Im Deutschabitur 2023 wird der Roman “Der Verschollene” mit Thomas Manns “Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull” verglichen. Der Text ist damit Grundlage für eine literarische Erörterung als Werkvergleich. 

An dieser Stelle geht es um die Entstehung. Große Teile dieser Ausführungen sind erarbeitet von StD Michael Tinkl, für dessen Genehmigung für die Veröffentlichung ich mich bedanke. 

Der Verschollene: Entstehung

1850    Vom Hamburger Hafen wandern bis 1934 über 5 Millionen in die „Neue Welt“ aus, zunächst verarmte Bauern, nach der gescheiterten Revolution von 1848 auch Intellektuelle sowie osteuropäische Juden, die vor Pogromen fliehen. Nach zwei Wochen Fahrt auf dem Dampfer mussten sie auf Ellis Island in Quarantäne. Nicht alle durften einreisen.

1883    Franz Kafka wird in Prag als ältestes von sechs Kindern geboren. Er hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater.

1895    Robert, ein Sohn von Kafkas Onkel Otto, soll mit 14 von der Köchin verführt und Vater geworden sein.

1896    Kafka feiert seine Bar Mitzwa.

1897    Otto, der älteste Sohn eines Onkels, flieht mit 18 vor den Eltern und landet in Amerika; dort gelangt er zu geschäftlichem Erfolg und erwirbt sogar ein Haus in der Nähe der Rockefellers.

1898    „Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, währen der andere in einem europäischen Gefängnis blieb.“

1900    liest im Gymnasium Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“

1901    studiert Jura

1906    Promotion und Referendariat; Treffen mit dem ausgewanderten Otto Kafka in Prag

1908    erste Veröffentlichung; arbeitet als Beamter in der „Arbeiter-Versicherungs-Anstalt“

1909    der dritte Sohn des Onkels wandert mit 16 nach Amerika zu seinem älteren Bruder aus

1911    liest erneut den Entwicklungsroman „David Copperfield“ von Charles Dickens;

schreibt erste Fassung des „Verschollenen“ (200 Seiten), die er komplett vernichtet;

            liest die Erfahrungsberichte „Amerika heute und morgen“ des Reiseschriftstellers Arthur Holitscher in der „Neuen Rundschau“;

besucht begeistert mehrere Veranstaltungen der jüdischen Theatergruppe von Jichzak Löwy;

            wird bei einem Autounfall in Paris von der Polizei verhört

1912    geht die „Titanic“ mit Auswanderern von Southhampton unter

lernt am 13.08. die Berliner Prokuristin Felice Bauer kennen (verlobt und entlobt sich zweimal, weil er fürchtet, Beruf, Ehe und Schreiben nicht gleichzeitig gerecht werden zu können);

schreibt in der Nacht vom 22./23.09. in einem Zug die Erzählung „Das Urteil“, seinen literarischen Durchbruch;

beginnt ein paar Tage später mit seinem ersten Roman (geplanter Titel: Der Verschollene), schreibt vor allem die Nächte durch, gelangt in ein paar Wochen bis zum Ende des 6. Kapitels;

beginnt nach einem Traum am 17.11. mit der Novelle „Die Verwandlung“, die er Anfang Dezember abschließt

1913    setzt die Arbeit am „Verschollenen“ noch im Januar mit dem 7. Kapitel und dem Anfang des 8. fort, bricht dann aber resigniert ab;

veröffentlicht dann das 1. Kapitel „Der Heizer“, das er für gelungen hält;

plant „Das Urteil“, „Der Heizer“ und „Die Verwandlung“ unter dem Titel „Die Söhne“ zu veröffentlichen, alle drei Texte handeln von bestraften und verstoßenen Söhnen

1914    beginnt im August den Roman „Der Process“, arbeitet zwischendurch weiter am „Verschollenen“: 8. und 9. Kapitel teilweise sowie 10. Kapitel („Naturtheater“, vermutlich abgeschlossen), fängt ein 11. Kapitel (Fahrt) als Schluss an, legt dann das Projekt aber endgültig zur Seite

1917    bezeichnet den „Verschollenen“ im Rückblick kritisch als „glatte Dickensnachahmung“

1919    schreibt hundertseitigen (nie abgeschickten) „Brief an den Vater“, in dem er seine Furcht vor dem Vater begründet

1922    schreibt den unvollendeten Roman „Das Schloss“

1924    stirbt mit 41 Jahren an Tuberkulose

1927    wird das Romanfragment nach seinem Tod von seinem Freund Max Brod unter dem Titel „Amerika“ veröffentlicht

Der Verschollene: Europa und Amerika

Europa Amerika
·       die alte Welt

·       Monarchie, Diktatur

·       Hierarchie

·       Kultur und Tradition

·       feste Strukturen

 

·       die neue Welt

·       Demokratie, Revolution

·       Freiheit, Gleichheit

·       Natur

·       Aufstieg (vom Tellerwäscher zum Millionär)

 

Der Verschollene: Äußerungen von Kafka

8.10.1917 Tagebuch

„Der Heizer“ glatte Dickensnachahmung, noch mehr der geplante Roman. Koffergeschichte, der Beglückende und Bezaubernde, die niedrigen Arbeiten, die Geliebte auf dem Landgut, die schmutzigen Häuser u.a. vor allem aber die Methode. Meine Absicht war wie ich jetzt sehe einen Dickensroman zu schreiben, nur bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen und die matteren, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte. Dickens Reichtum und bedenkenloses mächtiges Hinströmen, aber infolgedessen Stellen grauenhafter Kraftlosigkeit, wo er müde nur das bereits Erreichte durcheinanderrührt. Barbarisch der Eindruck des unsinnigen Ganzen, ein Barbarentum, das allerdings ich dank meiner Schwäche und belehrt durch mein Epigonentum, vermieden habe. Herzlosigkeit hinter der von Gefühl überströmenden Manier. Diese Klötze roher Charakterisierung, die künstlich bei jedem Menschen eingetrieben werden und ohne die Dickens nicht imstande wäre, seine Geschichte auch nur einmal flüchtig hinaufzuklettern. Walsers Zusammenhang mit ihm in der verschwimmenden Anwendung von abstrakten Metaphern.“

Selbstkritik aus der Perspektive des späteren Stils: „ungewöhnlich großes Vertrauen auf standardisierte Plot-elemente und realistisches Detail“ (Engel, Kafka-Handbuch, S. 178)

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