl biografisch sachgerecht treffen können – das möchte ich nicht übergeschattet sehen durch den Verdacht der Vorteilsnahme bez. Notendurchschnitt.
    Vielmehr nehme ich den enormen Aufschwung wahr, den duale Studiengänge erfahren – und rechne zurück zu Sek II. Bekanntlich gibt es auch hier einzelne Schulen, die – neben der allgemeinen Abi-Vorbereitung – auch die Vorbereitung auf einen Berufsbildungsabschluss praktizieren. Inwieweit der additive Ansatz konzeptionell ergänzt werden kann durch integrative Lerngelegenheiten, das ist eine >Uralt-Herausforderung< der dualen Berufsausbildung – jedenfalls für die Anbieterseite. Wenn sich ein Schulkollegium dieser Herausforderung gemeinsam stellt, kann es offensichtlich gelingen – und das im Ergebnis zum mehrfachen Vorteil nicht nur der Absolvent:innen, sondern auch derer, die ihnen nach der Grundqualifizierung begegnen.
    Mit Blick auf meine Enkel halte ich fest, dass ein Berufbildungsabschluss auch eine solide wirtschaftliche Basis ist, um weiterführende Qualifizierungen zu finanzieren – ja sogar, sich irgendwann inhaltich neu zu erfinden….

    Klares Fazit: Duale Sek. II – das ist die Zukunft.

  2. Das hat mich jetzt doch beschäftigt. Ich weiß, dass das nicht der Schwerpunkt des Artikels ist – es geht ja eher darum, *dass* es unterschiedliche Noten im Abitur für vergleichbare Leistungen gibt.

    Aber dass in der Anekdote die besseren Noten nur durch „einfacher“ begründet wird, finde ich begrenzt. Vielleicht liegt die andere Schulform, liegen die anderen Schwerpunkte den SuS mehr? Vielleicht gelingt es diesen Schulformen ja, das Potential der SuS besser abzurufen und sie besser auf die Prüfung vorzubereiten? Vielleicht sind die Lehrkräfte weniger streng, aber die am Gymnasium *zu* streng?

    Dass bessere Noten gleich mit „weniger wertvoll“ verknüpft wird… (und „leichter“ ist in dieser Diskussion ja eher nicht positiv besetzt, sondern immer als „zu leicht“). Vielleicht wäre die richtigere Frage, ob wir Gymnasien überhaupt noch brauchen. Wenn da offensichtlich 1er-Abiturient_innen nur als 3-er-Kandidat_innen gesehen werden. 😉

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